Freier ZUgang
Immer mehr Webseiten sind für Menschen mit Behinderungen nutzbar. Mundmäuse und elektronische Vorlesegeräte machen es möglich
Schön aufgeräumt sieht der Onlineshop des Design-Warenhauses aus. Etwas anderes hätte man von der edlen Internet-Boutique "für Leute, die schon alles haben", wie die Wochenzeitung "Die Zeit" einmal witzelte, auch nicht erwartet. Das selbst gewählte Motto "Es gibt sie noch, die guten Dinge" gilt bei Manufactum nicht nur für die erlesenen Waren, sondern auch für das Webdesign: Es ist Anfang Dezember in Berlin mit dem Biene-Award in Gold für Barrierefreiheit ausgezeichnet worden. Den Preis, verliehen von der Aktion Mensch und der Stiftung Digitale Chancen, erhalten Webseiten, die besonders einfach für Menschen mit Sehbehinderungen oder eingeschränkter Mobilität zugänglich sind.
"Um eine Biene in Gold zu gewinnen, muss eine Webseite sowohl technisch als auch gestalterisch und inhaltlich überzeugen", erklärte Jutta Croll, Geschäftsführerin der Stiftung Digitale Chancen. "Die Jury hat am Welttag der Menschen mit Behinderungen konsequent die Perspektive der Nutzerinnen und Nutzer eingenommen und keine Kompromisse gemacht." Aus mehr als 300 Bewerbungen für den Biene-Award wurden in diesem Jahr 24 Finalisten bestimmt. Daraus rekrutieren sich die 17 Gewinner. Zu ihnen zählt auch das Verwaltungsportal Bund.de, das nach einem Relaunch besonders übersichtlich daherkommt. "Die Gestaltung war der eindeutige Favorit der Jury", hoben die Laudatoren hervor und lobten "die verständliche Sprache und den guten Aufbau".
Allerdings vergab die Jury, zu der Uwe Proll vom "Behörden Spiegel" und Verena Metze-Mangold vom Hessischen Rundfunk gehörten, in diesem Jahr weniger Auszeichnungen als in den Vorjahren an Behörden und öffentliche Auftraggeber. Eine mögliche Ursache dafür sieht Christian Schmitz, stellvertretender Pressesprecher der Aktion Mensch, in der unklaren Rechtslage: "Die derzeit noch geltende BITV ("Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung" - Anm. d. Redaktion) ist veraltet, die fällige Neufassung steht noch aus. In dieser Situation ist es verständlich, wenn Ministerien und Behörden mit einer Weiterentwicklung ihrer Seiten abwarten."
Seit dem Inkrafttreten des Behindertengleichstellungsgesetzes 2002 legt die BITV verbindliche Standards für die Gestaltung von Webseiten fest. Besonders Bundesbehörden, Ministerien und öffentliche Institutionen sind aufgefordert, sich daran zu halten. So entspricht etwa auch die Homepage des Bundestages den Richtlinien der BITV und bemüht sich, ihre Angebote möglichst barrierefrei zu gestalten.
"Eine Website wird wie ein Bild betrachtet", erläutert Steven Rösler, der sich im Referat Online-Dienste des Deutschen Bundestags um das Thema barrierefreies Design kümmert. "Das wirft Schwierigkeiten für Sehschwache und motorisch Eingeschränkte auf. Wichtig für die Barrierefreiheit ist die Struktur einer Seite." Für Blinde oder Sehschwache, die sich die Inhalte einer Webseite von einem Screenreader vorlesen oder in Braille-Schrift übersetzen lassen, sind beispielsweise richtig kodierte Überschriften wichtig. Es reicht nicht aus, den Schriftgrad zu vergrößern und fett zu setzen. Erst wenn Überschriften den korrekten Code enthalten, kann ein Screenreader sie erkennen. Schon auf der Startseite präsentieren sich verschiedene Themenangebote. Per Tastatur können sehschwache Menschen auf einer barrierefreien Webseite von Überschrift zu Überschrift springen und sie sich vorlesen lassen, um so interessante Themen zu finden und tiefer einzutauchen.
Viele Webbrowser erlauben inzwischen, den Schriftgrad stufenweise zu vergrößern, indem die Tasten "Strg" und "+" gedrückt werden. Grafiken jedoch müssen eigens bearbeitet werden, damit sie sich ebenfalls vergrößern lassen. Bei der Auswahl achten Fotoredaktionen darauf, dass der Farbkontrast groß genug ist, damit auch Menschen mit einer Rot-Grün-Sehschwäche sie erkennen können. Für Menschen mit motorischen Einschränkungen müssen Schaltflächen und Links ebenfalls groß genug ausfallen, damit sie problemlos mit der Maus oder einem alternativen Zeigegerät angesteuert werden können.
