56. Sitzung
Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010
Beginn: 9.00 Uhr
* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *
* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *
* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Ältestenrat hat in seiner gestrigen Sitzung vereinbart, während der Haushaltsberatungen ab dem 13. September 2010 keine Befragung der Bundesregierung, keine Fragestunde und auch keine Aktuellen Stunden durchzuführen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 33 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister des Auswärtigen
Afghanistan und die Konferenz von Kabul - Auf dem Weg zur Übergabe in Verantwortung
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung anderthalb Stunden vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist offenkundig nicht der Fall.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Guido Westerwelle.
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Auswärtigen:
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Am 20. Juli findet die internationale Afghanistan-Konferenz in Kabul statt. Es hätte sicherlich einfachere Orte auf der Welt für diese Konferenz gegeben. Die Tatsache, dass diese Außenministerkonferenz in Kabul stattfindet, ist ein Signal.
Der Ort Kabul ist Ausdruck unseres festen Willens, die vollständige Sicherheitsverantwortung in afghanische Hände zu übergeben. Der Ort Kabul ist ebenso Ausdruck des festen Wunsches der Afghanen, die Geschicke ihres Landes wieder in die eigenen Hände zu nehmen.
Die Kabul-Konferenz ist die erste internationale Afghanistan-Konferenz, die in Afghanistan selbst stattfindet. Das ist mehr als Symbolik; es zeigt, dass wir in dem Prozess der Übergabe von Verantwortung in Verantwortung an die Afghanen eine neue Etappe erreicht haben.
Deutschland engagiert sich gemeinsam mit über 40 anderen Nationen unter dem Mandat der Vereinten Nationen in Afghanistan, damit das Land nicht wieder zum Rückzugsort für den internationalen Terrorismus wird. Der deutsche Afghanistan-Einsatz ist gewiss nicht populär, aber er ist unverändert notwendig und in unserem eigenen Interesse. Unsere Landsleute tun in Afghanistan ihren Dienst, damit wir hier sicher leben können. Dafür wollen wir ihnen auch danken.
Auf der Konferenz in London Anfang des Jahres haben die afghanische Regierung auf der einen und die internationale Staatengemeinschaft auf der anderen Seite eine gegenseitige Verpflichtung geschlossen. Die afghanische Regierung hat sich auf die Ziele bessere Regierungsführung, Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbekämpfung und Reduzierung des Drogenanbaus verpflichtet. Im Gegenzug hat die internationale Gemeinschaft zugesagt, ihre Anstrengungen zu erhöhen, damit die Afghanen diese Ziele erreichen können.
Die internationale Gemeinschaft hat ihre Zusagen erfüllt. Die Bundesregierung hat ihr Afghanistan-Konzept durch eine Regierungserklärung der Bundeskanzlerin vor diesem Hohen Hause im Januar vorgelegt und dessen Umsetzung auf den Weg gebracht. Ich danke dem Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Dirk Niebel, dafür, dass es gelungen ist, Deutschlands zivile Hilfe für die Menschen in Afghanistan beinahe zu verdoppeln.
Ebenso fast verdoppeln konnten wir seit Jahresbeginn die Zahl unserer Polizeiausbilder vor Ort. Deswegen danke ich ausdrücklich dem Bundesinnenminister Thomas de Maizière und den Bundesländern für diesen wichtigen Beitrag.
Dem Bundesverteidigungsminister, Karl-Theodor zu Guttenberg, danke ich für die kollegiale Zusammenarbeit
bei der Neufassung des deutschen ISAF-Mandates gemäß unseren internationalen Verabredungen. Gemeinsam haben wir den deutschen Schwerpunkt, nämlich die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte, weiter verstärkt.
Neben Umschichtungen im Mandat können wir heute 500 zusätzliche Soldaten nach Afghanistan entsenden, um die Ausbildung der Sicherheitskräfte vor Ort zu verbessern und zu beschleunigen.
Das Kabinett hat in dieser Woche einen ehrgeizigen Sparhaushalt beschlossen. An unserem Engagement in Afghanistan wird aber nicht gespart, weil wir den Erfolg wollen und unsere Verantwortung kennen. Deutschland hält seine Zusagen.
Manches haben wir seit London erreicht. Wir haben neue Trainingszentren für die Polizei gebaut und in diesem Jahr schon fast 2 000 afghanische Polizisten aus- und fortgebildet. Wir haben in Kunduz und Dakar begonnen, die Provinzkrankenhäuser wieder aufzubauen. Wir unterstützen mobile Gesundheitsteams im Norden, die Gesundheitsversorgung zu den Menschen bringen sollen. Etwa 2,6 Millionen Menschen wollen wir so mit Gesundheitsversorgung erreichen. In der Provinz Balkh haben wir Schulplätze für 3 000 Jungen und Mädchen neu geschaffen. In unserem neuen Ausbildungszentrum für Lehrkräfte in Masar-i-Scharif werden im Norden Afghanistans mittlerweile mehr als 6 000 angehende Lehrerinnen und Lehrer ausgebildet.
Das alles wurde im vergangenen halben Jahr erreicht. Ich denke, das ist eine gute, wenn auch noch nicht zureichende Zwischenbilanz.
Zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme gehört es nämlich auch, Rückschläge nicht zu übersehen und die Grenzen unserer Möglichkeiten zu erkennen. Wir wissen um den Drogenanbau, der in Afghanistan weiter betrieben wird. Wir wissen um die Korruption im Land und sind beunruhigt über Berichte, nach denen Hilfsgelder außer Landes geschafft werden.
Und wir wissen um die angespannte Sicherheitslage.
Es ist nicht alles gut in Afghanistan. Wer glaubt, wir könnten am Hindukusch europäische Verhältnisse schaffen, der irrt aber. Unser Ziel muss ein Zustand in Afghanistan sein, der gut genug ist. Gut genug heißt, dass die Afghanen selbst in der Lage sind, in ihrem Land für hinreichende Stabilität zu sorgen. Gut genug heißt, dass die Fortschritte im Bereich der Menschenrechte, die wir seit dem Fall der Taliban-Herrschaft erreicht haben, gesichert bleiben. Ohne Menschenrechte, ohne das Recht von Frauen und Mädchen auf Bildung, auf Bewegungsfreiheit, auf Teilhabe am Leben kann es eine nachhaltige Stabilisierung des Landes nicht geben.
Es gibt Licht und Schatten in Afghanistan. Viele von Ihnen - aus allen Fraktionen - haben vor Ort Gespräche geführt und sich persönlich ein Bild der Lage gemacht. Sie wissen, wie gefährlich der Einsatz für unsere Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan ist. Allein im Juni sind in Afghanistan über 100 ISAF-Soldaten ums Leben gekommen. Wir trauern um sieben deutsche Soldaten, die im vergangenen halben Jahr bei Angriffen der Taliban ihr Leben verloren haben. Wir denken an diejenigen, die im Einsatz Verletzungen erlitten haben, sichtbare und unsichtbare. Wir sind bei den Familien, die um einen Angehörigen trauern oder die sich um einen geliebten Menschen sorgen, weil sie um die täglichen Gefahren dieses Einsatzes wissen. Allen, die in Afghanistan in Uniform oder Zivil ihren Dienst tun, allen, die in den PRTs, in der Botschaft oder in einem der vielen Entwicklungsprojekte ihre Gesundheit oder sogar ihr Leben riskieren, spreche ich unseren größten Respekt und unseren tiefsten Dank aus. Wir schätzen ihre Arbeit, wir brauchen ihren Einsatz, und wir wollen ihren Erfolg.
Deutschland leistet viel in Afghanistan. In Diskussionen reduzieren manche unser Engagement auf die militärische Komponente, andere auf den zivilen Teil. Wir werden Afghanistan nicht stabilisieren, indem wir allein militärisch vorgehen. Wir werden Afghanistan auch nicht allein dadurch stabilisieren, dass wir Schulen bauen, Straßen teeren und Polizisten ausbilden. Beides ist notwendig und Teil unseres Ansatzes der vernetzten Sicherheit. Beides zusammengenommen reicht aber noch nicht aus. Es muss ein drittes Element dazukommen. Eine dauerhafte, selbsttragende Stabilisierung Afghanistans kann nur durch einen politischen Prozess gelingen, der die Interessen der verschiedenen Ethnien und gesellschaftlichen Gruppen in Afghanistan ausbalanciert.
Auch dazu haben wir mit unseren Verbündeten in London Anfang des Jahres bereits den ersten Schritt getan, indem wir ein Reintegrationsprogramm für ausstiegswillige Mitläufer der Taliban beschlossen haben.
Ein zweiter Schritt war die Friedensjirga, die gerade Anfang Juni in Kabul stattfand. Dort trafen sich 1 600 Delegierte; über 20 Prozent davon waren übrigens Frauen. Es fanden dort sehr offene, teilweise emotional geführte Diskussionen statt. Teilnehmer berichteten von der Zusammenkunft, dass sich konservative Mullahs und Frauenvertreterinnen gegenübergesessen und sich zunächst geweigert hätten, sich gegenseitig ins Gesicht zu schauen. Tadschikische und paschtunische Vertreter hätten einen ganzen Tag lang gestritten, ob man Paschtu oder Dari miteinander sprechen soll. Am dritten Tag aber hat diese Friedensjirga ein Abschlussdokument veröffentlicht - ohne Gegenstimme. Einstimmig haben sich die 1 600 Delegierten für den Einsatz der internationalen Staatengemeinschaft in ihrem Land ausgesprochen. Sie haben ihren Präsidenten aufgefordert, Friedensverhandlungen aufzunehmen. Sie haben außerdem klargestellt, dass Versöhnung nur mit denen möglich ist, die der Gewalt abschwören, die ihre Verbindung zum internationalen Terrorismus kappen und die die afghanische Verfassung und die damit eingegangenen Verpflichtungen zur Einhaltung internationaler Menschenrechtsstandards respektieren. Das alles zeigt, dass Afghanistan eine afghanische Lösung braucht. Das sage ich auch mit Blick auf die Parlamentswahlen am 18. September. Der politische Prozess muss ein afghanisch geführter Prozess sein, damit er erfolgreich sein kann. Nur die afghanische Regierung selbst kann Frieden mit denen schließen, die sie bekämpfen.
Unsere Aufgabe ist es, zum einen diesen Prozess zu unterstützen, zum anderen ist es Aufgabe der internationalen Staatengemeinschaft, die Nachbarländer Afghanistans in diesen Prozess einzubinden. Ziel ist es, die Nachbarländer Afghanistans dazu zu bringen, den innerafghanischen Friedensprozess zu unterstützen.
Die regionale Einbettung innerafghanischer Ergebnisse wird helfen, Erreichtes auch zu sichern. Auch dazu wird die Kabul-Konferenz einen Beitrag leisten.
Diese Kabul-Konferenz wird keine weitere Geberkonferenz, auf der die internationale Staatengemeinschaft neue Zusagen macht. In Kabul wird die afghanische Regierung ihrerseits Rechenschaft darüber ablegen, wie es um die Erfüllung ihrer Verpflichtungen steht und welche konkreten Schritte sie in den nächsten Wochen und Monaten plant. Das ist zuallererst im Sinne der Afghanen selbst, die von sich aus dieser Konferenz das Leitmotiv der Wiederherstellung der vollen Souveränität ihres Landes gegeben haben.
Ein zentrales Thema werden Reintegration und Versöhnung sein. Im Grundsatz haben wir in London ein Programm beschlossen, mit dem Taliban-Kämpfer in die Gesellschaft zurückgeholt werden sollen. Dieses Programm werden wir jetzt in Kabul genau beraten, und dann werden wir eine Entscheidung über die Freigabe der Mittel treffen, die Deutschland dafür in Aussicht gestellt hat.
Wir erwarten aber noch weitere Antworten der Afghanen auf der Konferenz. Die afghanische Regierung wird konkrete Pläne vorstellen, wie ihre Regierungsfähigkeit verbessert und die Korruption eingedämmt werden sollen. Besonderes Augenmerk werden wir dabei auf die Regierungsführung in den Provinzen, Distrikten und Dörfern legen. Hier trifft der afghanische Staatsbürger auf seinen Staat. Hier bildet er sich eine Meinung über seine Regierung und auch deren Legitimität. Derzeit sind hier die Defizite aber noch größer als in der Hauptstadt Kabul. Da muss mehr geschehen. Das ist die Bedingung dafür, dass mehr Verantwortung auf afghanische Institutionen übergehen kann.
Wir werden in Kabul gemeinsam mit der NATO und der afghanischen Regierung einen Plan verabschieden, in dem wir konkrete Bedingungen dafür festlegen, in welchen Provinzen im nächsten Jahr die Sicherheitsverantwortung an die afghanischen Sicherheitskräfte übergeben werden kann. Wir wollen im Jahre 2011, also im nächsten Jahr, drei, vielleicht sogar vier Provinzen die Sicherheitsverantwortung übergeben. Es soll mindestens eine dabei sein, die in unserem Verantwortungsbereich im Norden liegt. Schon im November soll dazu auf dem NATO-Gipfel in Lissabon eine Grundsatzentscheidung getroffen werden.
Das heißt nicht, dass mit sofortiger Wirkung die Bundeswehrpräsenz dort ihre Bedeutung verliert und wir dort keine Soldatinnen und Soldaten mehr bräuchten. Auch unsere zivile Wiederaufbauhilfe ist langfristig angelegt. Das ist ein entscheidender Schritt in Richtung Wiederherstellung afghanischer Souveränität, und es ist natürlich eine zentrale Bedingung für den Beginn eines Truppenabzuges. Wir wollen noch in dieser Legislaturperiode die Voraussetzung dafür schaffen, dass mit der schrittweisen Rückführung unserer militärischen Präsenz in Afghanistan begonnen werden kann.
Dieses Ziel verfolgen wir entschlossen und beharrlich und in enger Abstimmung mit unseren Verbündeten. Gemeinsam mit seinen Verbündeten hat Deutschland in Afghanistan Verantwortung übernommen. Deutschland wird sich dieser Verantwortung einseitig eben nicht entziehen. Die Entscheidungen über das deutsche Engagement in Afghanistan gehören - Sie wissen das alle, liebe Kolleginnen und Kollegen - zu den schwierigsten Entscheidungen, die dieses Parlament zu treffen hat.
Die Bundesregierung wird daher dafür sorgen, dass Sie über alle Fraktionsgrenzen hinweg nicht nur über unser Engagement in Afghanistan kontinuierlich und transparent unterrichtet, sondern auch an dessen Gestaltung beteiligt werden. So war es deshalb für mich eine parlamentarische Selbstverständlichkeit und auch ein persönliches Anliegen, Sie über die internationale Afghanistan-Konferenz am 20. Juli in Kabul vorab zu informieren. Ich glaube, dass wir dort eine entscheidende Wegmarke setzen können, weil diese Afghanistan-Konferenz zum ersten Mal in Afghanistan stattfindet. Wir wollen gemeinsam für den Erfolg unserer Mission arbeiten.
Ich danke sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Ich eröffne die Aussprache. Als erstem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Gernot Erler von der SPD-Fraktion.
Dr. h. c. Gernot Erler (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Außenminister, Sie haben versucht, hier eine positive Zwischenbilanz nach sechs Monaten der neuen Strategie vorzutragen, und uns Ihre hohen Erwartungen an die bevorstehende Konferenz in Kabul geschildert. Ich muss ehrlich sagen: Bei diesem Bericht habe ich mich öfter fragen müssen, über welches Land und welche Situation Sie eigentlich reden.
Nach meiner Einschätzung werden Sie im Zuge der Debatte hier erfahren, dass die Sorgen und die konkreten Fragen, die die Mitglieder des Hauses haben, sich deutlich von den Darstellungen unterscheiden, die Sie hier abgegeben haben.
Was ist denn die Lage vor Ort? Wir haben am 26. Februar 2010 im Deutschen Bundestag eine Fortsetzung des deutschen Engagements in Afghanistan beschlossen, und zwar auf der Grundlage einer neuen Strategie, die im Januar dieses Jahres in London beschlossen worden ist. Ich will noch einmal daran erinnern, welche Punkte dabei die entscheidenden waren.
Es war die Konzentration auf die Ausbildung von Soldaten und Polizisten, damit sich Afghanistan so schnell wie möglich selber gegen die Aufständischen verteidigen kann.
Es war die Erstellung eines Stufenplans zum Abzug, der im nächsten Jahr beginnen soll, das aufgreifend, was Präsident Karzai selber gesagt hat, nämlich dass dieses Land möglichst bis 2014 vollkommen in afghanische Verantwortung übergehen soll.
Es war eine Verdopplung der zivilen Anstrengungen, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung zu stärken.
Es war eine Verbesserung der Regierungsführung in Kabul, damit die Zustimmung der Bevölkerung gegenüber der eigenen Gesellschaft wächst. Die Kabuler Konferenz, die jetzt bevorsteht, sollte dazu eigentlich schon im April dieses Jahres konkrete Festlegungen, auch auf Zwischenschritte, erreichen.
Es war schließlich die verstärkte Unterstützung des Versöhnungs- und Integrationsprozesses, für den auch erhebliche Mittel zur Verfügung gestellt wurden. Ursprünglich sollte schon im Mai dieses Jahres die Friedensjirga weitere Beiträge leisten.
Diese neue Strategie wurde bereits in großer Sorge verabschiedet: in Sorge über die wachsende Zahl sogenannter sicherheitsrelevanter Vorfälle, über die zeitliche Unabsehbarkeit des Afghanistan-Einsatzes, über das anhaltende Misstrauen der afghanischen Bevölkerung gegenüber der eigenen Regierung oder, anders ausgedrückt, über den mangelnden Erfolg der Bemühungen von 44 Staaten, die in Afghanistan an dieser Mission teilnehmen.
