AUFENTHALTSRECHT
Auch Kinder ohne gültige Papiere sollen hierzulande lernen können. Die Bundestagsfraktionen sind sich einig, manche Länder zögern noch
Vor anderthalb Jahren sorgte der Fall der 15-jährigen Magdalena in Hamburg für Aufsehen. Die Neuntklässlerin und ihre Mutter sollten nach Bolivien abgeschoben werden, das sie verlassen hatten, als Magdalena noch ein Kleinkind war. Seitdem lebten Mutter und Tochter ohne gültige Aufenthaltspapiere in der Hansestadt, wo Magdalena auch die Schule besuchte.
Weil Magdalena das ihr nach dem Hamburger Schulgesetz zustehende Recht auf Bildung wahrnahm, entdeckten Behörden den illegalen Status der Familie und planten ihre Abschiebung. Damit trat ein, was Menschen ohne Papiere am meisten fürchten. Beratungsstellen berichten, dass viele aus Angst vor Abschiebung ihre Kinder nicht zur Schule schicken oder als Kleinkinder zurück in die Heimat bringen - in die Obhut von Verwandten oder Freunden. Die Beschulung ist in Städten wie Hamburg ausschließlich über Netzwerke möglich. Denn nur wenige Schulleiter nehmen Kinder ohne Anmeldebestätigung auf.
Wie viele Kinder ohne gültige Papiere in Deutschland leben, darüber existieren keine zuverlässigen Zahlen. Dita Vogel vom Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitut (HWWI) schätzt, dass sich insgesamt 200.000 bis 460.000 Menschen illegal in Deutschland aufhalten. Wenn der Anteil der unter 16-Jährigen, wie von ihr angenommen, zwischen zwei und fünf Prozent beträgt, kann die Anzahl der papierlosen Kinder zwischen 40.00 und 23.000 liegen. Wie viele eine Schule besuchen, ist vollkommen offen.
Das entscheidende Hindernis für den Schulbesuch dieser Kinder ist eine Regelung im Aufenthaltsgesetz, die so genannte "Übermittlungspflicht". Demnach sind öffentliche Stellen verpflichtet, die Ausländerbehörde zu unterrichten, wenn sie von einem Ausländer erfahren, der keinen erforderlichen Aufenthaltstitel besitzt. Abhängig von den Regelungen der Bundesländer betrifft diese Mitteilungspflicht auch die Schulleiter öffentlicher Schulen.
Nichtregierungsorganisationen wie das Deutsche Institut für Menschenrechte, Kirchen und Kirchenorganisationen sowie Wissenschaftlern ist es zu verdanken, dass der Umgang mit diesen Menschen in den vergangenen Jahren ins Interesse der Öffentlichkeit gerückt ist. Während zuvor sicherheitspolitische Interessen im Vordergrund standen, setzt sich nun die Erkenntnis durch, dass auch diesen Menschen grundlegende soziale Rechte zustehen - wie das Recht auf Bildung. Kommunen wie München, Frankfurt, Hamburg und Köln haben einen Anfang gemacht und die Lebenslage papierloser Menschen mit der Hilfe von Studien untersucht.
Auch auf Bundesebene rückt das Thema auf die Tagesordnung. "Illegale Migration ist zwar rechtswidrig, aber sie ist eine Realität, der wir uns stellen müssen und der auch diese Bundesregierung sich stellen muss", stellte Familienministerin Kristina Köhler im Bundestag fest. Auch Serkan Tören, integrationspolitischer Sprecher der FDP-Fraktion, findet, dass sich etwas ändern muss: "Die gegenwärtige Situation der in Deutschland lebenden Ausländer ohne gültige Papiere ist unbefriedigend." Im Koalitionsvertrag haben Unionsparteien und FDP die Änderung der aufenthaltsrechtlichen Übermittlungspflichten öffentlicher Stellen vorgesehen, um auch papierlosen Kindern den Schulbesuch zu ermöglichen. Für Tören ist dies ein "echter Fortschritt", denn "Kinder, egal ob mit oder ohne gültigen Aufenthaltsstatus, haben ein Recht auf Bildung."
Auch die Oppositionsparteien machen sich für das Thema stark: Die SPD hat am 26. November in erster Lesung einen Gesetzentwurf zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes in den Bundestag eingebracht ( 17/56). Sie will, sagt der stellvertretende innenpolitische Sprecher Rüdiger Veit, "die Übermittlungspflicht insgesamt beschränken auf die Institutionen, die für Sicherheit und Ordnung zuständig sind." Öffentliche Stellen jedoch, deren Aufgabe in der Gewährleistung sozialer Rechte wie Schulbesuch oder medizinische Versorgung liegt, sollen von der Mitteilungspflicht befreit werden.