Ein besonderes Problem stellen Dateien im PDF-Format dar. Alle zur Veröffentlichung gedachten Schriftstücke des Deutschen Bundestages werden in dieses Dateiformat konvertiert. Weil ältere Schriftstücke, besonders solche, die Spalten oder Tabellen enthalten, häufig nicht richtig formatiert worden sind, sind sie auch nicht barrierefrei. Die nachträgliche Umwandlung von mehr als 100.000 Schriftstücken auf den Bundestags-Servern würde Unsummen verschlingen.
Dass PDF-Formulare heutzutage frei von Hürden sind, geht zu einem Gutteil auf den Inder T.V. Raman zurück, ein Programmierer, der sich auf Barrierefreiheit spezialisiert hat. Im Alter von 14 Jahren erblindet, studierte Raman Informatik und war später maßgeblich an der Entwicklung von Adobes barrierefreiem PDF-Format beteiligt. Seit 2005 arbeitet Raman für den Suchmaschinenkonzern Google. In dessen "Labs" genannter Versuchsküche modifizierte er den Suchalgorithmus dahingehend, dass barrierefreie Webseiten ganz oben auf der Ergebnisliste landen. "Google Accessible Search" gilt nun als erste Anlaufstelle für Menschen mit Handicap. Unter den dortigen Suchergebnissen werden künftig auch die Seiten der niederrheinischen Gemeinden Nettetal und Issum zu finden sein, die dieses Jahr ebenfalls einen Biene-Award erhielten.
Seit 2003 wird der Barrierefreiheits-Preis verliehen. Ausgeschrieben bedeutet das Kürzel "Barrierefreies Internet eröffnet neue Einsichten". Mehr als 80 Webseiten, die den Erfordernissen für barrierefreies Surfen in besonderer Weise entsprechen, sind seitdem mit einem Biene-Award ausgezeichnet worden.
Auf der Homepage des Biene-Award findet sich ein kleines Spiel, das einen Eindruck davon vermittelt, mit welchen Schwierigkeiten Menschen mit Handicap tagtäglich im Internet zu kämpfen haben. Gerade zeitgenössisches Webdesign mit Ajax-Programmcodes, bei denen weitere Informationen im Hintergrund geladen und erst sichtbar werden, wenn man an die richtige Stelle klickt, ist nicht barrierefrei. Ausgerechnet viele soziale Plattformen im interaktiven Web 2.0 sind davon betroffen, obwohl Menschen mit Behinderungen sich gerne dort vernetzen und austauschen. Der vor genau einem Jahr verabschiedete neue Webstandard für Barrierefreiheit WCAG 2.0 sollte hier Verbesserungen bringen, bleibt jedoch unter Webdesignern umstritten.
Allein in der EU sind 38 Millionen Menschen von Behinderungen betroffen. Damit sie an der Informationsgesellschaft teilnehmen können, wird auch die Hardware ständig weiter entwickelt. So gibt es beispielsweise Zeigegeräte, die mit dem Mund bedient werden können. Mit der sogenannten Mundmaus von Lifetool lässt sich der Cursor frei über den Bildschirm bewegen. Pustet man leicht in ein Röhrchen, wird ein Klick ausgelöst. Noch avancierter, aber auch deutlich teurer, sind Augensteuerungssysteme, die sich individuell auf das Augenpaar des Nutzers einstellen und seinen Blicken folgen. Ruhen die Augen an einer Stelle auf dem Bildschirm etwas länger, wird ein Befehl ausgeführt.
In den Räumlichkeiten der Stiftung "barrierefrei kommunizieren" in der Berliner Wilhelmstr. 52 kann man die neuesten barrierefreien Hilfsmitteln testen und sich beraten lassen. Immer mehr Dienstleistungs- und Behördenangebote finden sich im Internet, vom Einkauf über die Kontoverwaltung bis zur elektronischen Steuererklärung. Dass Menschen mit Handicaps hieran teilnehmen können, ist eine Aufgabe für die ganze Gesellschaft. Wie der Botschafter der Republik Estland, Mart Laanemäe, in seiner Laudatio beim Biene-Award unterstrich: "Barrieren zeigen sich immer dann, wenn man sie nicht erwartet."