Herr Minister, heute, ein halbes Jahr später, müssen wir feststellen, dass diese neue Strategie noch keine nachhaltige Verbesserung der Lage gebracht hat.
Unsere Sorgen sind eher gewachsen, und unsere Geduld wird wirklich auf eine harte Probe gestellt. Lassen Sie mich dafür nur drei Anlässe aufzeigen.
Erster Anlass: Obwohl jetzt 150 000 Soldaten der internationalen Gemeinschaft im Einsatz sind, hat sich die Zahl der Anschläge weiter erhöht. Der Juni 2010 war mit 102 gefallenen Soldaten der internationalen Streitkräfte der bisher blutigste und verlustreichste Monat in der gesamten Geschichte des Afghanistan-Einsatzes.
Wichtige Verbündete - darauf sind Sie überhaupt nicht eingegangen, Herr Außenminister - wie Kanada, die Niederlande und Polen werden ihre Truppen komplett abziehen. Großbritannien hat angekündigt, die eigenen Soldaten aus einem besonders umkämpften Gebiet zurückzuziehen.
Zweiter Anlass: Die Aufstandsbekämpfung nach neuem Muster begann mit der Operation ?Muschtarak? im Februar und führte zur Eroberung eines Ortes namens Mardscha. Danach sollte eine groß angelegte Offensive zur Rückeroberung Kandahars stattfinden. Sie ist auf unbestimmte Zeit verschoben worden.
Dritter Anlass: Für das so wichtige Ziel, die Arbeit der Kabuler Regierung qualitativ zu verbessern und so das Vertrauen zwischen Bevölkerung und Regierung zu stärken, sollten auf der Kabuler Konferenz konkrete Ziele und Zwischenschritte vereinbart werden. Erst sollte diese Konferenz im April 2010 durchgeführt werden. Die Regierungsbildung hat sich aber verzögert; noch heute sind fünf Ministerien nicht besetzt. Jetzt soll sie am 20. Juli dieses Jahres stattfinden.
Genau in diese Vorbereitungsphase fallen Berichte in den Medien, nach denen kofferweise Geld aus Afghanistan nach Dubai geschafft wird, offenbar auch Geld aus Hilfs- und Wiederaufbauprojekten. - Das ist der augenblickliche Stand der Vorbereitungen für die Kabuler Konferenz.
Wir sind praktisch in der Mitte des laufenden Mandates. Hier wäre eigentlich die Gelegenheit gewesen, eine kritische Zwischenbilanz zu ziehen.
Da taucht eine ganze Reihe von Fragen auf, Herr Minister, zum Beispiel was die Kabuler Konferenz und deren Vorbereitung angeht. Die Vorbereitung ist das Entscheidende, wenn man weiß, dass auf dieser Konferenz eine ganze Reihe von Keynote Speakers auftreten wird und 76 Delegationen gern zu Wort kommen wollen - und das alles an einem Tag. Man muss feststellen, dass die internationale Gemeinschaft verbindliche Benchmarks, also konkrete Zwischenziele, für diese Konferenz will, dass die Afghanen aber ganz offensichtlich vor allem sogenannte Bankable Programs vorbereitet haben, also finanzierungsreife Projekte, die sie den internationalen Partnern vorstellen wollen und für die sie gern Finanzierungszusagen haben wollen. Herr Minister, wie wollen Sie diesen Widerspruch, diesen Gegensatz in den Erwartungen eigentlich beantworten? Wie haben Sie sich auf diese Situation vorbereitet?
Schließlich: Wie sieht es mit der Übergabe in Verantwortung aus? Sie haben vorhin gesagt: eine von neun Provinzen. Die Frage ist: Wie viele von den 124 Distrikten im Norden sollen übergeben werden? Wenn jetzt auf dieser Konferenz nicht klar wird, wie die Vorbereitungen dafür aussehen, wann sonst soll das dann eigentlich passieren?
Schließlich ist die Frage: Wie stehen Sie zu der Forderung der afghanischen Zivilgesellschaft, dass die Ergebnisse der Friedensjirga vom 2. bis 4. Juni Tagesordnungspunkt in Kabul werden sollen? Auch dazu haben Sie überhaupt nichts gesagt. Wie soll das bei dem vorbereiteten Ablauf dieser Konferenz eigentlich passieren?
All diese Fragen im Kontext der fälligen Zwischenbilanz zeigen, wie wichtig es ist, sich ständig und kritisch mit der tatsächlichen Umsetzung der neuen Strategie zu beschäftigen. SPD und Grüne haben hierzu am 9. Juni einen detaillierten Antrag eingebracht. Wir halten es für notwendig, in den Evaluierungsprozess von vornherein die reichlich vorhandene wissenschaftliche Expertise zu Afghanistan und auch die Erfahrungen von Nichtregierungsorganisationen, die uns außerordentlich wichtig sind, einzubeziehen. Ziel ist dabei, belastbare Grundlagen für die Bewertung der neuen Strategie zu erreichen. Das brauchen wir für die nächste Entscheidung, die gegen Ende des Jahres vorbereitet werden muss.
Aber wir brauchen die Evaluierung auch, weil wir die Chance haben müssen, nachzusteuern und zu korrigieren. Wir können es uns nicht mehr erlauben, nach einem Jahr erneut zu hören, warum vieles von dem, was beschlossen worden ist, wieder nicht geklappt hat. Es muss möglich sein, dass wir hier vom Parlament aus auf der Basis einer solchen Evaluierung vorher dazwischengehen.
Bei unseren Gesprächen in den vergangenen Tagen haben wir gehofft, Herr Kollege Schockenhoff, dass wir zu einer Verständigung kommen. Ich bin sehr traurig darüber, dass das bisher nicht gelungen ist. Es ist nicht gelungen, weil Sie nicht wollen, dass die Expertise bei dem Prozess ständig beteiligt wird.
Wenn wir und wenn Sie daran interessiert sind, dass das, was es an parteiübergreifendem Konsens in Sachen Afghanistan gibt, auch in Zukunft noch eine Chance hat, sollten wir in den nächsten Tagen noch einen Versuch unternehmen - das schlage ich vor, und ich meine das sehr ernst -, hier zu einer Verständigung zu kommen. Für uns wird das nicht gehen ohne die ständige Beteiligung von Expertise, von unabhängiger wissenschaftlicher Kenntnis, an der Evaluierung.
Vielleicht ist es möglich, auf der Ebene der Fraktionsvorsitzenden einen weiteren Versuch zu unternehmen; wir jedenfalls sind dazu bereit.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Andreas Schockenhoff von der CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Anfang des Jahres in London eingeleiteten Strategiewechsel für das Engagement der internationalen Gemeinschaft in Afghanistan haben wir die Grundlagen für eine Abzugsperspektive für unsere Soldatinnen und Soldaten geschaffen. Die bevorstehende Konferenz in Kabul ist der nächste wichtige Schritt auf dem Wege der Übergabe in Verantwortung in Afghanistan.
Die internationale Gemeinschaft hatte sich in London verpflichtet, die zivile Hilfe zu verstärken und den Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte zu beschleunigen. Deutschland verdoppelt fast seine Entwicklungshilfe in Afghanistan und intensiviert die Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte in unserem Verantwortungsbereich im Norden des Landes, um schon im nächsten Jahr unsere militärische Präsenz zurückführen zu können. Die CDU/CSU unterstützt diese Neuausrichtung unseres Gesamtansatzes für Afghanistan, weil damit die Voraussetzungen für eine Übergabe der Verantwortung in afghanische Hände geschaffen werden.
Eine nachhaltige Stabilisierung Afghanistans kann nur gelingen, wenn es auch eine politische Lösung für das Land gibt. Deshalb ist die afghanische Eigenverantwortung so wichtig. Unser verstärktes Engagement kann nur erfolgreich sein, wenn wir in der afghanischen Regierung einen Partner bei der Umsetzung der Londoner Strategie haben. Die Kabuler Konferenz ist für die afghanische Regierung eine gute Gelegenheit, dies unter Beweis zu stellen.
Worum geht es im Einzelnen? In Kabul soll das in London entworfene Übergabekonzept der internationalen Gemeinschaft gemeinsam mit der afghanischen Regierung finalisiert und mit konkreten Zielen und Fristen versehen werden. Konsequenter und nachhaltiger als bisher muss eine verantwortungsvolle Regierungsführung umgesetzt werden. Nur so kann das Vertrauen der afghanischen Bevölkerung in ihre Regierung gestärkt werden. Es ist erfreulich, dass von der afghanischen Regierung hier ein ambitioniertes Programm aufgesetzt wurde. Jetzt kommt es auf die Taten an. Eine gleichzeitige Umsetzung aller Maßnahmen nach der Konferenz ist dabei gar nicht möglich. Vielmehr ist eine Priorisierung und Sequenzierung wichtig. Entscheidend aber ist: Die Fortschritte müssen für die Menschen in Afghanistan sichtbar sein.
Mit Bezug auf aktuelle, beunruhigende Presseberichte über die Veruntreuung internationaler Hilfsgelder gilt: Insbesondere müssen bei der Korruptionsbekämpfung spürbare Verbesserungen erzielt werden.
In diesem Zusammenhang ist es richtig, dass die Bundesregierung keine unkonditionierte Budgethilfe an die afghanische Regierung zahlt, deren Verwendung kaum kontrollierbar wäre. Es ist besser, konkrete Projekte mit Kabul zu vereinbaren und deren Finanzierung dann sicherzustellen.
Es ist klar: Voraussetzung für Umsetzbarkeit und Nachhaltigkeit der in Kabul zu konkretisierenden Entwicklungspläne der afghanischen Regierung für den Wiederaufbau sind eine bessere Regierungsführung und Erfolge bei der Korruptionsbekämpfung. Für die CDU/CSU steht fest: Die Verdoppelung unserer Entwicklungshilfe ist zwingend an messbare Erfolge in diesem Bereich gekoppelt.
Die Kabuler Konferenz wird die Kernpunkte des afghanischen Reintegrationsprogramms und die Ergebnisse der Friedensjirga vom Juni dieses Jahres, also Vorschläge von Vertretern aus ganz Afghanistan, aufgreifen. Beim deutschen Anteil am Fonds für das Reintegrationsprogramm der afghanischen Regierung ist auf einen transparenten, wirksamen und nachhaltigen Einsatz dieser Mittel zu achten. Es muss sichergestellt sein, dass keine finanziellen Vorableistungen erbracht werden, sondern nur bezahlte Arbeit und bezahlte Ausbildung mit den Geldern ermöglicht werden.
Schließlich soll zwischen der afghanischen Regierung, der ISAF und der internationalen Gemeinschaft ein verbindliches Konzept zur Vorbereitung der Übergabe der Verantwortung an die Afghanen abgestimmt werden. Dabei ist es wichtig, dass Provinzen nicht nur im Bereich Sicherheit, sondern auch in Bezug auf Regierungsführung und zivile Entwicklung übergabereif sind.
Es wird deutlich: Die Konferenz von Kabul unterstreicht die Bedeutung des politischen Prozesses. Von dem Treffen wird ein Signal für eine konkrete Verantwortungsübernahme durch die afghanische Regierung ausgehen. Noch wichtiger aber ist, dass die Beschlüsse in den kommenden Monaten auch entsprechend umgesetzt werden. Um hier schnelle und sichtbare Ergebnisse zu erzielen, wären 100-Tage-Programme ein gutes und in Afghanistan sichtbares Instrument.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Engagement in Afghanistan ist mit dem Ziel einer schrittweisen Übergabe in Verantwortung in eine neue entscheidende Phase gekommen. Für die CDU/CSU ist eine schrittweise Reduzierung der militärischen Präsenz ab 2011 zwingend an Fortschritte beim zivilen Aufbau und den Aufwuchs der afghanischen Sicherheitskräfte gekoppelt und nicht an willkürliche Abzugsdaten. Es geht um Wegmarken, bei deren Erreichen ein Reduzierungsschritt erfolgen kann. Für uns ist es deshalb wichtig, dass wir für die Begleitung und Bewertung der Umsetzung der neuen Strategie der Bundesregierung ressortübergreifende Benchmarks entlang der von der Kabuler Konferenz definierten Zielvorgaben vorgelegt bekommen. Zudem wollen wir, dass die Bundesregierung im Sommer 2011 - 18 Monate nach den Beschlüssen von London - eine Evaluation des laufenden Mandats vorlegt. Dafür könnte es sinnvoll sein, externe Expertise hinzuzuziehen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Schockenhoff, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?
Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU):
Gerne.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Ströbele, bitte.
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Kollege, ebenso wie der Außenminister sprechen Sie über dieses Thema, als ginge es um möglichst effektive Hilfe für ein Entwicklungsland. Aber die deutsche Bevölkerung ist doch nicht wegen der Entwicklungsprojekte, die dort durchgeführt und einmal besser, einmal schlechter gemanagt werden, gegen die Afghanistan-Politik der Bundesregierung und dieses Parlaments. Vielmehr ist die deutsche Bevölkerung gegen diese Politik, weil Krieg geführt wird. Weder Sie noch der Außenminister reden von Krieg.
Sagen Sie doch einmal: Welche Art von Krieg halten Sie für richtig? Welche Einsätze der Bundeswehr halten Sie für richtig? Welche Einsätze der Bundeswehr halten Sie für problematisch? Halten Sie es zum Beispiel für problematisch, dass - wie die Bundesregierung jetzt zugegeben hat - auch Deutschland für die Liste von Zielpersonen, die bei der Festnahme umgebracht werden, ist? Halten Sie es für problematisch, dass Deutschland eine solche Art von Kriegsführung mitmacht? Halten Sie es für richtig, dass Deutschland mit den USA und anderen NATO-Verbündeten Großoffensiven startet, bei denen Hunderte von Menschen umkommen, nicht nur Alliierte, sondern auch Afghanen, und zwar meist fünf- oder zehnmal so viele Afghanen wie Alliierte?
Reden Sie endlich zum eigentlichen Thema! Das erwartet die deutsche Bevölkerung von Ihnen. Sie erwartet nicht, dass Sie darüber reden, wie man Entwicklungshilfe besser machen kann.
Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU):
Herr Kollege Ströbele, ich rede zu der Regierungserklärung unseres Außenministers, die der Ältestenrat für heute auf die Tagesordnung des Hohen Hauses gesetzt hat. Darin geht es um eine Abzugsperspektive und um eine Konkretisierung der Beschlüsse von London. Die Aufbauschritte müssen festgelegt und messbare Daten entwickelt werden.
Herr Kollege, ich finde es nicht in Ordnung, dass Sie bei jeder Gelegenheit, egal was auf der Tagesordnung steht, immer wieder die gleichen Sprüche ablassen.
Wir wollen Erfolge in Afghanistan haben, für die Sicherheit unserer Bevölkerung und für eine konkrete Abzugsperspektive. Ihre Sprüche werden dadurch, dass Sie sie immer wiederholen, nicht besser, und sie dienen auch nicht der Bevölkerung.
- Sie können sich setzen. Ich habe Ihre Frage beantwortet.
CDU/CSU und FDP haben den Oppositionsfraktionen ein gemeinsames Vorgehen hinsichtlich der parlamentarischen Begleitung des Afghanistan-Einsatzes angeboten.
Herr Erler, dabei ist meines Erachtens deutlich geworden, dass wir inhaltlich gleiche Vorstellungen haben. Wir wollen gemeinsam die Umsetzung der neuen Strategie auf Grundlage der von uns eingeforderten intensivierten Berichterstattung und Unterrichtung durch die Bundesregierung einer kontinuierlichen parlamentarischen Bewertung unterwerfen. Uns unterscheidet aber, Herr Kollege Erler und Herr Kollege Schmidt, dass wir diese Aufgabe nicht an externe, etwa wissenschaftliche Experten abgeben wollen.
Damit würden wir Abgeordnete - wir haben den Einsatz in Afghanistan mandatiert - der Verpflichtung gegenüber unserer Bevölkerung und den Soldatinnen und Soldaten nicht entsprechen.
Wir müssen feststellen, dass SPD und Grüne diese Auffassung nicht teilen und zu einem gemeinsamen Vorgehen nicht bereit sind.
Ich wiederhole: Selbstverständlich wollen wir Nichtregierungsorganisationen, Wissenschaftler und alle möglichen Experten anhören,
um uns eine Meinung bilden zu können. Entscheidend für die CDU/CSU ist aber, dass wir Parlamentarier und niemand sonst die politische Verantwortung für den Einsatz in Afghanistan haben
und dieser Verantwortung weiterhin gerecht werden müssen. Auch hier müssen wir feststellen, dass SPD und Grüne diese Auffassung nicht teilen und zu einem gemeinsamen Vorgehen nicht bereit sind.
Diese Verantwortung wurde uns von den Wählerinnen und Wählern übertragen, und wir können sie nicht abgeben. Deswegen werden wir als Parlamentarier diesen Einsatz begleiten. Wir werden unserer Verantwortung gerecht werden.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat der Kollege Jan van Aken von der Fraktion Die Linke.
Jan van Aken (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Westerwelle, ich bin richtig erschrocken darüber, was Sie in nur neun Monaten aus dem Außenministerium gemacht haben.
Vorgestern haben Sie auch für Ihr Ministerium Kürzungen beschlossen. Natürlich haben Sie nicht querbeet gleichmäßig gestrichen, sondern Sie haben ganz gezielt die Axt angelegt. Das ist grundsätzlich in Ordnung; aber wenn ich mir anschaue, wo Sie die Axt angelegt haben, dann kommt mir das kalte Grausen. Sie haben genau da gekürzt, wo es um Frieden und Völkerverständigung geht, und das ganz kräftig. Ausgerechnet bei der Abrüstung wollen Sie 19 Millionen Euro einsparen. Sie haben hier vor einem halben Jahr gesagt - ich zitiere -:
Nach dem Jahrzehnt der Aufrüstung brauchen wir jetzt ein Jahrzehnt der Abrüstung ...
