EUROPÄISCHE UNION
Das neue Stockholm-Programm stößt bei vielen EU-Abgeordneten auf Skepsis
In einer Halle von 200 Quadratmetern drängen sich 60 junge Männer, der Lärm ist ohrenbetäubend. "Es geht ihm schlecht, er hat Diabetes", schreit jemand und zeigt auf eine regungslose Gestalt auf einem Bett. Ein Junge mit amputiertem linkem Arm steht wortlos neben einer schmutzigen Matratze am Boden. "EU, Uno, helft uns!" ruft ein Halbwüchsiger in die Kamera.
Die drastischen Bilder stammen aus dem Flüchtlingsgefängnis Pagani auf der griechischen Insel Lesbos. Im November wurde das Lager nach internationalen Protesten geschlossen. Menschenrechtler führten einige Filmsequenzen kürzlich in Brüssel vor. Sie sollten die europäischen Entscheidungsträger sensibilisieren: für Tragödien, die sich an den fernen EU-Außengrenzen abspielen und in Belgien nicht immer wahrgenommen werden.
Wenig später, am 11. Dezember, verabschiedeten die 27 Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union in Brüssel das sogenannte Stockholm-Programm. Das Grundlagendokument legt die Leitlinien für die europäische Innen- und Justizpolitik der nächsten fünf Jahre fest. Das Thema Migration ist einer der wichtigsten Aspekte darin. Denn betroffen sind nicht nur Ost- und Südeuropäer, sondern wegen der offenen Binnengrenzen auch alle übrigen Staaten.
Die Ziele des Stockholm-Programms sind auf dem Papier klar: Verfolgte und bedrohte Menschen besser zu schützen, während die illegale Einwanderung konsequenter bekämpft werden soll. Zu den Öffnungs-Initiativen gehört auch ein Ausbau der legalen Arbeitsmigration. Auf der anderen Seite stehen Abwehrmaßnahmen, insbesondere die Stärkung der EU-Grenzschutzagentur Frontex.
Einige der Vorhaben gäben tatsächlich Anlass zur Hoffnung, meint Gilles Van Moortel, Brüsseler Sprecher des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR. Der Experte begrüßt unter anderem die Weiterentwicklung des gemeinsamen Asylsystems und die geplanten "Umsiedlungs"-Initiativen: Besonders gefährdete Menschen, die Europa aus eigener Kraft nicht erreichen können, sollen eingeflogen und auf mehrere EU-Länder verteilt werden.
Allerdings bleibe die praktische Umsetzung des Programms abzuwarten, betont Van Moortel. "Ein Asylsystem ist bedeutungslos, wenn Schutz suchende Menschen die EU nicht erreichen können." Nötig seien sensible Grenzkontrollen, die den verfolgten Menschen wirklich gerecht würden.
Noch größer ist die Skepsis im EU-Parlament. Weder das Ziel des Flüchtlingsschutzes noch das eines wirksamen Grenzschutzes werde erreicht, meinen viele Abgeordnete. "Die EU hätte noch ambitionierter vorgehen sollen", bemängelt Manfred Weber (CSU), der innenpolitische Sprecher der EVP-Fraktion. "Wir brauchen eine massive Stärkung von Frontex." Auch die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Polizei müsse vorangebracht werden.
Die grüne Europaabgeordnete Ska Keller kritisiert, dass das Stockholm-Programm bei den Abwehr-Maßnahmen wesentlich konkreter sei als bei Menschenrechten und Asyl. Zum Beispiel seien gemeinsame Abschiebeflüge vorgesehen. Bedrohlich lese sich das Programm auch, wenn es um Rückübernahme-Abkommen mit Drittstaaten gehe: So könnte etwa die Türkei innerhalb der EU-Beitrittsgespräche zur Unterzeichnung eines solchen Abkommens gedrängt werden, vermutet Keller.
"Auch Zuwanderung ist eine Frage der Menschenrechte", sagt die sozialdemokratische EP-Abgeordnete Birgit Sippel. "Die Rechte von Einwanderern werden aber zu häufig hinten angestellt." Natürlich müssten die Außengrenzen gesichert und Schleuserbanden bekämpft werden, meint Sippel. Europa dürfe dabei aber nicht zur Festung werden.
Besonders heftige Kritik übt die Linksfraktion im Europäischen Parlament. "Das Stockholm-Programm segelt an den Herausforderungen meilenweit vorbei", meint die EU-Abgeordnete Cornelia Ernst. Es wolle ein "Europa der Rechte" begründen - reserviere diese Rechte aber für EU-Bürger. "Migranten werden aussortiert."