Josef Winkler, flüchtlingspolitischer Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, hat angekündigt, dass seine Fraktion den SPD-Gesetzentwurf unterstützen werde. Denn das Vorhaben der Koalition geht ihm nicht weit genug: "Die Ergebnisse sind zu kurzgegriffen, denn bei der Gesundheitsversorgung von Menschen ohne Aufenthalt bleibt die Datenübermittlung an die Ausländerbehörden bestehen," sagt Winkler.
Die Bundestagsfraktion Die Linke befürwortet den SPD-Entwurf ebenfalls - auch wenn sie die Übermittlungspflicht am liebsten komplett abschaffen würde. "Wir brauchen eine humanitäre Flüchtlingspolitik, um die Ursache des Problems zu bekämpfen", sagt Sevim Dagdelen, migrationspolitische Sprecherin der Fraktion.
Johannes G. Knickenberg, Geschäftsführer des katholischen Forums "Leben in der Illegalität", begrüßt hingegen die Einschränkung der Übermittlungspflicht. "Dies ist ein notwendiges Signal der Bundespolitik an die Betroffenen, aber auch an die Schulen und die Lehrer. Sie können von nun an unbesorgt ihren Bildungsauftrag wahrnehmen", sagt Knickenberg.
Dazu ist jedoch die Zustimmung der Länder notwendig. Die Innenministerkonferenz hatte bisher keine Notwendigkeit für eine Änderung gesehen. Doch auch von dort erhält Knickenberg mittlerweile positive Signale. Auf Landesebene müssen "pragmatische Lösungen gefunden werden, um das Recht auf Bildung zu ermöglichen", sagt Knickenberg. Dabei sei eine gesetzliche Regelung wünschenswert, wenn auch nicht zwingend, findet er.
Der Umgang mit der Mitteilungspflicht wird auf Länderebene sehr unterschiedlich geregelt. So hat Nordrhein-Westfalen als erstes Bundesland die Gesetzeslage auf Landesebene bis hin zu deren praktischer Durchführbarkeit geklärt. Im März 2008 hat das Kultusministerium einen Erlass an die Bezirksregierungen herausgegeben, in dem den Schulleitungen untersagt wird, Meldebescheinigung, Ausweisdokumente oder Aufenthaltspapiere von Schülern anzufordern. Denn wenn an der Schule eine Meldebescheinigung verlangt wird, werden Eltern ohne Papiere aus Angst vor einer Abschiebung davor zurückschrecken, ihre Kinder zum Unterricht anzumelden.
Kinder und Jugendliche unterliegen in Deutschland grundsätzlich der Schulpflicht. Wen sie betrifft, ist in den Bundesländern allerdings unterschiedlich geregelt. Nur in wenigen Ländern gilt sie bislang auch für papierlose Kinder. In Hessen durften bislang nur Kinder mit Meldebescheinigung die Schule besuchen. Ab dem 1. Januar 2010 soll sich das ändern. Schulleiter sollen Kinder ohne gültige Aufenthaltspapiere nicht mehr den Behörden melden müssen. In Hamburg hat die Schulsenatorin in einem Schreiben im Juni 2009 klargestellt, dass die Schulpflicht für alle Kinder gilt, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus. Dort hatte der Senat im Jahr 2006 nach dem Tod der siebenjährigen Jessica, deren Eltern sie unbemerkt von den Behörden verhungern ließen, ein Schülerzentralregister (ZSR) eingeführt. Es sollte sicherstellen, dass verwahrloste Kinder früh genug auffallen. In der Folge mussten Schulleiter umfangreiche Daten über Schüler und Eltern sammeln, die mit den Angaben der Meldebehörden abgeglichen wurden. Kritiker machten früh darauf aufmerksam, dass das Schülerregister auch dazu missbraucht werden könnte, statuslose Schüler zu identifizieren - wie in Magdalenas Fall geschehen. Inzwischen hat die Schulsenatorin klargestellt, dass Schulleiter nur Kinder melden sollen, die in ihrem Viertel wohnen, aber nicht zum Unterricht auftauchen - und keineswegs papierlose Kinder.
Magdalena hat inzwischen einen Ausbildungsplatz gefunden und darf als Geduldete in Deutschland bleiben. Ihre Mutter wird wohl abgeschoben.