Das sind Ihre Worte. Das Jahrzehnt der Abrüstung leiten Sie damit ein, die Abrüstung kräftig, um 19 Millionen Euro, zu kürzen. Das müssen Sie mir einmal erklären.
Es kommt aber noch dicker: 67 Millionen Euro sparen Sie bei der humanitären Hilfe und bei der Vorbeugung von Konflikten. Ich habe tatsächlich den Eindruck, dass Sie bei der zivilen Konfliktbearbeitung sparen wollen, um die Konflikte hinterher militärisch zu lösen. Genau das machen Sie in Afghanistan. Dort setzen Sie völlig einseitig auf Waffen und Soldaten.
Aber ich sehe nichts, was Sie für eine Friedenslösung tun. Sie haben hier von einer ?Übergabe in Verantwortung? gesprochen. Ich frage mich die ganze Zeit: Was wollen Sie eigentlich übergeben? Einen Krieg oder einen Frieden? Der einzige Schlüssel zum Frieden sind doch Verhandlungen und nichts als Verhandlungen. Jeder Krieg in der Geschichte ist entweder durch eine bedingungslose Kapitulation oder durch Verhandlungen beendet worden. Selbst die größten Träumer in Ihren Referaten können doch nicht ernsthaft glauben, dass die Aufständischen in Afghanistan jetzt die Waffen niederlegen und kapitulieren. Das Gegenteil ist doch der Fall. Die Sicherheitslage ist so desolat wie nie zuvor. Die Anzahl der Toten war im letzten Monat so hoch wie nie seit Beginn des Einsatzes. Das Einzige, was uns bleibt, sind Friedensverhandlungen.
Dafür muss man aber auch etwas tun. Sie haben hier gerade die Friedensjirga erwähnt. Das Hochnotpeinliche an Ihrem Beitrag ist, dass Sie das entscheidende Ergebnis der Friedensjirga hier verschwiegen haben. Denn die Friedensjirga hat ganz klare Forderungen an Sie, Herr Westerwelle, und an alle internationalen Truppensteller formuliert, und zwar mit dem Ziel, die Friedensverhandlungen zu ermöglichen. Ich zähle die Forderungen einmal auf: Erstens fordert die Friedensjirga von Ihnen, alle Gefangenen freizulassen, die ohne Anklage festgehalten werden. Zweitens fordert sie, endlich die Namen von Aufständischen von der internationalen schwarzen Liste zu streichen. Drittens fordert sie eine Sicherheitsgarantie für all diejenigen, die an den Friedensverhandlungen teilnehmen wollen. Das macht auch Sinn. Sie können doch nicht erwarten, dass irgendein Warlord oder Taliban-Führer an Verhandlungen teilnimmt, wenn er befürchten muss, gleich erschossen zu werden!
Das sind keine Forderungen der Linken, sondern sie kommen direkt aus Afghanistan. Da wird es brenzlig. Sind Sie jetzt als Unterstützer der afghanischen Regierung in Afghanistan oder nicht? Führen Sie eigentlich einen Krieg mit den Afghanen oder gegen die Afghanen? Es ist völlig egal, was man von der Regierung Karzai hält. Sie wissen, dass ich von der Korruption gar nichts halte und die Beteiligung von Kriegsverbrechern an der Karzai-Regierung unerträglich finde. Aber dieser Bundestag hat ein Mandat beschlossen, das zentral darauf beruht, die afghanische Regierung zu unterstützen. Deshalb frage ich Sie jetzt, Herr Westerwelle - das sind keine rhetorischen Fragen; ich will wirklich eine Antwort von Ihnen haben; ich höre auch früher auf, dann können Sie etwas von meiner Zeit für Ihre Antwort nehmen -:
Sind Sie bereit, die Forderungen der afghanischen Regierung und der Friedensjirga zu erfüllen, ja oder nein? Setzen Sie sich konkret dafür ein, dass die Namen von Aufständischen von der UN-Liste gestrichen werden? Was tun Sie dafür, dass es freies Geleit für Friedensverhandlungen gibt?
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland keine Waffen mehr exportieren sollte.
Zumindest bei den Rüstungsexporten ist Deutschland schon die Nummer drei in der Welt. Selbst bei der Fußballweltmeisterschaft bin ich darüber gestolpert. Ich habe mir mal angeschaut, wer von den WM-Teilnehmern Waffen in Deutschland gekauft hat. An jedem einzelnen Spieltag - bis ins Finale - finden sich Länder, in die Deutschland Waffen exportiert hat. Am jetzigen Sonntag spielen die Niederlande und Spanien: Sie haben für 3,9 Milliarden Euro Waffen in Deutschland gekauft. Ich finde das falsch. Ich finde, wir sollten keine Waffen mehr exportieren.
Herr Westerwelle, ich habe noch anderthalb Minuten Redezeit. Ich würde mich wirklich freuen, wenn Sie die Fragen ganz konkret beantworten könnten.
Beantworten Sie ganz präzise die Frage: Sind Sie bereit, auf die Forderungen der Friedensjirga einzugehen, was die Friedensverhandlungen angeht? Was ist mit der Streichung der Namen von der schwarzen Liste?
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Wenn Sie Ihre Rede beendet haben, nehmen Sie bitte wieder Platz.
Jan van Aken (DIE LINKE):
Herr Solms, mit Verlaub, aber ich finde, das ist falsch.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Wir machen hier kein Theater.
Jan van Aken (DIE LINKE):
Der Sinn einer Debatte ist doch, dass man miteinander redet, offen Argumente austauscht und irgendwann auch einmal Fragen stellt und Antworten gibt. Wenn hier alle nur vorbereitete Reden vorlesen, kann ich die auch zu Hause lesen.
Deswegen meine ich, dass man auch einmal auf eine Frage antworten sollte. Aber wenn Sie nicht wollen, dann müssen wir es lassen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Die Regularien der Debatte sind in der Geschäftsordnung festgelegt. Sie werden nicht von Ihnen bestimmt.
Als nächster Rednerin erteile ich der Kollegin Elke Hoff von der FDP-Fraktion das Wort.
Elke Hoff (FDP):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich finde es in hohem Maße bedauerlich, verehrter Herr Kollege van Aken, dass Sie in diesem Hohen Hause ein so wesentliches Thema wie den Einsatz in Afghanistan bzw. die Stabilisierungsbemühungen in Afghanistan für Ihren politischen Klamauk benutzen.
Ich glaube, dass die Vorträge oder Wünsche der Friedensjirga in Kabul von der internationalen Gemeinschaft sehr ernst genommen werden. Ich war vor 14 Tagen in Kabul. Zeitgleich war dort auch eine Delegation der Vereinten Nationen, die genau über diese Themen gesprochen hat, die Sie heute so in den Raum stellen, als würde sich die internationale Gemeinschaft vor diesen wichtigen Fragen drücken.
Das heißt, die internationale Gemeinschaft nimmt das, was die afghanischen Vertreter der Politik sagen, durchaus ernst.
- Selbstverständlich habe ich eine Meinung dazu. Die werde ich Ihnen im Verlauf der Rede auch darlegen.
Herr Minister, Sie haben eine sehr wesentliche Aussage in Ihrer Rede getroffen, nämlich dass Deutschland seine Zusagen einhält. Das ist ein Maßstab für alle Diskussionen und Entscheidungen auch in der Vergangenheit, weil wir - das bezieht sich nicht nur auf die christlich-liberale Koalition, sondern auch auf die Vorgängerregierungen - uns dazu verpflichtet haben, in Afghanistan gemeinsam einen Prozess zu initiieren und auf den Weg zu bringen, der zur Stabilisierung eines durch 30 Jahre Bürgerkrieg zerrütteten und fragmentierten Landes beiträgt.
Lieber Kollege Erler, Sie haben mit Recht auf die Implementierung der neuen Strategie vor sechs Monaten hingewiesen. Gleichzeitig monieren Sie, dass es nach diesen sechs Monaten noch keine nachhaltigen Erfolge gibt.
Nach meinem zeitlichen Verständnis ist es beim besten Willen nicht möglich, zwischen dem Zeitraum von sechs Monaten und Nachhaltigkeit eine Verbindung herzustellen.
Wir haben versucht, durch die Maßstäbe der neuen Strategie die internationale Gemeinschaft und die Afghanen in die Lage zu versetzen, auf einer Grundlage, die am Ende der Reise in einen politischen Prozess mündet, endlich neue Weichen zu stellen. Ich glaube, niemand von der Bundesregierung und auch von der internationalen Gemeinschaft hat bisher einen Zweifel daran gelassen, dass eine militärische Lösung dieses Konflikts allein nicht möglich ist. Darüber besteht, wie ich glaube, ein breiter Konsens auch hier im Hause. Deswegen waren die Punkte, die der Minister vorgetragen hat, nämlich Übergabe in die Verantwortung Afghanistans, eine verstärkte Dezentralisierung und Einmündung in einen - ich möchte hier gerne noch etwas draufsetzen - dauerhaften institutionalisierten politischen Prozess in Afghanistan, der richtige Weg.
Aber wir müssen der internationalen Gemeinschaft jetzt erst einmal die Zeit geben, diese Strategie umzusetzen. Natürlich gibt es Erfolge. Ich glaube, dass ein wesentlicher Aspekt zur Übergabe in Sicherheitsverantwortung die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte ist. Die Bundesrepublik Deutschland wird noch in diesem Jahr damit beginnen, auch hier einen wesentlichen Beitrag zu leisten. Sie können davon ausgehen, dass das die einzige Möglichkeit ist, die afghanischen Sicherheitskräfte auf den richtigen Weg zu bringen.
Ich hatte vor wenigen Tagen die Möglichkeit, mir anzuschauen, was bereits im Süden und im Osten des Landes getan wird. Es gibt auch dort Erfolge. Es gibt Regionen, in denen die afghanischen Sicherheitskräfte die Verantwortung für die Stabilisierung übernommen haben. Sie können und tun das. Deswegen ist die Ankündigung des Bundesaußenministers, dass wir es in diesem Jahr schaffen werden, Regionen in Afghanistan in die Verantwortung zu übergeben, keine Illusion; vielmehr wird das Realität werden.
Viele Kolleginnen und Kollegen, die vor Ort waren, wissen, dass die afghanische Bevölkerung darauf hofft, dass endlich Frieden einkehrt. Auch wir in der internationalen Gemeinschaft hoffen, dass in der Region endlich Frieden einkehrt. Deshalb ist es wichtig, die Bundesregierung und Außenminister Westerwelle dabei zu unterstützen, genau diesen politischen Prozess jetzt mit Nachdruck auf den Weg zu bringen.
Ich hoffe nicht, lieber Kollege Erler - Sie haben die Konfliktlage in der Vergangenheit immer sehr konstruktiv und auch sehr sachlich analysiert -, dass das, was Sie heute vorgetragen haben, sozusagen die erste Absetzbewegung von unserem gemeinsamen Engagement in Afghanistan ist. Sie haben selbstverständlich recht, dass wir immer wieder evaluieren müssen. Deswegen finde ich es richtig und gut, dass die Bundesregierung heute, vor der Afghanistan-Konferenz, dem Parlament und der Öffentlichkeit noch einmal eine Einschätzung über die Lage abgibt,
damit wir wissen, auf welcher Grundlage die zukünftigen politischen Aktivitäten erfolgen. Ich wünsche mir sehr, lieber Herr Erler - das sage ich gerade in Richtung der Sozialdemokraten -, dass wir den gemeinsamen Konsens, dass wir die Lage in Afghanistan nicht sich selbst überlassen können -
wir haben uns gegenüber der afghanischen Bevölkerung committed und wissen, dass es ein sehr schwieriger Prozess ist -, nicht aus innenpolitischen Erwägungen heraus aufs Spiel setzen, sondern gemeinsam in diese Richtung gehen.
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal darauf hinweisen: Wir sind auf einem Weg, der vernünftig ist. Wir sind auf einem Weg, der machbar ist. Wir sind auf einem Weg, der Geduld braucht, der Zeit braucht, der Engagement braucht.
Ich darf mit dem gleichen Satz noch einmal schließen: Deutschland hat sich verpflichtet, und Deutschland hält seine Zusagen.
- Lieber Kollege Ströbele, ich glaube, ich habe das eben gesagt.
Ich habe gesagt, dass diese Ansinnen der Friedensjirga ernst genommen werden, dass dies ein Prozess innerhalb der internationalen Gemeinschaft ist, dass wir versuchen müssen, herauszufinden, was sich in Konsequenz auf das Eingehen auf diese Forderungen für uns alle ergibt. Wenn wir zu dem Ergebnis kommen, dass dies ein Weg sein könnte, um die politische Lösung auf den Weg zu bringen, werden wir uns in der internationalen Gemeinschaft abgestimmt auf die Forderungen der Friedensjirga einlassen oder weiter darüber verhandeln.
Ganz herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat der Kollege Frithjof Schmidt von Bündnis 90/Die Grünen.
Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Außenminister, wir teilen mit Ihnen das Anliegen der internationalen Gemeinschaft, eine politische Lösung für Afghanistan zu erreichen. Wir sind jetzt seit neun Jahren in Afghanistan im internationalen Einsatz. Die Dilemmata des Engagements sind größer als je zuvor. Deswegen sage ich: Umso wichtiger sind offene Worte dazu.
Wir reden hier über eine politische Lösung, deren Kern eine Machtteilung mit den wichtigsten bisherigen Gegnern sein wird. Eine solche Lösung wird von Präsident Karzai angestrebt; er hat dafür die Rückendeckung der von ihm organisierten Friedensjirga erhalten. Dabei geht es um Verhandlungen mit nichtdemokratischen Kräften. Wir wissen: Da werden auch Kompromisse vorbereitet, die in demokratischer und menschenrechtlicher Hinsicht hochproblematisch sind.
Wir reden dabei über rote Linien. Zugleich wissen wir, dass Herr Karzai unter diesen roten Linien offensichtlich etwas anderes versteht und verstehen wird als vermutlich alle hier im Saal.
Vieles davon - ich sage das etwas gequält - wird bei einer politischen Lösung wahrscheinlich unvermeidbar sein. Aber Wahrhaftigkeit und Klarheit beim Ansprechen dieser Dilemmata sind unverzichtbar.
Ich sage Ihnen: Die Menschen in Deutschland und in Afghanistan werden diese Politik nicht akzeptieren, wenn wir ihnen nicht reinen Wein einschenken und nicht offen über die hässlichen Seiten reden, die diese Kompromisse notwendigerweise haben werden. Herr Außenminister, bei allem Verständnis für die Zwänge Ihres Amtes: An dieser Stelle haben Sie mich heute enttäuscht; da hätte ich mir klarere Worte gewünscht.
Ein weiteres Dilemma betrifft die internationalen Rahmenbedingungen. Auch dazu muss man klare Worte sagen. Wir alle wissen: Der internationale Militäreinsatz in Afghanistan wird in den nächsten Jahren enden. Einige unserer wichtigsten Partner haben bereits entschieden: Die USA wollen 2011 mit einem Abzug beginnen; der neue britische Premierminister hat angekündigt, dass 2015 der letzte britische Soldat abgezogen sein soll; unser westlicher Nachbar, die Niederländer, verlassen bereits dieses Jahr das Land; nächstes Jahr gehen die Kanadier; für unseren östlichen Nachbar hat der neue polnische Präsident erklärt, er wolle bis 2012 den Abzug der 2 600 polnischen Soldaten aus dem Norden komplett vollziehen. All das verändert auch die Lage der Bundeswehr und ihres Einsatzes; das muss einmal klar angesprochen und bilanziert werden.
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist in den letzten Monaten nicht besser geworden. Die jüngsten Veröffentlichungen der Vereinten Nationen attestieren eine massive Zunahme militärischer Gewalt. Seit 2009 hat sich die Zahl der Straßenbomben fast verdoppelt; die Zahl der Selbstmordattentate hat sich sogar verdreifacht. Die Militäroperationen im Süden, die auch dagegen Abhilfe schaffen sollten, liegen zudem im Zeitplan weit zurück.
Meine Damen und Herren von der Koalition, ein abgestimmtes Konzept der Bundesregierung, wie man mit dieser Situation und diesen Dilemmata - ich räume ausdrücklich ein, dass es sie gibt - umgehen will, ist nicht wirklich erkennbar.
Da hören wir auf der einen Seite Sie, Herr Außenminister. Sie sprechen heute hier, aber auch in der Zeit von einer Abzugsperspektive, die in den nächsten drei Jahren erarbeitet werden soll. Danach, 2014, soll die Übergabe eigentlich schon in vollem Umfang abgeschlossen sein. Dann ist da Herr zu Guttenberg, der kein konkretes Abzugsdatum nennen will. Stattdessen spekuliert er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung darüber, dass
?einer der größeren oder der größte Bündnispartner aus welchen Gründen auch immer beschleunigt Afghanistan verlässt ?
Er schließt also nicht aus, dass die USA viel schneller gehen als angekündigt. In dem Fall will er nicht derjenige sein, der - so wörtlich - ?alleine und verlassen das Licht ausmacht?. Dann spekuliert er über den Einsatz von Geheimdiensten und Special Forces in Afghanistan nach einem plötzlichen Abzug von ISAF. Das ist doch keine seriöse Planungsdebatte in der Regierung.
