geschichte
Herfried Münkler über deutsche Mythen und ihre Bedeutung für die nationale Identität
Nicht immer ist die Wahrheit Grundlage des politischen Handelns oder der Bewertung historischer Ereignisse. Hinter dieser Binsenweisheit steht die Erkenntnis, dass Geschichte sich auch durch Mythen bildet, Mythen in sich aufnimmt, reflektiert und sich nutzbar machen lässt im Dienste derer, die politisch etwas bewegen wollen. In der "weithin mythenfreien" Zone Bundesrepublik Deutschland widmet sich der Historiker Herfried Münkler mit lesbarer Gelehrsamkeit einem besonderen Thema in der deutschen Geschichte, das im Vergleich mit den europäischen Nachbarn und den USA kaum eine Rolle mehr spielt. Ob dies zugleich Rückschlüsse auf die Wahrheit als Grundlage heutiger politischer Entscheidungen zulässt, ist nicht das Thema dieses voluminösen Werks. Gleichwohl haben Mythen in Deutschlands Vergangenheit eine schicksalhafte Rolle gespielt und die nationale Identität stark beeinflusst.
Die zeitliche sowie die thematische Bandbreite des schillernden Begriffs, dessen Inhalte von den unterschiedlichsten Kräften zur politischen und kulturellen Gestaltung in ihren Dienst gestellt wurden, sind beträchtlich: Salopp gesagt: Sie reicht von Siegfried bis zum glänzenden Stern von Mercedes.
Münkler hat sein Buch in fünf große Abschnitte gegliedert, angefangen mit den Nationalmythen. Vielfach missbraucht und vielfach missverstanden: Barbarossa - man denkt dabei auch an Hitlers gleichnamigen Russlandfeldzug - und seinen Enkel Friedrich II., die zu einer Person verschmolzen in eine schlummernde Urgewalt verwandelt wurden. Der Mythos, so Münkler, triumphierte über die Realpolitik. Der geschätzte Schriftsteller Felix Dahn, berühmt geworden durch sein Buch "Ein Kampf um Rom", reimte nach der Reichsgründung 1871:
"Heil Dir, greiser Imperator
Barbablanca, Triumphator
Der Du Frankreich niederzwangst! (….)
Heil Dir, greiser Imperator
Barbablanca, Triumphator
Retter Du des Vaterlands."
Barbablanca - das ist Kaiser Wilhelm I., der aus der Sage wiedergekehrte Barbarossa. Dagegen, so Münkler, kam keine Realpolitik mehr an.
So geht es quer durch die deutsche Geschichte mit den von Münkler angeführten und luzide kommentierten Beispielen für Indoktrination, Manipulation durch Mythen, aber auch für Orientierung und Zuversicht und damit kognitiven wie emotionalen Ressourcen der Politik.
In die Reihe fügen sich trefflich ein die Schlacht im Teutoburger Wald und die Geschichte der Nibelungen, in denen mal Siegfried, mal Hagen der wahre deutsche Held ist. Siegfried steht für die Dolchstoßlegende, Hagen für den feigen Mörder, der dann von Joseph Goebbels als beispielgebend für urdeutsche Treue beim letzten Kampf in Etzels Halle umgedeutet wurde.
Es folgen weitere Lieblingsthemen der "Mythopoeten": Die Germanen des Tacitus, Luther, Canossa, die preußischen Mythen, die "mythentrunkene" Zeit des 19.und 20. Jahrhunderts, natürlich auch die Interpretation der Doktor-Faust-Legende aus den Zeitverhältnissen heraus. Der noch "auszuarbeitende dritte Teil des Faust werde die Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaftsordnung" sein, schrieb der DDR-Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht 1962 im "Neuen Deutschland".
Während der Bundesrepublik ein zentraler Gründungsmythos fehlt, hat die DDR den antifaschistischen Widerstand und die "demokratische Umwälzung" dazu gemacht. Im Westen Deutschlands beschied die Politik sich mit Hinweisen auf das "Wirtschaftswunder", verkörpert durch Ludwig Erhard. Die SPD hielt dagegen mit der Vorstellung vom "Modell Deutschland".
Nach so viel Mythen muss man fragen, ob aufgeklärte Bürger überhaupt solche Identifikations-Krücken brauchen? Doch offenbar war und ist die Sehnsucht nach Mythen immer vorhanden. Immerhin hat die Genesis deutscher Geschichte durch Münkler mit diesem Thema auf höchst aufschlussreiche Weise Farbe bekommen. Sein Werk ist umfangreich geworden, obwohl ein eigenes Kapitel über das "Dritte Reich" fehlt. Der Historiker schreibt, kein anderes Land habe sich einer ähnlichen Erinnerungsarbeit unterworfen und die Zeichen moralischer Schande so sichtbar gemacht. Ob das als Erklärung reicht, wenn es denn eine sein soll, scheint fraglich. Denn hier liegt eine Vielfalt von Begriffen und Themen, die sich aus der Sicht von Demagogen und ihrer Klientel rund um den "Führer" und "den Untergang" wie kaum ein anderes Thema durch die Umdeutung von Geschichte als Mythos instrumentalisieren lassen.
Die Deutschen und ihre Mythen.
Rowohlt Verlag, Berlin 2009; 606 S., 24,90 ¤