Ich kann Sie nur fragen: Ist Ihnen eigentlich klar, wie viel Unsicherheit Sie mit solch einem Regierungsgerede bei den zivilen und militärischen Einsatzkräften vor Ort stiften? Es ist nicht in Ordnung, dass Sie die Planungsdebatte - dann auch noch in der Öffentlichkeit - so zelebrieren.
Meine Herren Minister, legen Sie endlich unter Ihnen abgestimmte und konkrete Schritte zu einem Abzugsplan vor, die Orientierung geben, oder schweigen Sie lieber!
Auch bei unseren zivilen Anstrengungen stehen wir vor großen Problemen. Wir alle sind uns einig, dass wir den zivilen Aufbau beschleunigen müssen und die Aufgaben eigentlich mehr Mittel erfordern. Das wurde auf der Londoner Konferenz auch beschlossen. Bis zu 50 Prozent der Mittel sollen danach in Zukunft direkt an die afghanische Regierung ausgehändigt werden. Jetzt haben wir aber erfahren müssen, dass viele der bisher gezahlten Gelder nicht ausgehändigt, sondern ausgeflogen werden. Über 4 Milliarden Dollar in bar sollen in den letzten drei Jahren kistenweise von korrupten Eliten aus dem Land geschafft worden sein. Deswegen sage ich: Die 50-Prozent-Vereinbarung von London darf so nicht umgesetzt werden.
Auch dies sollten Sie in Kabul klarmachen.
Studien haben deutlich gemacht: In unsicheren Provinzen bringt die Entwicklungszusammenarbeit keine nachhaltigen Erfolge. Sie führt auch nicht zu einer positiveren Einstellung der Bevölkerung gegenüber den ausländischen Truppen. Deshalb sollte der zivile Wiederaufbau vor allem in den friedlichen Provinzen konzentriert vorangetrieben werden.
Herr Außenminister, ich hätte mir eine Regierungserklärung gewünscht, die diese Dilemmata offen benennt und eine nicht ganz angenehme Wahrheit klar ausspricht: Auf der Kabuler Konferenz geht es nicht mehr in erster Linie darum, was eigentlich notwendig wäre, sondern es geht politisch um die Frage, was wir angesichts der komplizierten Lage und der kurzen verbleibenden Zeit noch erreichen können.
Nur wenn man dieser Wahrheit ins Auge schaut - bei Ihnen ist nicht klar geworden, ob Sie das so sehen -, kann man einen realistischen Weg zur Übergabe in Verantwortung und auch zum Abzug in Verantwortung beschreiben. Ich wünsche Ihnen hier zukünftig mehr Mut zum offenen Wort, Herr Westerwelle.
Meine Damen und Herren, wir erwarten von der Kabuler Konferenz, dass man dort auf diese teilweise unerfreulichen Realitäten eingeht. Sie muss die Leerstellen der Londoner Konferenz füllen und einen Aufbauplan mit klaren Zwischenzielen vorlegen. Ja, wir wollen ein klares Bekenntnis der internationalen Gemeinschaft zu einer politischen Lösung. Dabei müssen auch die Ergebnisse der Friedensjirga in Afghanistan einbezogen werden. Aber ich sage auch: Die internationale Gemeinschaft muss auf die Einhaltung roter Linien bei Menschen- und Frauenrechten achten
und bei diesem Thema gegebenenfalls auch den Konflikt mit der Regierung Karzai suchen.
Sie muss auch eigene militärische Aktivitäten, die das Erreichen einer politischen Lösung schwieriger machen, überdenken. Gezielte Tötungen von Aufständischen, die auf einer Art schwarzer Liste stehen, gehören mit Sicherheit dazu. Sie sind inakzeptabel und kontraproduktiv.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Abschluss wollte ich eigentlich sagen, dass ich über die Signale aus den Koalitionsfraktionen, bei der Evaluierung gemeinsam vorzugehen, positiv überrascht war. Wir haben auch schon Gespräche darüber geführt. Jetzt war ich allerdings etwas negativ überrascht, dass Sie, Herr Schockenhoff, es so dargestellt haben, als hätten wir überhaupt keine Einigung über Zwischenschritte erzielt.
Wir waren uns eigentlich einig, was zu tun ist. Es gab zwei Modelle, wie man, gegebenenfalls im Rahmen eines Parlamentsgremiums, vorgehen kann. Diese zwei Modelle wollten wir prüfen. Heute haben Sie es allerdings so dargestellt, als wollten wir uns nicht mit Ihnen einigen.
Da kann ich Ihnen nur sagen: Nein. Wir würden mit Ihnen gerne noch einmal über die Modelle, die auf dem Tisch lagen und die wir noch vorgestern gemeinsam prüfen wollten, sprechen. Das, was wir in der Debatte vor zwei Wochen erlebt haben, wollen wir Ihnen nicht durchgehen lassen. Da haben Sie nämlich gesagt: Die Evaluierung ist gut und wichtig, aber wir fangen damit erst in einem Jahr an. - Erst in einem Jahr damit anzufangen, wäre viel zu spät. Das darf nicht sein.
Die Lehren aus dem bisherigen Einsatz müssen gezogen werden. Das ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass ein Abzug in Verantwortung - ich glaube, das ist unser gemeinsames Anliegen - überhaupt gelingen kann. Deswegen sage ich: Lassen Sie uns noch einmal über dieses Thema sprechen.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat der Kollege Holger Haibach von der CDU/CSU-Fraktion.
Holger Haibach (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte gern an das anschließen, was der Kollege Schmidt gesagt hat. Erstens. Ich glaube, durch den Beitrag des Kollegen Schockenhoff ist deutlich geworden, dass wir uns einer Evaluation des Einsatzes - diese erachten wir für notwendig - nicht verschließen. Es muss aber ganz klar sein, was Beratung und was Entscheidung ist. Die Entscheidung wird am Ende - da hilft ein Blick in das Gesetz - hier gefällt.
In keiner Sekunde darf der Eindruck in der Öffentlichkeit entstehen, als würden wir die Entscheidung an irgendwelche Außenstehende - und seien sie noch so gut und erfahren - abgeben. Deswegen muss hier eine ganz klare Linie gezogen werden.
Zweitens. Ich möchte auf das Gesamtbild des deutschen Einsatzes und das, was Herr Westerwelle und der Bundesverteidigungsminister gesagt haben, zu sprechen kommen. Ich habe das, was der Bundesverteidigungsminister veröffentlicht hat, so verstanden, dass er darüber nachgedacht hat, was eventuell andere, was Verbündete machen könnten. Das ist legitim und aus meiner Sicht extrem notwendig; denn wenn ein anderer Staat, der zusammen mit uns dort militärisch handelt, seine Truppen früher abziehen sollte, als er das bisher öffentlich verlautbart hat, dann hätte das Konsequenzen für unser Handeln.
Deswegen finde ich es richtig, sich rechtzeitig darüber Gedanken zu machen.
Drittens. Herr Kollege Schmidt, Sie haben darauf rekurriert, was möglicherweise im Süden passieren wird. Sie haben es vielleicht nicht gehört, aber die Kollegin Hoff hat zu Recht dazwischengerufen: Im Süden ist die Bundeswehr nicht tätig. - Wir können zwar unseren Partnern Vorschläge machen, wie sie vorgehen sollen. Aber wir werden die Strategie dort nicht bestimmen können. Deshalb sollten wir die Debatte über unseren deutschen Einsatz führen.
Ich möchte klarmachen - auch weil sehr viele Zuschauer auf der Tribüne sitzen -, dass es sehr viel Schwarz-Weiß-Malerei in der öffentlichen Debatte über dieses Thema gibt. Ich möchte Ihnen - mit Zustimmung des Präsidenten - aus der Berliner Zeitung vom 3. Juli 2010 zitieren. Dort schreibt Steffen Hebestreit:
?In Deutschland gibt es ein völlig verzerrtes Bild von Afghanistan.? Bei einer Reise durch Afghanistan kann man diesen Satz vielfach hören - vom deutschen Botschafter in Kabul, von Polizeiausbildern aus Erkrath, Bundeswehr-Obersten aus Hadamar, Entwicklungshelfern aus Österreich, afghanischen Ministern und von vielen einfachen Soldaten. Immer wieder. ?Afghanistan?, beschwert sich einer, ?ist in den Medien immer nur Bürgerkrieg, Zerstörung, Korruption und Verzweiflung.?
Auch daran müssen wir denken, wenn wir hier diskutieren. Afghanistan ist nicht heile Welt, aber auch nicht die Katastrophe, zu der es immer gemacht wird. Deswegen ist es wichtig - in dem Punkt hat der Kollege Schmidt recht -, dass die Konferenz in Kabul, wie Sie das genannt haben, die Leerstellen füllt, die in London übrig geblieben sind. Ich habe, ehrlich gesagt, diese Konferenz auch nie anders verstanden. Es geht darum, zu operationalisieren und aus den Grundlagen, die in London gelegt wurden, ein vernünftiges Gesamtkonzept zu machen und dieses mit Leben zu füllen. Dabei ist es wichtig, dass wir den afghanischen Staat in militärischer, justizieller und rechtsstaatlicher, aber auch in wirtschaftlicher Hinsicht dazu befähigen, das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Dazu gehört der Aufbau entsprechender Strukturen. Das wird schwierig genug.
Ich möchte die Gelegenheit auch nutzen, um ein kleines Warnzeichen zu setzen. Die Bundesregierung und das Parlament haben - aus meiner Sicht: zu Recht - die Mittel für den Wiederaufbau in Afghanistan nahezu verdoppelt. Ich halte das für das richtige Zeichen, weil wir in dieser schwierigen Zeit diese Mittel brauchen werden. Aber es gibt drei Punkte, bei denen wir aufpassen müssen. Der erste Punkt ist das Thema Veruntreuung; darüber wurde schon gesprochen. Dem muss nachgegangen werden. Das muss mit aller Härte verfolgt werden. Der zweite Punkt ist die Korruption. Seit 2007 hat sich die Korruption in Afghanistan verdoppelt. Der Umfang der Korruption lag im Jahr 2009 bei etwa 1 Milliarde Dollar. Der dritte Punkt ist die Entwicklungszusammenarbeit, auf der sehr viele Teile des Konzepts fußen. Entwicklungszusammenarbeit ist langfristig angelegt und kann kurzfristig keine Erfolge zeitigen und erst recht nicht Dinge wiedergutmachen, die in der Vergangenheit nicht so gut gelaufen sind.
Insofern warne ich davor, der Entwicklungszusammenarbeit all das aufzubürden, was in den vergangenen Jahren schiefgelaufen ist, und die Erwartungshaltung zu haben, mit mehr Geld werde man innerhalb von einem Jahr oder zwei Jahren die Dinge so radikal verändern, dass es vorangeht. Die Entwicklungszusammenarbeit wird es in Afghanistan aber auch nach Beendigung der internationalen Militärpräsenz noch lange geben.
Deswegen ist es richtig, dass wir mit dem Afghanistan-Konzept auch die Schwerpunkte unserer künftigen Arbeit vorgelegt haben. Das sind: der Aufbau einer vernünftigen Struktur in ländlichen Regionen, der Aufbau von Infrastruktur, der Aufbau von Verwaltung, der Aufbau von wirtschaftlichen Strukturen und - last, but not least - der Polizeiaufbau, unsere Kernaufgabe, wo noch viel zu tun ist, wie wir alle wissen. Das alles muss gemacht werden, und dafür bedarf es auf der afghanischen Seite aber auch Strukturen, innerhalb derer das alles kompensiert und aufgenommen werden kann. Hier scheint es mir sehr wichtig zu sein, dass wir eine vernünftige Balance finden zwischen dem, was auf der gesamtstaatlichen Ebene, und dem, was auf regionaler und lokaler Ebene gemacht werden kann.
Der Kollege Schmidt hat gerade gesagt, die Übereinkunft von London, nach der 50 Prozent der Gelder durch die staatlichen Strukturen in Kabul und 50 Prozent in anderer Weise verausgabt werden sollen, dürfe auf keinen Fall eingehalten werden. Ich stimme Ihnen hier durchaus zu, aber ich hätte mir gewünscht, Sie hätten das vorher gesagt. Ich frage mich die ganze Zeit, was passiert wäre, wenn sich einer von uns hier hingestellt und vor dieser Debatte so etwas verkündet hätte.
Es gibt hier sicherlich eine durchaus berechtigte Reservation, aber es gibt natürlich auch ein Problem: Wenn wir das nicht so machen, dann delegitimieren wir zumindest in den Augen der afghanischen Bevölkerung deren eigene Machthaber. Da Sie schon über Dilemmata reden: Das ist ein Dilemma, über das man an dieser Stelle eben auch reden muss. Das ist nicht ganz so einfach zu lösen. Ich glaube, darüber müssen wir alle uns im Klaren sein.
Letztendlich - auch darauf will ich noch hinweisen - haben wir bei aller Freude über mehr Geld gesehen, dass der Mittelabfluss - dabei geht es nicht um die Bereitstellung von Mitteln, sondern um die Strukturen, innerhalb derer sie aufgenommen werden - durchaus nicht immer dem entsprochen hat, was wir uns eigentlich gewünscht haben. Es gibt Untersuchungen darüber - das habe ich hier auch schon einmal gesagt -, dass bei afghanischen Ministerien 13 Prozent bis 70 Prozent der internationalen Gelder abfließen. Der Durchschnitt liegt bei 40 Prozent. Das bedeutet mit anderen Worten: Allein mit mehr Geld - damit komme ich wieder auf den Aufbau von Strukturen zurück - wird man das Problem am Ende nicht lösen können.
Es geht letztendlich eben auch darum, dass Afghanistan nicht nur politisch, militärisch und justiziell, sondern auch wirtschaftlich in die Lage versetzt wird, die Lösung seiner Aufgaben selbst in die Hand zu nehmen. Wir alle wissen zum Beispiel, dass sich China seit langer Zeit dort betätigt und sehr stark im Kupferabbau tätig ist. Es geht aber natürlich darum - das ist ja in allen Entwicklungsländern wichtig, aber aufgrund der Verhältnisse in diesem Fall noch viel wichtiger -, dass Wertschöpfung in dem Land stattfindet, in dem auch die Rohstoffe vorhanden sind.
Deswegen ist es eine unserer Aufgaben, sich speziell darum zu kümmern, es ist aber auch wichtig, dass wir der afghanischen Seite klarmachen, dass das nach vernünftigen Standards zu geschehen hat. Deshalb bin ich sehr froh, dass sich Afghanistan jetzt bemüht, die Standards der Extractive Industries Transparency Initiative - EITI - zu implementieren; denn das ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass wirtschaftliches Handeln unter rechtsstaatlichen Bedingungen stattfindet.
Es ist wichtig, dass von dieser Konferenz nicht nur ein Signal dafür ausgeht, dass die internationale Gemeinschaft bereit ist, die Realitäten in dem Land anzuerkennen, und dass wir bereit sind, alles zu tun, was notwendig ist, um in Afghanistan voranzukommen, sondern es ist eben auch wichtig, dass die afghanische Seite zeigt, dass sie bereit ist, ihren Teil dazu beizutragen, einen vernünftigen Wiederaufbau in Afghanistan zu erreichen.
Danke sehr.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Als nächster Redner hat der Kollege Johannes Pflug von der SPD-Fraktion das Wort.
Johannes Pflug (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Minister, als ich Sie heute Morgen im Deutschlandradio und im ARD-Morgenmagazin gehört habe, hatte ich gleich die Befürchtung, dass das eintreten würde, was wir hier auch tatsächlich erlebt haben, nämlich eine Regierungserklärung nach dem Motto: Business as usual - alles wird gut in Afghanistan.
Ich muss Ihnen sagen, verehrte Frau Kollegin Hoff und verehrte Kollegen von den Koalitionsfraktionen: Der Tenor Ihrer Reden ging in dieselbe Richtung. Deshalb möchte ich gerne versuchen, Ihnen zu erklären, dass die Situation etwas anders ist, als es in dieser Regierungserklärung zum Ausdruck kam. Der Kollege Schmidt hat das aufgegriffen.
Ende 2009 haben die Japaner ihre logistische Unterstützung für die amerikanischen Schiffe eingestellt. Ende dieses Jahres werden die Niederländer ihren Truppeneinsatz in Afghanistan beenden; daran ist die niederländische Regierung zerbrochen. Die Polen haben angekündigt, dass sie 2012 ihre Truppen aus Afghanistan zurückziehen wollen. Das einzige konkrete Ergebnis vom G-20-Gipfel ist die Ankündigung von Herrn Cameron gewesen, dass die Briten bis 2015 ihre Truppen zurückziehen werden.
Von den Amerikanern wissen wir, dass sie 2011 mit dem Truppenabzug beginnen wollen. Wenn ich mich richtig erinnere, ist das auch unsere Beschlusslage. Denn sicherlich glaubt auch niemand von Ihnen, dass wir noch in Afghanistan sein werden, wenn die Amerikaner das Land verlassen haben. Nun kann man darüber spekulieren: Werden sie wirklich gehen? In welcher Größenordnung werden sie gehen? Nur, wenn wir das nicht wissen, dann ist es Aufgabe der Regierung, die Amerikaner zu fragen: Was habt ihr in Afghanistan eigentlich vor? Wann wollt ihr mit dem Abzug beginnen? Welche Strategie habt ihr? Welche Rolle habt ihr für uns vorgesehen?
Aber man kann nicht so tun, als könnte man unabhängig von den Amerikanern dort weiter dieselbe Politik betreiben wie in der Vergangenheit - business as usual. Ich will einige Daten nennen. Am 1. Dezember hat Barack Obama in seiner Rede in West Point angekündigt, dass er nun die Strategie in Afghanistan ändern wolle und dass er nach einer vorübergehenden Erhöhung der amerikanischen Truppenstärke im Jahr 2011 mit dem Abzug beginnen wolle.
Dann haben wir alle auf die Konferenz in London am 28. Januar gewartet. Wir waren uns darin einig, dass von dieser Konferenz ein wichtiges Signal ausgehen müsse, weil in den nächsten beiden Jahren unter Berücksichtigung des angekündigten Truppenabzugs der Amerikaner in Afghanistan Entscheidendes passieren müsse.
Dann hat die Konferenz in London stattgefunden, und es sollte eine Follow-up-Konferenz geben, nämlich die Kabuler Konferenz, über die wir gerade reden. Die Kabuler Konferenz ist von Herrn Präsidenten Karzai zweimal verschoben worden. Sie sollte erst im April und dann im Mai stattfinden. Nun soll sie am 20. Juli stattfinden. Karzai überlegt noch, sie vielleicht auf den 27. Juli zu verschieben.
In der Zwischenzeit hat zwar die sogenannte Friedensjirga stattgefunden, die Sie angesprochen haben; Insider sagen aber: Das ist eine Showveranstaltung für Karzai gewesen. Etwas Operationales ist aber bei dieser Konferenz nicht herausgekommen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Pflug, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hoff?
Johannes Pflug (SPD):
Bitte sehr.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bitte schön, Frau Hoff.
Elke Hoff (FDP):
Sehr geehrter Herr Kollege, sind Sie bereit, anzuerkennen, dass der amerikanische Präsident in seiner Rede im Dezember gesagt hat, man wolle mit einem Abzug von Truppen in 2011 beginnen, wenn es denn die Situation in der Region und auf dem Boden zulässt?
Johannes Pflug (SPD):
Frau Kollegin Hoff, daran habe ich doch keinen Zweifel.
Aber glauben Sie, dass der amerikanische Präsident 2012 in den Vereinigten Staaten den Präsidentschaftswahlkampf führen möchte, wenn seine Truppen in Afghanistan in die heftigsten Kämpfe verwickelt sind? Er hat doch genügend innenpolitische Probleme. Gehen Sie davon aus: Der meint das ernst.
Er wird sicherlich versuchen, bis 2011 die Sicherheitslage in Afghanistan zu verbessern, und zwar durch entsprechende Offensiven, die auch angekündigt waren, aber verschoben worden sind. Es hat eine Offensive in Helmand stattgefunden. Die für Kandahar und Helmand Valley angekündigten Offensiven sind bisher verschoben worden. Der amerikanische Präsident wird 2011 den Eindruck vermitteln, dass sich die Sicherheitslage mittlerweile entsprechend verbessert hat, und dann wird er uns und die anderen bitten, sich entsprechend zu beteiligen.
Glauben Sie bloß nicht, dass Sie darauf verweisen können: Der Deutsche Bundestag hat verschiedene Beschlüsse gefasst mit dem Inhalt: Wir sind nicht dabei. - Man wird von uns einen Beitrag erwarten. Herr Minister, deshalb müssen Sie fragen: Was haben die Amerikaner vor? Wie wird die bisherige Strategie beurteilt? Was hat Petraeus in Afghanistan vor? Welche Rolle sollen die deutschen Truppen spielen? Es geht doch nicht an, dass man einfach so tut, als könnten wir weiter vor uns hin wursteln.
Frau Kollegin Hoff, Sie haben gefragt: Sind das, was von Herrn Erler kam, vorsichtige Absetzbewegungen gewesen? Ich kann Ihnen dazu nur sagen: Nein! Wir stehen in der Kontinuität und werden auch weiterhin in dieser Kontinuität stehen, aber nur dann, wenn wir den Eindruck haben, dass Ihre Augen offen sind und Sie die Lage mit uns auch realistisch beurteilen. Sonst hat das keinen Sinn. Sonst müssen wir von uns aus die Konsequenzen ziehen und versuchen, von unserer Seite aus eine entsprechende Strategie zu entwickeln.
Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung ist gegen den Afghanistan-Einsatz. Und wenn Sie ehrlich in Ihre Fraktion und in die anderen Fraktionen hineinfragen, dann werden Sie feststellen, dass insbesondere bei den neueren Kolleginnen und Kollegen eine große Skepsis besteht und sie große Zweifel haben.
Bisher haben wir die Kontinuität durchhalten können, weil unsere Politik erklärbar war. Erklärbar ist sie dann, wenn sie politisch und moralisch zu rechtfertigen ist. Die moralische Rechtfertigung endet aber spätestens dann, wenn mit dem Einsatz deutscher Soldatinnen und Soldaten nur noch der Status quo gehalten werden kann oder die Sicherheitslage sich sogar permanent verschlechtert. Genau das schildern unsere Geheimdienste in den Lageberichten. Es werden Kisten mit Geld außer Landes gebracht, aber wir sollen weiter finanzieren. Das kann doch alles nicht wahr sein!
Deshalb, verehrter Herr Minister Westerwelle - das richtet sich an die ganze Regierung -, kann ich Ihnen nur raten: Greifen Sie den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen und SPD auf - darin haben wir Vorschläge zur Evaluierung der Afghanistan-Politik gemacht -, aber bitte in dem Sinne, dass die realpolitische Situation zeitlich, quantitativ und qualitativ evaluiert wird und dass das kein Beschäftigungsprogramm für künftige Wissenschaftlergenerationen wird.
Wir haben auf ein Zeichen von Ihnen gewartet. Das ist ausgeblieben, obwohl Sie es vorher signalisiert haben. Aber das ist die einzige Chance, um in den nächsten zwei Jahren vielleicht doch noch zu einem halbwegs vernünftigen Ende zu kommen.
Schönen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Bijan Djir-Sarai von der FDP-Fraktion.
Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Kabuler Konferenz ist der nächste wichtige Schritt auf dem Weg Afghanistans zur Übergabe in Verantwortung. Es ist die erste internationale Konferenz über Afghanistan, die auch tatsächlich in Afghanistan stattfindet. Und das ist auch gut so. Es ist ein bedeutendes, positives Signal, dass die Probleme Afghanistans auch nur in Afghanistan gelöst werden können.
Auf dieser Konferenz werden - das ist vorhin schon mehrmals gesagt worden - die Themen Sicherheit, gute Regierungsführung, Korruptionsbekämpfung, die weitere wirtschaftliche Entwicklung des Landes und das Thema Reintegration eine zentrale Rolle spielen.
Ich möchte eines bereits an dieser Stelle ganz deutlich machen - gerade weil Kollegen in diesem Haus so fleißig Entschließungsanträge zu diesem Thema schreiben -: Es ist natürlich wichtig, was auf der Konferenz passiert. Es ist aber noch wichtiger, wie wir - und vor allem die Afghanen selbst - mit den Ergebnissen dieser Konferenz später umgehen werden. Es ist wichtig, dass nach der Konferenz eine rasche und konkrete Umsetzung der Ergebnisse stattfindet.
Wir alle wussten und wissen, dass der Weg zur Übergabe in Verantwortung hart und steinig sein wird. Verletzungen der Menschenrechte, die Zerstörung der Infrastruktur, Drogenökonomie und Korruption erschweren immer wieder die angestrebten Veränderungen in Afghanistan.
In diesem Zusammenhang muss mit Unterstützung der internationalen Gemeinschaft weiter an starken, verlässlichen Regierungsinstitutionen und funktionierenden öffentlichen Verwaltungen auf allen Ebenen gearbeitet werden. Ebenfalls muss nach wie vor über den richtigen Weg der Versöhnung in Afghanistan gesprochen werden. Das ist die wohl größte Herausforderung, vor der wir alle zusammen stehen.
Meiner Meinung nach kann die Lösung dieses Problems in dieser Phase nur Reintegration heißen. Das ist auch ein Punkt, der in der aktuellen internationalen Strategie aufgeführt ist. Reintegration kann nur erfolgen, wenn alle Akteure eng zusammenarbeiten - die afghanische Bevölkerung und die internationale Gemeinschaft. Afghanistan muss auf kultureller, politischer und wirtschaftlicher Ebene gestärkt werden. Nur so werden wir dort Vertrauen und Zuversicht vermitteln können.
Reintegration ist eine große Chance für die Stabilisierung von innen heraus. Das ist ein wichtiges Moment der gesamten Strategie. Darüber müssen wir uns alle im Klaren sein.
Wenn man über die Kabuler Konferenz diskutieren will, so muss man ebenfalls über die Londoner Konferenz und die damit verbundenen Ergebnisse diskutieren. Mit der Londoner Konferenz ist ein Strategiewechsel eingeleitet worden. Dabei wurde der zivile Aufbau noch stärker forciert, der Schutz der afghanischen Bevölkerung in den Mittelpunkt gestellt und die Ausbildung der Sicherheitskräfte verstärkt. Im Nachgang der Londoner Konferenz hat die Bundesregierung entschieden, die Haushaltsmittel für Entwicklungszusammenarbeit zu erhöhen. Die Erfolge sind in Afghanistan sichtbar. Ob es die Übergabe von Schulen ist, die Einweihung eines Ausbildungszentrums oder einer Polizeiwache, ob es Programme für Infrastrukturverbesserung oder zum Bau von Krankenhäusern sind - eines wird deutlich: Wir wollen und werden den zivilen Aufbau in Afghanistan weiter intensiv unterstützen.
Dafür brauchen wir weiterhin die Bundeswehr dort. Sie macht diese positive zivile Entwicklung überhaupt erst möglich. Eine stabile Sicherheitslage ist und bleibt die wichtigste Voraussetzung für den Erfolg ziviler Projekte.
- Fahren Sie einmal nach Afghanistan, schauen Sie sich das an! Nehmen Sie diese Mühe auf sich, und informieren Sie sich vor Ort! Das ist in der Tat so. - Unsere Soldatinnen und Soldaten können stolz darauf sein, dass aufgrund ihres Einsatzes die positive Entwicklung in Afghanistan erst möglich wird.
Für ihren schweren und gefährlichen Einsatz in Afghanistan habe ich die höchste Wertschätzung und Anerkennung. Das muss an dieser Stelle an so einem Tag auch gesagt werden.
Wir dürfen uns nichts vormachen - auch das gehört zu einer solchen Debatte -: Eine Strategie, die die Präsenz in der Fläche verlangt, bei der die afghanischen Soldaten in der Praxis direkt von den internationalen Truppen lernen sollen, ist mit Risiken für die Soldatinnen und Soldaten verbunden. Die Taliban sollen durch die größere Sichtbarkeit, durch die stärkere Präsenz in der Fläche zurückgedrängt werden. Die Einheiten sind unterwegs nicht so gut geschützt wie in den Feldlagern. Sie sind also verwundbarer. Darauf müssen wir vorbereitet sein. Darauf müssen wir die Öffentlichkeit im eigenen Land ebenfalls ehrlich vorbereiten.
Es wäre allerdings ein Fehler, wenn wir uns jetzt festlegen und einen Termin des Abzuges bestimmen würden. Wir haben mit der internationalen Gemeinschaft einen Ansatz erarbeitet. Diesen Ansatz müssen wir durch unser Afghanistan-Mandat umsetzen. Unser Ziel muss es sein, schrittweise die Rückgabe in Verantwortung zu gestalten. Wir werden uns aber auch Gedanken machen müssen, was nach einem Abzug der internationalen Truppen kommen wird.
Nachsorgelemente werden notwendig sein. Sie müssen von langer Hand und sorgfältig geplant werden, um zu einem abschließenden Teil unserer Übergabe in Verantwortung zu werden. Eines muss klar sein: Wir dürfen dieses Land nie wieder Terroristen und Verbrechern überlassen, sonst würden wir einen Flächenbrand in der gesamten Region riskieren. Das wäre eine sehr gefährliche Entwicklung. Wir können auch nicht erst nach Verantwortung rufen, dann aber die Afghaninnen und Afghanen allein ihrem Schicksal überlassen. Das wäre ebenfalls ein sehr schlimmer Fehler.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat der Kollege Paul Schäfer von der Fraktion Die Linke.
Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe mich gefragt: Warum führen wir eigentlich jetzt, so kurz vor der Sommerpause, diese Debatte hier?
Denn wirklich Neues ist nicht gesagt worden.
Wenn darauf hingewiesen wurde, dass eigentlich nichts Neues gesagt wurde, hat man entgegnet: Es ist noch viel zu früh, um etwas Neues zu sagen. - Ich habe jetzt verstanden, worum es geht.
Es geht darum, noch einmal vor der langen Sommerpause der Bevölkerung das Mantra vorzutragen: Okay, wir sind in Afghanistan zwar in Schwierigkeiten, aber alles wird gut in Afghanistan. - Das ist das Mantra, die Beschwörungsformel. Dies scheint bitter nötig zu sein, weil gleichzeitig die Ankündigung erfolgt: Es wird in Afghanistan für unsere Soldatinnen und Soldaten einen harten, bitteren Sommer geben. Es geht hier also offensichtlich darum, für den Fall, dass uns solche Meldungen in den nächsten Wochen ereilen werden, die Lage in der Heimat zu stabilisieren.
Aber das Mantra wirkt nicht mehr. Nach neun Jahren NATO-Intervention in Afghanistan hat sich bei den meisten Menschen - nicht nur in Deutschland, sondern auf allen Kontinenten - die Erkenntnis durchgesetzt, dass Frieden in Afghanistan mit NATO-Truppen nicht erreicht werden kann.
Nach einer kürzlich vorgelegten aktuellen Umfrage in 22 Staaten auf allen Kontinenten - darunter USA, Deutschland, Frankreich, China und Indien - haben sich nur in einem Staat mehr als 50 Prozent der befragten Personen für den Verbleib der NATO-Truppen in Afghanistan ausgesprochen: in Kenia.
Ich bin angesichts dieser Debatte allerdings skeptisch, ob sich diese Erkenntnis, die in der Bevölkerung schon gereift ist, auch im Bundestag durchsetzen wird. Sie sind immer noch sehr darauf fixiert, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Ihre Devise lautet daher: Die NATO darf nicht scheitern. Es geht aber nicht um die NATO, die als Militärbündnis ihre Zukunft schon längst hinter sich hat. Es geht um eine Friedenslösung für Afghanistan.
Was SPD und Grüne anbetrifft, so ist zu sagen, beide Parteien kommen offensichtlich einfach nicht davon weg, dass sie den Afghanistan-Einsatz beschlossen haben. Deshalb müssen die Grünen die ISAF-Militärintervention in ihrem Entschließungsantrag immer noch als Teil einer politischen Lösung darstellen. Diese Militärintervention ist kein Teil der Lösung, sondern ein gravierender Teil des Problems!
Der neue ISAF-Kommandeur Petraeus hat zuletzt sehr markig verkündet: ?Wir sind hier, um zu siegen.? Liebe Kolleginnen und Kollegen, da kann einem wirklich angst und bange werden, weil es zeigt, dass das Denken in den militärischen Kategorien von Sieg und Niederlage ungebrochen ist. Der Herr meint tatsächlich, dass man das Blatt militärisch wenden kann. Man wird und kann es nicht militärisch wenden!
Die jüngste Entwicklung zeigt deutlich: Die NATO ist gescheitert, und auch mit ihrer sogenannten neuen Strategie wird sie scheitern. Die Zahlen sind genannt worden, sie liegen auf dem Tisch: Trotz weit über 120 000 Soldaten hat sich die Sicherheitslage verschlechtert. In diesem Jahr gab es 11 000 Angriffe, Gefechte und Anschläge. Pro Woche gibt es also mehr als 800 Vorfälle dieser Art. Das ist ein Rekordniveau.
Vor diesem Hintergrund finden wir es schlimm, dass nun auch die Bundeswehr im Norden aufrüstet. Weitere Schützenpanzer und Artillerie werden in Afghanistan stationiert. Die Luftkampffähigkeit wird intensiviert. Ich frage Sie ernsthaft: Wohin soll das führen?
Wenn man schon in der Klemme ist, scheut man sich auch nicht, sich mit fragwürdigen Alliierten zusammenzutun, etwa mit den lokalen Milizen, die jetzt in allen Regionen als Partner aufgewertet werden, obwohl sie das staatliche Gewaltmonopol untergraben.
Die schönen Pläne eines sauberen Krieges, der die Zivilbevölkerung schützt - Sie haben dieses Bild hier immer wieder transportiert - zerschellen einfach an der Realität. Allein in den letzten drei Monaten sind erneut mehr als 340 zivile Opfer zu beklagen. Wir trauern um diese Opfer. Wir trauern um die toten deutschen Soldaten, und wir trauern um die Opfer von Kunduz.
Was die Praxis der Aufstandsbekämpfung angeht, kann man nur sagen: Das steht einfach in diametralem Gegensatz zur Förderung von Reintegration und Aussöhnung. Wir hören von Menschenjagd, von verdeckten Kommandooperationen und von nächtlichen Hausdurchsuchungen. Angesichts dessen ist es kein Wunder, dass das Bundesministerium der Verteidigung vier Monate nach der Londoner Konferenz gerade einmal von sechs Taliban berichten kann, die im Norden ihre Waffen niedergelegt haben, während gleichzeitig allein bei einer US-Offensive im Norden mehr als 150 Aufständische getötet worden sind. Das fördert die Verhandlungsbereitschaft nicht.
Was die Korruptionsbekämpfung angeht, ist ebenfalls das Nötige gesagt worden. Ich erinnere an die Geldkoffer, die nach Dubai wandern.
Nur wer diese Realitäten ungeschminkt ins Visier nimmt, kann die richtige Antwort finden. Die richtige Antwort heißt unseres Erachtens, erstens, sofortiger Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan,
zweitens, alles daransetzen, ein Friedens- und Waffenstillstandsabkommen zu schließen. Statt Afghanisierung des Krieges ist Afghanisierung des Friedens angesagt.
Danke.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Florian Hahn von der CDU/CSU-Fraktion.
Florian Hahn (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Die Schreckensmeldungen über Kämpfe, Anschläge und Korruption in Afghanistan werden nicht weniger. Das haben wir heute schon einige Male festgestellt.
Diejenigen, die behaupten, das liege am Einsatz der internationalen Gemeinschaft, sind meines Erachtens auf der falschen Fährte. Vielmehr scheint es doch so zu sein, dass die neue Strategie wirkt und die Taliban sich entsprechend dagegen wehren. Beispielsweise haben die Taliban mit den Verhaftungen von Führern in Karatschi, Quetta und Peschawar Ende Januar und Anfang Februar dieses Jahres einen herben Schlag erlitten.
Die Operation ?Hamkari Baraye Kandahar? trifft die Taliban-Stadtguerilla sehr hart. Vorher hatte sie sich bereits in den meisten Vierteln der Stadt Kandahar als De-facto-Regierung etabliert. Das konnten wir auflösen. Die Taliban reagieren jetzt mit Mordversuchen, um sich so gegen ihre schwindende Macht zu wehren. Hier dürfen wir in unseren Anstrengungen nicht nachlassen.
Für unsere Truppen, für unsere Soldaten ist dies nicht ungefährlich.
Gerade auch vor diesem Hintergrund müssen wir uns noch einmal vor Augen führen, warum wir unsere Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan tagtäglich der Gefahr für Leib und Leben aussetzen. Afghanistan darf nicht wieder eine Organisationsplattform für den internationalen Terror werden, der dann auch Deutschland treffen könnte. Diese Gefährdung wäre um vieles größer, wenn die internationale Gemeinschaft das Land plötzlich und überhastet verlassen würde. Ja, der Einsatz ist gefährlich; er ist aber auch notwendig.
Die Rückschläge, die wir immer wieder hinnehmen müssen, dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir seit 2001 den Grundstein für einen neuen Staat Afghanistan und für viele gute Entwicklungen gelegt haben.
In einem so jungen Staat, in dem knapp die Hälfte der Bevölkerung jünger als 15 Jahre ist und rund zwei Drittel nicht älter als 24 Jahre sind, haben wir zu Recht viel Geld in die Bildung investiert. Allein in den letzten fünf Jahren konnten wir die Einschulungsquote von 37 auf 54 Prozent steigern. Die Alphabetisierungsrate der Jugendlichen hat im selben Zeitraum um 8 Prozentpunkte zugenommen. Das ist eine beachtliche Leistung - auch in Bezug auf das Ziel 2 der Millenniumserklärung, das da lautet, allen Kindern eine Grundschulausbildung zu ermöglichen. Hier dürfen wir ebenfalls nicht nachlassen. Bildung ist der Grundstein für Demokratie. Nur so ist es möglich, wirtschaftlichen Wohlstand zu erlangen und fanatischen Predigern die Stirn zu bieten.
Der Wahlkampf für die bevorstehenden Wahlen im September ist aktuell in vollem Gange. In Kabul hängen überall Plakate, und in vielen Städten haben die Kandidaten Wahlbüros eingerichtet. Es freut mich, zu sehen, dass das Interesse der Afghanen an den Wahlen hoch ist. Ich habe den Eindruck, dass eine große Anzahl der jungen Menschen ihre Vertreter im Parlament mitbestimmen will. Auf meiner Reise nach Afghanistan im März dieses Jahres habe ich einen jungen Afghanen kennen gelernt, der in Hamburg aufgewachsen ist und wieder in sein Heimatland zurückgekehrt ist. Bei den bevorstehenden Wahlen kandidiert er in Masar-i-Scharif. Es gibt also die Möglichkeit, dass sich die Bevölkerung hinter junge, unbelastete Kandidaten stellen kann.
Von der afghanischen Regierung erwarte ich an dieser Stelle allerdings, dass sie die Kontrollmechanismen der internationalen Gemeinschaft bei Wahlen uneingeschränkt zulässt. Ausgeglichene Startbedingungen sind zwar für uns eine Selbstverständlichkeit; in Afghanistan scheinen wir die Regierung allerdings noch einmal daran erinnern zu müssen.
Wir dürfen uns aber auch nichts vormachen. In Afghanistan können wir nicht die westlichen Maßstäbe von Demokratie und unseren Freiheitsbegriff zugrunde legen. Dennoch muss es unser Ziel sein, dem so nahe wie möglich zu kommen. Im Januar dieses Jahres haben wir hierfür in London eine neue Strategie festgelegt - eine Strategie, die von unserer Bundesregierung maßgeblich mitgestaltet wurde. Durch den vernetzten Ansatz von zivilen, militärischen und politischen Mitteln wollen wir den Weg für ein friedliches und selbstbestimmtes Afghanistan bereiten.
Meine Damen und Herren, wir stehen an der Seite des afghanischen Volkes. Wir haben unsere Bereitschaft erklärt, zu helfen. Dazu stehen wir auch.
Von der afghanischen Regierung erwarte ich dafür eine verantwortungsvollere Regierungsführung, die konsequente Bekämpfung der Korruption und die Einhaltung der Entwicklungspläne.
Die Kernpunkte auf dem Weg zur Übergabe in Verantwortung haben wir in der Konferenz in London festgelegt. Nun müssen diese weiter konkretisiert und mit Fristen versehen werden. Die vier Kernpunkte des Londoner Schlussdokuments - wirtschaftliche und soziale Entwicklung, gute Regierungsführung, Frieden und Sicherheit sowie regionale Kooperation - müssen in Kabul mit klaren und messbaren Meilensteinen versehen werden.
Die Ergebnisse der Friedensjirga vom Juni dieses Jahres müssen ebenfalls Eingang in die Konferenz finden. Das dort beschlossene Friedens- und Reintegrationsprogramm, mit dem ?entfremdete Brüder? in Staat und Gesellschaft zurückgeholt werden sollen, wird die Konferenz ebenfalls übernehmen. Es soll Kämpfern und Aufständischen unter bestimmten Bedingungen Straffreiheit zusichern. Hier finden sich zentrale deutsche Anliegen wieder: Angebote vor allem in Form von Arbeit und Ausbildung, keine Benachteiligung von Nichtkämpfern, Einbeziehung der gesamten Bevölkerung sowie eine landesweite Umsetzung.
Ein herausfordernder Punkt ist die regionale Kooperation. Wir alle können uns gut vorstellen, welche Interessen die umliegenden Staaten in Afghanistan verfolgen. Wir müssen daher unbedingt ein strategisches Umdenken bei einigen Nachbarstaaten einfordern.
Wir erwarten von der Konferenz die Konkretisierung der afghanischen Entwicklungsagenda hinsichtlich Infrastruktur, Landwirtschaft, Bildung und Ausbildung sowie eine Regierungsführung, die die Korruptionsbekämpfung mit einschließt. Auch hier muss es unser Ziel sein, eine mit Fristen und erreichbaren Meilensteinen versehene Agenda in allen vier Bereichen zu erarbeiten. Dabei müssen wir das Gleichgewicht zwischen Anreizen und afghanischer Selbstverpflichtung unbedingt wahren.
Meine Damen und Herren, der Einsatz ist gefährlich, und leider müssen wir weiterhin mit Verlusten rechnen. Wir wissen aus der Vergangenheit: Im Vorfeld von Wahlen verschlechtert sich die Sicherheitslage noch einmal. Wir müssen mit einer verstärkten Aktivität der Taliban rechnen; denn sie versuchen, die Demokratisierung des Landes mit allen Mitteln zu unterbinden. Daher danke ich unseren Soldatinnen und Soldaten, die tagtäglich für unsere Sicherheit in Afghanistan kämpfen und zusammen mit zivilen Aufbauhelfern, Polizisten und Diplomaten für die Entwicklung dieses Landes arbeiten.
Für ihren Einsatz wünsche ich ihnen auf diesem Wege Gottes Segen.
Herzlichen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Fritz Rudolf Körper von der SPD-Fraktion.
Fritz Rudolf Körper (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Westerwelle, ich hätte mir eigentlich gewünscht, dass Sie sich in Ihrer Regierungserklärung nicht in erster Linie bei dem Herrn Innenminister bedanken, sondern bei den Polizistinnen und Polizisten, die aufopferungsvoll ihren Dienst in Afghanistan leisten.
Lieber Herr Westerwelle, ich hätte mir noch etwas gewünscht. Sie haben - lesen Sie nach, wie Sie das gesagt haben! - auch dem Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit gedankt.
Sie hätten diesen Dank auch an die vielen zivilen Aufbauhelfer im Einsatzgebiet weitergeben müssen.
- Lesen Sie es nach! Er hat das nicht getan.
Was die Frage der Soldatinnen und Soldaten anbelangt: Ihnen hat der Kollege Hahn hier schon Dank gesagt.
Aus Umfragen in Afghanistan wissen wir, dass der Wunsch nach Sicherheit und Frieden bei den Menschen in einem sehr hohen Maße ausgeprägt ist, und das ist auch kein Wunder in einem solch geschundenen Land. Ich finde, all das, was wir tun, müssen wir daran orientieren, inwieweit es für die Verbesserung des Lebensschicksals der Menschen in Afghanistan notwendig ist.
Da ist die Frage: Wie kann man ihrem Wunsch nach mehr Sicherheit nachkommen?
In der Bundesregierung wird im Moment gerne von Priorisierung gesprochen. Ich habe den Eindruck: Das ist das neue Wort für Kürzen, Reduzieren und Einsparen. Aber in Afghanistan geht es doch um die Frage, wie wir selbsttragende Sicherheitsstrukturen fördern können. Lieber Herr Westerwelle, da liegen Anspruch und Wirklichkeit sehr weit auseinander. Ich finde nämlich, eine Regierungserklärung zu Afghanistan sollte nicht nur von Wünschenswertem und Nebulösem geprägt sein, sondern auch von einem gewissen Realitätssinn getragen werden.
Es gibt einen Fakt, der heute hier allerdings noch keine Rolle gespielt hat. Man muss wissen, dass in den Jahren 2008 und 2009 jeweils doppelt so viele Polizisten ermordet bzw. getötet worden sind wie beispielsweise Soldaten. Das zeigt, vor welchem Problem wir stehen. Wenn wir jetzt die Strukturen verbessern wollen, dann müssen wir - das ist ganz wichtig - Anspruch und Wirklichkeit in Einklang bringen. Die Polizeimaßnahmen und Polizeivorhaben im Rahmen von EUPOL leiden seit Jahren jedoch an einer Unterfinanzierung. Sie müssen wissen: Wir geben für Afghanistan, was den EUPOL-Bereich anbelangt, insgesamt 55 Millionen Euro aus. Im Vergleich zu dem, was wir in anderen Bereichen tun, ist das nicht ausreichend.
Herr Westerwelle, es ist wichtig, dass Sie auf der Kabul-Konferenz das Thema Polizeiausbildung ansprechen. Es kann nämlich nicht sein, dass Polizeiausbildung einzig und allein auf Quantität ausgerichtet ist und die Qualitätsgesichtspunkte dabei vernachlässigt werden.
Es gibt zwar eine Zielgröße für die Ausbildung, aber es ist beispielsweise auch so, dass die Ausbildungszeit auf sechs Wochen verkürzt wird. Ich glaube nicht, dass nach dieser Zeit vollwertig ausgebildete Polizisten für Einsätze zur Verfügung stehen. Alle Erfahrungen zeigen, dass dies nicht möglich ist. In Anbetracht der hohen Quote von Morden an Polizisten müssen wir das Thema Qualität bei der Polizeiausbildung berücksichtigen. Ich bitte Sie ganz ausdrücklich, sich in diesem Sinne einzusetzen.
Ich komme nun zur Frage der wirksamen Bekämpfung von Korruption. Dass wir diese Krake bekämpfen müssen, ist ganz klar. Ich will in diesem Zusammenhang einen konkreten Vorschlag machen: Es ist wichtig, Herr Westerwelle, dass wir uns auch für eine angemessene Bezahlung im Polizeibereich einsetzen. Damit bewahren wir die Polizisten davor, für Korruption anfällig zu werden. Ich glaube, das wäre ein erster wichtiger und pragmatischer Schritt, Korruption zu bekämpfen.
Wir sollten uns auf dieser Afghanistan-Konferenz mit solchen praktischen und konkreten Vorschlägen einbringen. Ich hoffe, dass Sie das tun.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Als letztem Redner in dieser Aussprache erteile ich das Wort dem Kollegen Roderich Kiesewetter von der CDU/CSU-Fraktion.
Roderich Kiesewetter (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Körper, zu Ihrer Zeit als Staatssekretär lag die Verantwortung für den Aufbau der Polizei in Afghanistan noch in unseren Händen. Es ist schon interessant, dass gerade Sie heute hier den EUPOL-Einsatz kritisieren.
Wir wollen uns nicht zulasten einer Gruppe, seien es nun Soldaten oder Polizisten, profilieren. Entscheidend ist doch - gerade im Falle von EUPOL ist das wichtig -, dass wir wirklichkeitsnah handeln: So müssen wir teilweise Analphabeten ausbilden. Diese Vorhaben sind auch nicht unterfinanziert. Es kommt vielmehr darauf an, dass die europäischen Staaten Polizeiausbilder in ausreichender Anzahl zur Verfügung stellen. Dafür trugen Sie einst Verantwortung, Herr Kollege.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, unsere heutige Debatte hat gezeigt, dass wir ernsthafter, wirklichkeitsnäher und mit mehr Augenmaß an das Thema herangehen.
Unsere Debatte hat auch gezeigt - der Herr Außenminister und auch die Frau Kollegin Hoff haben es angesprochen -, dass es sehr stark auf den regionalen Kontext ankommt. Wenn wir auf die Region schauen, stellen wir fest, dass es eine ganze Reihe von Spielern gibt, die auf der Wartebank sitzen. Worum geht es? Zwischen Pakistan und Indien gibt es einen latenten Konflikt, und Pakistan ist relativ instabil. Die zentralasiatischen Staaten stehen der Gefahr eines wachsenden Islamismus gegenüber, das haben die Entwicklungen in Kirgistan unlängst gezeigt.
Wir müssen weiterhin im Blick behalten, was die UNO vor Ort leistet. Der UNHCR Guterres hat Entscheidendes im Rahmen des trilateralen Dialoges zwischen Afghanistan, Pakistan und - man höre und staune - dem Iran zuwege gebracht, bei dem es um Flüchtlingsrückkehr und um Flüchtlingszusammenarbeit geht.
Nun muss es darum gehen, zu berücksichtigen, welche Interessen unsere Mitspieler in der Region haben und wie wir diese Interessen in unsere Politik einbinden können. Es gibt viele Bereiche - von der Regierungsbank ist es bereits zur Sprache gebracht worden -: Gesundheitspolitik, Landwirtschaft und die zivile Infrastruktur, bei denen wir vorankommen müssen.
Es geht somit um die richtige Strategie. Von der Opposition wurde angemahnt, dass die Strategie noch nicht greift. Dabei ist doch zu berücksichtigen, dass es, wenn man eine Neuausrichtung verfolgt, in der Regel mindestens ein halbes Jahr dauert, bis die Ausbildung umgestellt und der Personalkörper verändert ist. Die Bundeswehr geht deshalb jetzt auch ein halbes Jahr später mit einem neuen Kontingent in die Einsätze; bei den zivilen Organisationen ist es genauso. Wir wollen mit einem regionalen Ansatz den politischen Islamismus eindämmen, gegen die Drogenökonomie vorgehen und organisierte Kriminalität und Korruption im Auge behalten. Das geht nur in enger Abstimmung vor Ort.
Ich freue mich, dass die Regierung an einem Strang zieht. Es ist somit ganz wichtig, dass wir wieder einen Afghanistan-Beauftragten der Bundesregierung, den Botschafter Steiner haben, der hier auch anwesend ist.
Eines ist klar: Es gibt keine Regionalmacht vor Ort. Es gibt auch keine Aussicht auf ein regionales Bündnis, das in den nächsten Jahren die Sicherheit vor Ort gewährleisten kann. Das heißt, es kommt weiterhin auf die UNO und den internationalen Einsatz an, an dem wir in großem Umfang beteiligt sind. Es kommt auf uns an. Wenn wir die Probleme nicht lösen, wer dann? Wir dürfen nicht hoffen, dass das andere Kräfte vor Ort übernehmen, sondern wir müssen die Afghanen dazu befähigen, dass sie die Führung von uns übernehmen. Dazwischen wird es keinen Schritt geben. Das ist ein Mannschaftsspiel.
Lassen Sie mich einen weiteren Gedanken anfügen. Unser Verteidigungsminister hat das letzte Woche - ich habe den Artikel anders gelesen - deutlich gemacht: Wir müssen mit unserer Bevölkerung, mit unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern, sehr offen und ehrlich umgehen. Wir dürfen nicht idealistisch an das Thema herangehen. Das war in den letzten Jahren vielleicht manchmal notwendig, aber heute ist es entscheidend, dass wir klug mit der Wahrheit umgehen. Es kommt also darauf an, dass wir die Kommunikation anders gestalten und zutreffendere Informationen liefern. Wir müssen der Bevölkerung ehrlich sagen - wenn nicht wir, wer sonst? -, dass wir voraussichtlich für einen bestimmten Zeitraum mit höheren Gefährdungen und möglicherweise mit mehr Opfern bei unseren zivilen Aufbauhelferinnen und Aufbauhelfern und den Helfern in Uniform rechnen müssen. Das meine ich sehr ernst. Wir müssen sorgsam mit dieser Situation umgehen. Zu einer glaubwürdigen Politik gehört es dazu, unangenehme Dinge in passende Worte zu fassen.
Lassen Sie mich abschließend zwei weitere Gedanken ausführen. Zum einen - es ist zum Teil angeklungen - möchte ich auf die afghanischen Befindlichkeiten eingehen. Eine Shura bzw. eine Jirga ist kein Bundestag, kein House of Lords oder House of Parliament. Es ist eine afghanische Besonderheit. Es ist das, was die Afghanen auszeichnet, das ist ihre Tradition. Das müssen wir ernst nehmen, und wir müssen sie ermutigen und befähigen. Natürlich gibt es die afghanische Verfassung, ein afghanisches Parlament und Wahlen, aber wir müssen gleichzeitig alle Elemente stärken, die die afghanischen Besonderheiten hervorheben und die die Afghanen in ihrem Selbstbewusstsein stärken. Das müssen wir eng begleiten und kontrollieren. Dabei müssen wir auf die roten Linien achten. Wir können andere Ansätze nicht einfach überstülpen. Ich glaube, wir haben in diesem Jahr einen ganz guten Ansatz gewählt. Afghanistan kann nämlich mit dezentralen Elementen eine viel größere Wirksamkeit entfalten. Das heißt, wir brauchen eine starke Zentralregierung, aber auch eine Aufwertung der Regionen.
Noch ein Punkt: Wir haben heute mehrfach über Reintegration gesprochen. Wir sollten diese Reintegration auch aufgrund unserer eigenen Geschichte sehr aufmerksam begleiten. Reintegration ist ohne einen Versöhnungsprozess nicht denkbar. Diese Versöhnung müssen die Afghanen aber selbst leisten. Dazu müssen wir sie ermutigen. Wenn nicht wir, wer dann? Ich denke, das ist Sache der Afghanen und liegt in der Verantwortung der Afghanen; dennoch müssen wir hier auch Forderungen stellen.
Schließlich geht es darum, die Beschlüsse von London zu operationalisieren, messbar zu machen. Ich bin sehr froh darüber, dass sich in unserem Hause zum Herbst ein Konsens zwischen mehreren Parteien abzeichnet, wie wir mit Benchmarks umgehen und wie wir den Wirksamkeitsbericht entwickeln. Für die Koalitionsfraktionen ist aber entscheidend, dass wir es nicht zulassen, dass unsere Entscheidungsbefugnisse auf externe Expertise verlagert werden. Die Bundesregierung kann entsprechende Experten beteiligen, aber wir sollten die Federführung behalten und uns ganz stark dafür einsetzen, dass wir an diesem Prozess intensiv beteiligt werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen ein abgestimmtes Übergabekonzept. Dieses abgestimmte Übergabekonzept muss eindeutige Verpflichtungsgrößen enthalten. Es muss klar werden: Wenn wir einmal übergeben haben, können wir den Prozess nicht mehr umkehren. Einmal übergeben heißt untrennbar übergeben. Deshalb brauchen wir sorgfältig erarbeitete Richtlinien für die Übergabe. Auch dazu dient die Konferenz in Kabul. Gut ist, dass diese Konferenz im Nachgang von einem NATO-Gipfel in Lissabon begleitet wird. Diesen Prozess werden das Parlament, die Regierung, die internationale Gemeinschaft und die NATO als Hauptverantwortungsträger im Aufgabenbereich der Vereinten Nationen im nächsten halben Jahr sehr sorgsam begleiten müssen. Wir sind mit dabei. Unser Haus ist aufgerufen, intensiv mitzuwirken.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2462. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der SPD-Fraktion abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 34 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Klaus Ernst, Agnes Alpers, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Beschäftigungssituation Älterer, ihre wirtschaftliche und soziale Lage und die Rente ab 67
- Drucksachen 17/169, 17/2271 -
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich bitte diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die dieser Aussprache nicht beiwohnen wollen, den Saal möglichst geräuschlos zu verlassen, damit die anderen der Aussprache folgen können.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Klaus Ernst von der Linkspartei.
Klaus Ernst (DIE LINKE):
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Präsident! Im März 2007 ist mit den Stimmen der damaligen Großen Koalition die Rente ab 67 eingeführt worden. Gleichzeitig ist vereinbart worden, dass zum ersten Mal im Jahr 2010 - und dann alle vier Jahre - zu berichten ist, ob dieser Beschluss angesichts der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt sowie der wirtschaftlichen und sozialen Situation älterer Arbeitnehmer tatsächlich aufrechterhalten werden kann.
Wir haben deshalb eine Große Anfrage gestellt, die seit dem 23. Juni beantwortet ist. An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass ich es verwunderlich fand, dass Herr Weiß als Erster, und zwar zu einem Zeitpunkt, als wir die Antwort der Bundesregierung noch gar nicht hatten, darauf reagiert hat. Herr Weiß, es ist ja wirklich klasse, dass Sie offensichtlich zu einem Zeitpunkt informiert wurden, zu dem die Antragsteller die Antwort noch gar nicht kannten.
Ich denke, das war kein gutes Verfahren. Herr Weiß, vielleicht wäre ein wenig Zurückhaltung an der einen oder anderen Stelle ganz hilfreich.
Angesichts dieses Vorgehens stellt sich für uns allerdings die Frage, ob die Bundesregierung die Überprüfungsklausel überhaupt ernst nimmt. Schade, dass Frau von der Leyen nicht hier ist. Sie hat nämlich am 17. Mai im Focus auf die Frage ?An der Rente mit 67 wird nicht gerüttelt??, geantwortet: ?Warum sollten wir?? - Zum damaligen Zeitpunkt hat sie die Antworten der Bundesregierung offensichtlich auch noch nicht gehabt, sonst wäre sie zu einem anderen Ergebnis gekommen.
Wir haben uns gefragt: Welche messbaren Kriterien gibt es bzw. müssen vorliegen, damit man diese Frage überhaupt beantworten kann? Es gibt 234 Fragen und Tausende von Antworten. Einige Antworten machen uns deutlich: Die Rente mit 67 kann so nicht funktionieren.
Das erste Argument: Der Anteil der sozialversicherungspflichtig beschäftigten 64-Jährigen an der Gesamtzahl der 64-Jährigen - die dann also mit 65 bzw. 67 Jahre in Rente gehen sollen - liegt zurzeit bei 9,4 Prozent. Das heißt, 90 Prozent der Menschen, denen Sie eine Rente ab 67 antun wollen, haben in diesem Alter gar keine sozialversicherungspflichtige Arbeit mehr. Das bedeutet doch im Ergebnis logischerweise, dass sie, wenn sie mit 64 Jahren schon keinen Job mehr haben, auch mit 65 und 66 Jahren keinen mehr haben.
- Auf dieses Argument komme ich gleich, Herr Weiß. - Das bedeutet für diese Menschen lediglich schlichtweg höhere Abschläge. Im Übrigen betrug diese Quote im Jahr 2000 3,7 Prozent. Okay, die Quote ist gestiegen.
- Herr Weiß, hören Sie erst einmal zu, Sie sind schon wieder so vorlaut.
Wenn wir für die Folgejahre dieselbe Dynamik unterstellen, die es von 2000 bis 2008 gab,
wird im Jahr 2029 der Anteil der 64-Jährigen, die ohne sozialversicherungspflichtige Beschäftigung sind, bei 75 Prozent liegen. Das heißt, für die Betroffenen bedeutet das auch im Jahr 2029 schlichtweg eine Kürzung ihrer Leistungen.
Bei den Vollzeit-Sozialversicherungspflichtigen beträgt der Anteil der 63- und 64-Jährigen nur 7,4 Prozent. Sie beginnen mit der Rente ab 67 im Januar 2012. Bis dahin wird sich das nicht ändern. Das bedeutet für die meisten Bürger in unserem Lande höhere Abschläge bei der Rente ab 67 - und sonst überhaupt nichts.
Das zweite Argument: Das tatsächliche Renteneintrittsalter liegt nach wie vor weit unter den gesetzlich festgelegten 65 Jahren. Momentan haben wir ein durchschnittliches Renteneintrittsalter von 63 Jahren. Wir sind also weit davon entfernt, überhaupt über die Rente mit 67 zu diskutieren.
Ich komme - das ist das dritte Argument - zum Rentenversicherungsbeitrag. Die Antworten, die wir von der Bundesregierung haben, besagen: Es sind um 0,5 Prozent höhere Beiträge für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erforderlich, wenn wir auf die Rente ab 67 verzichten und die Arbeitnehmer mit 65 Jahren in Rente gehen ließen. Was heißt das für einen Menschen, der 2 000 Euro verdient? Es bedeutet für ihn, dass er um fünf Euro höhere Rentenbeiträge zu zahlen hätte; er könnte dann aber mit 65 in Rente gehen.
Meine Damen und Herren, ich habe noch keinen Arbeitnehmer getroffen, der gesagt hätte, dass er wegen fünf Euro brutto mehr zwei Jahre länger arbeiten würde. Den müssen Sie mir mal zeigen!
Was ist Ihre Politik? Die Antworten der Bundesregierung besagen, dass Sie die Menschen, weil diese in dem Alter keine Jobs mehr haben, in Altersarmut treiben. Denn sie werden durch die Rente mit 67 um 7,2 Prozent höhere Abschläge haben. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik, und sonst nichts.
Jetzt könnten wir noch über Demografie streiten; ich will eigentlich gar nicht darüber streiten.
Dazu haben wir ganz andere Ansichten als Sie, die durch Herrn Rürup belegt sind, der die Produktivitätsentwicklung höher einschätzt als die demografische Entwicklung.
Von Ihnen möchte ich gern hören, was Sie den Menschen sagen,
die mit 63, 62 oder 61 nicht mehr arbeiten können und laut Ihnen bis 67 arbeiten sollen. Sie sollten wenigstens für diese Menschen Antworten haben, ihnen zum Beispiel sagen können, dass sie umschulen sollen. Aber sagen Sie einmal einem Dachdecker, dass er zum Buchhalter umschulen soll. Was soll der tun? Welche Antworten haben Sie für diese Menschen? Sie haben keine einzige Antwort.
Sie verstecken sich hinter dem Argument der Demografie. Letztendlich ist Ihr ganzes Vorgehen bei der Rente mit 67 ein Manöver zur Kürzung der Renten für die Mehrheit der Menschen im Interesse der deutschen Versicherungswirtschaft, damit sich möglichst viele privat versichern.
Das ist Ihre Politik. Die ist wirklich unzumutbar.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Der Parlamentarische Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel hat das Wort.
Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Arbeit und Soziales:
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Ernst, wenn ich nicht Parlamentarischer Staatssekretär wäre, würde ich auf Ihre agitatorische Rede eine ganz andere Gegenrede halten, als ich es jetzt in dieser Funktion tun werde.
Die Bundesregierung hat auf Ihre Große Anfrage geantwortet und deutlich gemacht: Die Bevölkerungszahl in Deutschland wird zukünftig sinken, vor allem aber wird die Bevölkerung älter werden. Wenn es stimmt, dass die Lebenserwartung der Älteren steigt, wenn es stimmt, dass die Anzahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter zurückgeht, und wenn es stimmt, dass die Anzahl der Älteren zunimmt, dann kann man den Kopf nicht einfach in den Sand stecken, dann muss etwas geschehen.
Lassen Sie mich das an einigen signifikanten Fakten verdeutlichen. Sie wollen ja möglichst nicht über die Demografie diskutieren; aber das geht nicht. Die Fakten sind gesetzt. Auch wenn Prognosen sonst oftmals nicht stimmen, hier sind sie ziemlich zielgenau. Wenn das zumindest anerkannt wird, sind wir einen Schritt weiter.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Staatssekretär, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ernst zulassen?
Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Arbeit und Soziales:
Ich habe mir vorgenommen, darauf hinzuweisen, dass wir im Herbst eine große Debatte über diese Punkte führen werden und ich bei meiner Rede heute daher keine Zwischenfragen zulassen möchte. Ich werde Ihnen dann zum gegebenen Zeitpunkt sehr ausführlich zur Verfügung stehen.
Bis 2030 wird die Lebenserwartung um weitere 2,5 Jahre steigen. Andererseits wird das Potenzial an Menschen im erwerbsfähigen Alter bis 2030 um 6 Millionen Personen zurückgehen. Gleichzeitig wird die Anzahl der Älteren um gut 5,5 Millionen zunehmen. Was das bedeutet, ist klar. Hätte man nichts getan, dann würden die Rentnerinnen und Rentner in Zukunft geringere Renten erhalten und die Beitragszahler für diese geringeren Renten auch noch höhere Beiträge zahlen. In der Folge würde der Wohlstand für alle sinken. Das kann und darf es nicht geben. Das kann und darf nicht unsere Zukunft sein. Deswegen muss hier gehandelt werden.
Die Große Koalition hat den Mut gehabt, sich dieser demografischen Herausforderung zu stellen. Wir haben unter der Federführung des damaligen Arbeits- und Sozialministers Franz Müntefering den Handlungsbedarf gesehen und die Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre gesetzlich festgelegt. Das war keine leichte, aber eine notwendige, mutige und richtige Entscheidung.
Warum klatschen eigentlich Sie von der SPD nicht? Sie haben das doch mitbeschlossen.
Was damals richtig war, kann heute so falsch nicht sein; davon sind wir überzeugt.
Es gibt hier einige, die die Richtung sogar umkehren wollen. Wenn man das Rad zurückdreht und die Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 rückgängig macht, dann - das sage ich ganz deutlich - hat das gewaltige Konsequenzen: Der Beitragssatz bei der Rentenversicherung wäre dann langfristig 0,5 Prozentpunkte höher. Was bedeuten diese 0,5 Prozentpunkte?
- Rechnen Sie das mal auf die gesamtstaatlichen Kosten um: Die Kosten einer Beitragserhöhung um 0,1 Prozentpunkte betragen 1,1 Milliarden Euro; also entstünden bei einer Anhebung um 0,5 Prozentpunkte Jahr für Jahr zusätzliche Kosten in Höhe von über 5 Milliarden Euro. Diese Kosten müssen von irgendjemandem aufgebracht werden; das müssen Sie um der Wahrheit willen dazusagen.
Es ist aber nicht nur das; auch ein zweiter Punkt wird verschwiegen: Die gesetzlich vorgeschriebene Beitragssatzobergrenze von 22 Prozent würde ebenfalls überschritten oder müsste angehoben werden.
- Das juckt Sie wahrscheinlich nicht;
aber das juckt denjenigen, der darüber nachdenkt, wie die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft auf Dauer gewährleistet werden kann.
Es ist klar: Wer hier etwas anderes will, der muss auch Vorschläge machen.
Solche Vorschläge konnte ich zumindest in der ersten Rede des Kollegen Ernst nicht erkennen.
Die Höhe der gesetzlich fixierten Beitragssatzobergrenze und der ebenfalls gesetzlich fixierten Rentenniveauuntergrenze sind in ihrer Höhe nicht willkürlich gewählt. Sie sind die Grundlage dafür, dass den Rentnerinnen und Rentnern auch in Zukunft eine anständige Rente garantiert werden kann und die jungen Menschen - auch das ist wichtig; dazu hören wir von Ihnen auch nichts - nicht überfordert werden. Das Thema Generationengerechtigkeit muss hier ebenfalls immer wieder erwähnt werden.
Es war demnach der richtige Weg, die Regelaltersgrenze auf das 67. Lebensjahr anzuheben. Ich betone nochmals: Es muss auch auf die Generationengerechtigkeit geachtet werden.
Manchmal hat man hier sogar den Eindruck, dass die Anhebung der Altersgrenze bereits morgen bevorsteht.
- 2012 beginnt die Anhebung. Warum sagen Sie nicht, dass die Altersgrenze von 67 Jahren erst 2029 erreicht wird?
Sie sollten der Wahrheit die Ehre geben und dies so sagen. - Es geht um kleine Schritte, über 17 Jahre verteilt. In diesen 17 Jahren werden sehr viele Veränderungen eintreten, was die Arbeitsbedingungen in Deutschland betrifft. Wir reden also über einen langen Zeitraum. Wer hätte vor 20 Jahren gedacht, dass wir heute alle ein kleines Telefon in der Tasche haben, mit dem wir sogar Fotografien machen und diese versenden können!
Sie werden uns doch wohl nicht weismachen wollen, dass sich in den nächsten 20 Jahren nicht ebenfalls große Entwicklungen vollziehen werden, die dazu beitragen, dass sich die Arbeitsbedingungen anders gestalten.
Ich muss einen weiteren Gesichtspunkt erwähnen: Wir werden, wie ich vorhin schon gesagt habe, in Zukunft ungefähr 6 Millionen Menschen weniger haben, die im erwerbsfähigen Alter sind. Deswegen muss auch mit Blick auf den Arbeitsmarkt in Deutschland etwas getan werden. Wir sind dafür, dass das in Deutschland vorhandene Potenzial an Arbeitskräften möglichst stark ausgenutzt wird,
bevor man über andere Lösungen nachdenkt.
Die richtige Überschrift heißt daher aus allen aufgezeigten Gründen nicht ?Rente mit 67?, sondern ?Arbeit bis 67?.
Die Aufgabe, die vor uns steht und der wir uns alle widmen müssen, ist, den damit verbundenen Prozess besser zu gestalten, entsprechende Konzepte zu entwickeln und diese dann auch umzusetzen.
Es gibt bereits erste gute Zeichen: Die Beschäftigung Älterer hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. So ist die Zahl der Erwerbstätigen im Alter von 55 bis 65 Jahren seit 2000 um fast 1 Million auf über 5 Millionen im Jahr 2008 gestiegen. Selbst im Krisenjahr 2009 hat sich der Arbeitsmarkt für Ältere stabil gezeigt. Wir sollten das nicht kleinreden.
Das Zweite. Die Arbeitslosigkeit Älterer ist gesunken, und der Anteil der Langzeitarbeitslosen unter den älteren Arbeitslosen ist von 58 Prozent im Jahr 2007 auf 42 Prozent im Jahr 2009 zurückgegangen.
Vor diesem Hintergrund halten wir es nach wie vor für den richtigen Weg, dass wir das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre gesetzt haben. Wir werden alles tun, um den Menschen die Ängste zu nehmen,
dieses Alter im Erwerbsleben nicht zu erreichen.
Wir könnten noch lange über dieses Thema diskutieren. Ich habe Ihnen gesagt, dass wir unseren umfangreichen Bericht im Herbst dieses Jahres vorlegen werden. Sie haben ihn übrigens mitbeschlossen, meine Damen und Herren. Wenn Sie sich daran genauso gut erinnern wie an Ihren Beschluss, das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre zu setzen, dann steuern wir sicher auf eine gute Diskussion zu.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Elke Ferner hat jetzt für SPD-Fraktion das Wort.
Elke Ferner (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Herr Fuchtel, es bestreitet niemand, dass sich die Beschäftigungssituation der Älteren verbessert hat.
Wir bestreiten nur, dass das ausreicht. Ich hätte mir von Ihnen gewünscht, dass Sie nicht erst im Herbst dieses Jahres, sondern jetzt Vorschläge vorlegen, über die dieses Haus dann hätte diskutieren können.
Aber Sie haben im Prinzip nur das vorgetragen, was man auch in der Antwort auf die Große Anfrage hätte nachlesen können. Neuigkeiten waren von Ihnen nicht zu hören.
Herr Fuchtel, es kommt auch darauf an, wie die Qualität der Beschäftigung ist. Allein die Beschäftigungsquote zu betrachten, reicht nicht aus.
Die Frage ist doch: Ist die Beschäftigung existenzsichernd, oder ist sie das nicht? Ist der Beschäftigte sozial abgesichert, oder ist er das nicht? Entsprechen die Arbeitswelt und die Arbeitsbedingungen auch der individuellen Leistungsfähigkeit des Beschäftigten? Das sind die zentralen Fragen.
Der Anspruch muss sein, dafür zu sorgen, dass all diejenigen, die arbeiten wollen, so lange arbeiten können, bis sie die Regelaltersgrenze - egal wie hoch sie ist - erreichen. Aber dazu bedarf es zusätzlicher Mittel. Denn wir wissen, dass die Beschäftigungssituation der Älteren schlechter ist als die der mittleren und der jüngeren Generation. In Ihrem Sparpaket kürzen Sie aber ausgerechnet bei den Maßnahmen für die aktive Arbeitsmarktpolitik. Wer braucht diese Mittel denn am meisten? Es sind die Älteren, die nicht über den normalen Weg der Arbeitsvermittlung eine Beschäftigung im ersten Arbeitsmarkt finden.
Ihnen nehmen Sie die Perspektive, wieder in sozialversicherungspflichtige und existenzsichernde Beschäftigung zu kommen.
Wir brauchen auch eine Umsetzungsstrategie, was die Qualität der Arbeit anbelangt; auch dazu habe ich von Ihnen gerade nichts gehört. Wir alle wissen: Wir haben kein Erkenntnisdefizit, sondern ein Umsetzungsdefizit, weniger in großen Betrieben, sondern eher in kleinen und mittleren Betrieben. Ich würde mir wünschen, dass die entsprechenden Informationen flächendeckend in die Betriebe getragen werden, damit dort begonnen werden kann, die Arbeitsbedingungen so zu gestalten, dass älter werdende Belegschaften mit ihnen zurechtkommen. Das alles ist Aufgabe Ihres Ressorts. Aber gehört haben wir dazu nichts.
Natürlich brauchen wir auch flexible Übergänge in den Ruhestand; auch dazu habe ich nichts gehört.
- Herr Kolb freut sich schon. - Aber das, was Sie vorschlagen, ist im Interesse der Besser- und Höchstverdienenden.
Das hat nichts damit zu tun, auch für Menschen mit niedrigem Einkommen die Möglichkeit des flexiblen Übergangs in die Rente zu schaffen.
Wir schlagen vor, dass nicht nur Menschen, die leistungsgemindert sind, gegenüber der Bundesagentur für Arbeit einen Anspruch auf Beschäftigung bekommen sollten, damit sie, wenn sie im ersten Arbeitsmarkt nicht vermittelt werden können, über öffentlich geförderte Beschäftigung eine Beschäftigungsperspektive im Alter erhalten.
Wir schlagen auch vor, die Übergänge zu flexibilisieren.
Beispielsweise könnte die Teilrente flexibilisiert werden, sowohl was den Zugang zur ihr als auch was die Höhe des Nebenverdienstes und der Zuverdienstgrenzen anbelangt.
Wir schlagen darüber hinaus vor, dass man in Zukunft Zusatzbeiträge, die die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bisher nur relativ rentennah zahlen können, während der gesamten Erwerbsphase zahlen kann und dass das auch die Arbeitgeber tun können. Das eröffnet Raum für tarifliche Regelungen und die Möglichkeit, Abschläge zu kompensieren und die Rentenanwartschaften zu erhöhen, wenn man früher in Rente gehen will. Auch davon habe ich bisher nichts gehört.
Wir haben den Vorschlag in den Bundestag eingebracht - das ist bei der Koalition auf wenig Gegenliebe gestoßen -, die Geltungsdauer der Regelung zur geförderten Altersteilzeit zu verlängern, wenn ein junger Mensch einen Ausbildungsplatz bekommt oder ein frisch ausgebildeter junger Mensch eine Beschäftigungsperspektive erhält. Sie haben zwar die demografischen Daten richtig dargelegt. Aber im Moment brauchen wir Brücken für die Älteren in die Ruhephase und Brücken für die Jüngeren in die Erwerbsphase. Auch dazu höre ich von Ihnen nichts.
Wenn man über die Rente spricht, dann sind armutsfeste Renten ein wichtiger Punkt. Auch hier haben wir kein Erkenntnisdefizit, sondern ein Umsetzungsdefizit. Die Grundvoraussetzung für armutsfeste Renten sind armutsfeste Löhne und möglichst ungebrochene Erwerbsbiografien. Deshalb brauchen wir einen gesetzlichen Mindestlohn. Das ist das Erste, was notwendig ist.
- Das hören Sie nicht gerne. Aber es ist bekannt, dass Sie Wahrheiten nicht gerne hören.
Ihre Weigerung, hier etwas zu tun, ist unverantwortlich. Wir brauchen auch nicht mehr Minijobs oder eine Ausweitung der Grenze über 400 Euro hinaus, sondern mehr sozialversicherungspflichtige und existenzsichernde Arbeitsverhältnisse.
Wir brauchen vor allem für Frauen mehr Vollzeitbeschäftigung statt Teilzeitbeschäftigung. Auch das ist ein Teil des Problems von Frauenarmut im Alter.
Man muss sehen, dass insbesondere für Mütter die Teilzeitbeschäftigung mittlerweile zum Regelarbeitsverhältnis geworden ist. Sie befördern das mit Ihren Maßnahmen auch noch bzw. versuchen, die Frauen wieder aus dem Arbeitsmarkt herauszudrängen, obwohl die meisten Frauen gerne mehr arbeiten wollten, wenn sie entsprechende Arbeitsplätze und Rahmenbedingungen finden würden.
Während Sie SGB-II-Empfängerinnen das Elterngeld streichen, bekommt die Millionärsgattin, die nicht arbeitet, es weiterhin. Gleichzeitig wird am Betreuungsgeld festgehalten. Das ist im Hinblick auf den Arbeitsmarkt absolut kontraproduktiv und verschärft die Altersarmut. Wir haben bereits Anträge zu Verlängerung der Rente nach Mindesteinkommen und Höherbewertung der Zeiten der Arbeitslosigkeit eingebracht. Herr Fuchtel, weil Sie eben die Beitragssatzziele so hoch gehängt haben: Mit der Streichung der Rentenversicherungsbeiträge für SGB-II-Empfänger - das sind 1,8 Milliarden Euro - und der Anhebung des Beitragssatzes in der gesetzlichen Krankenversicherung - das macht 640 Millionen Euro - entziehen Sie der Rentenversicherung Jahr für Jahr über 2,4 Milliarden Euro, mit der Folge, dass die Schwankungsreserve geringer wird und dass die Beitragssatzziele für 2014 und 2015 mit Sicherheit nicht erreicht werden können.
Wenn Sie im kommenden Herbst Ihren Bericht vorlegen, werden wir ein eigenes Konzept vorlegen. Ich bin gespannt, was Sie anzubieten haben. Wenn Sie aber Ihre unsoziale Sparpolitik fortsetzen werden, haben die Beschäftigten nichts Gutes zu erwarten.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kollege Ernst, Sie hatten sich zu einer Kurzintervention zur Rede des Parlamentarischen Staatssekretärs gemeldet. Sie sollen die Möglichkeit dazu haben.
Klaus Ernst (DIE LINKE):
Frau Präsidentin, recht herzlichen Dank. - Herr Fuchtel, ich will auf den Vorwurf eingehen, wir berücksichtigten die demografische Entwicklung nicht. Selbstverständlich berücksichtigen wir sie. Sie selber haben gesagt: Die Bevölkerungszahl in der Bundesrepublik nimmt ab. - Ich bin mit Ihnen einer Meinung. Gleichzeitig weist aber das Bruttoinlandsprodukt eine jährliche Steigerungsrate in Höhe von 1,6 bzw. 1,7 Prozent auf. Das heißt, dass im Jahr 2030 der Kuchen größer ist und sich weniger Menschen diesen Kuchen teilen müssen. Wenn Sie diesen Fakt jetzt anhand normaler mathematischer Erkenntnisse bewerten, dann erkennen Sie, dass sich trotz bzw. aufgrund dieser demografischen Veränderung weniger Menschen einen größeren Kuchen teilen können, womit die Kuchenstücke für die Einzelnen größer sind.
Das ist die Realität aufgrund der Demografie, und diesen Fakt nehmen Sie nicht zur Kenntnis.
Herr Fuchtel, die Produktivitätsentwicklung ist stärker und dynamischer als die Entwicklung der Bevölkerungszahl. Das Problem ist allerdings, dass sich die Produktivitätsentwicklung nicht mehr in den Löhnen widerspiegelt; darauf hat Frau Ferner hingewiesen. Da sich die Produktivitätsentwicklung nicht mehr in den Löhnen widerspiegelt, haben wir kein Problem mit der Demografie, sondern ein Problem mit der Gerechtigkeit und der Verteilung.
Das ist das eigentliche Thema, wenn es um die Rente geht.
Das Zweite, was ich Ihnen sagen muss: Sie haben die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Industrie als Grund dafür angeführt, dass die Rentner verzichten müssen, und von ein paar Milliarden Euro gesprochen. Es tut mir leid, aber wenn ich sehe, was wir hier für die Banken, für die Rettung des Euros und sonst noch beschließen,
dann muss ich sagen: Die höheren Ausgaben, die wir in diesem Zusammenhang für die Rente hätten, sind Peanuts. - Deshalb möchte ich sagen: Es geht hier in dieser Debatte um die soziale Gerechtigkeit und nicht um die Steigerung der Konkurrenzfähigkeit der deutschen Industrie. Das müssen Sie berücksichtigen.
Ich habe kein einziges Argument und auch keine einzige Zahl von Ihnen gehört - auch aus Ihrer Antwort auf unsere Anfrage geht das nicht hervor -, womit Sie begründen könnten, dass die Rente mit 67 richtig ist.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Fuchtel möchte nicht reagieren.
Deswegen gebe ich dem Kollegen Dr. Heinrich Kolb für die FDP das Wort.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Ferner, ich habe bei Ihrer Rede vermisst, zu hören, wie Sie es jetzt mit der Rente mit 67 halten;
denn der Wahrheit zuliebe muss man hier einmal festhalten: Die Rente mit 67 ist die Erfindung eines SPD-Ministers gewesen.
- Ich war zwar nicht dabei, aber es ist damals umfangreich dokumentiert worden, dass Franz Müntefering vor einer Kabinettssitzung nachdrücklich auf die Kanzlerin eingewirkt hat, mit dem Ziel, eine Erhöhung des Regelrenteneintrittsalters herbeizuführen.
- Frau Kollegin Ferner, wenn das anders war, dann können Sie das hier ja erklären. Meine Erinnerung ist so, und deswegen hätte es Ihnen als SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag gut angestanden, entweder zu sagen: ?Wir halten weiter an unserer damaligen Erkenntnis fest?,
oder zu sagen: ?Wir sind davon abgerückt?. - Es wäre nicht überraschend, wenn Sie davon abrücken würden, weil Sie ja versuchen, wenn ich das richtig sehe, die gesamte Agenda 2010 Zug um Zug zurückzunehmen. Ihrer Urheberschaft werden Sie hier aber nicht ledig.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kolb, möchten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Ferner zulassen?
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Selbstverständlich, ja.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Bitte schön.
Elke Ferner (SPD):
Ich bin so nett und verlängere Ihnen Ihre Redezeit. - Ich stelle Ihnen eine kurze Frage, die Sie auch ganz kurz beantworten können.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Ja, mal schauen.
Elke Ferner (SPD):
Stimmen Sie mir zu, dass im Wahlprogramm der CDU und der CSU im Jahre 2005 das Thema ?Anhebung des Renteneintrittsalters? stand und im Wahlprogramm der SPD nicht?
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Frau Kollegin Ferner, ich habe nicht die Wahlprogramme aller Parteien der vorletzten Bundestagswahl im Kopf. Das hat keiner hier in diesem Hause; das muss man ehrlicherweise sagen.
Ich weiß aber noch, wer wie abgestimmt hat, bevor die Rente mit 67 ins Bundesgesetzblatt aufgenommen wurde:
Die SPD und die Union haben dafür gestimmt, die FDP und andere Fraktionen in diesem Haus haben dagegen gestimmt. - Das war so, und daran kann ich mich noch sehr gut erinnern. Sie bleiben hier also verhaftet, ob Sie das wollen oder nicht.
Ich will jetzt gerne auf den Antrag der Linken zu sprechen kommen. Herr Kollege Ernst, Sie haben hier eine Situationsbeschreibung hinsichtlich der Erwerbsteilhabe älterer Menschen vorgenommen. Als Momentaufnahme ist sie natürlich richtig. Man muss aber auch sagen: Sie ist natürlich auch das Ergebnis politischer Entscheidungen der Vergangenheit, und wir sind im Moment dabei, umzusteuern.
Wir haben die Möglichkeit, in geförderte Altersteilzeit zu gehen, abgeschafft. Das wird perspektivisch natürlich zu einem deutlichen Anstieg der Erwerbsbeteiligung in dieser Altersklasse führen. Diejenigen, die schon vor wenigen Jahren in Altersteilzeit gegangen sind, kommen in der aktuellen Statistik aber natürlich nicht vor.
- Ja, sie sind nicht mehr dabei.
- Ja, den Anteil der Quote, aber trotzdem sind sie aus dem Erwerbsleben bzw. aus der aktiven Phase ausgeschieden; das muss man doch sehen.
Deswegen ist es wichtig und richtig gewesen, dass wir hier jetzt einen Paradigmenwechsel vorgenommen haben. In den letzten Jahren war es in den Betrieben angesagt, ältere Arbeitnehmer irgendwie in den vorgezogenen Ruhestand zu schicken. Wir halten das für falsch. Wir haben das schon immer für falsch gehalten, weil ältere Arbeitnehmer Erfahrungsträger sind. Sie haben eine hohe soziale Kompetenz und technisches Wissen. Sie sind für die Unternehmen unverzichtbar.
Deswegen habe ich schon vor Jahren - das können Sie nachlesen - einen Paradigmenwechsel bei den Managern gerade der DAX-Unternehmen gefordert und darauf hingewiesen, dass wir umsteuern müssen. Ältere Arbeitnehmer müssen die Chance haben, länger dabeizubleiben. Denn die niedrige Erwerbsquote ist auch das konkrete Ergebnis aktiver Entscheidungen in deutschen Unternehmensleitungen gewesen. Das wollen wir ändern. Auf diesem Weg befinden wir uns.
Die Erwerbsquote nimmt zu. 57,1 Prozent der 55- bis 64-jährigen sind zurzeit in Arbeit. Damit liegen wir deutlich oberhalb der Lissabon-Ziele. Wir werden den Anteil weiter erhöhen. Denn eines ist klar - das sage ich ohne Wenn und Aber, auch wenn wir damals in diesem Hause gegen die Rente mit 67 gestimmt haben -: Wenn wir länger leben, dann werden wir auch länger arbeiten müssen.
Fraglich ist nur - darauf haben wir damals schon hingewiesen -, ob man es mit einem festen Renteneintrittsalter angeht, oder ob es besser ist, die Menschen auf der Basis einer eigenen freien Entscheidung möglichst lange im Erwerbsleben zu halten. Es war doch in den Unternehmen so, dass etwa einem 60-jährigen eingeredet wurde, in den Vorruhestand zu gehen, um einem Jüngeren Platz zu machen, der vielleicht nachrücken würde, was in vielen Fällen aber gar nicht geklappt hat.
Ich glaube, es ist besser, wenn sich der Beschäftigte selbst fragt, ob er mit Anfang 60 noch ein Jahr länger arbeiten möchte, und ihn dann selbst entscheiden zu lassen. Das wird im Ergebnis - das bestätigen Erfahrungen in den skandinavischen Ländern, auch wenn einige Kollegen von den Linken das nicht glauben wollen - zu einer deutlich höheren Erwerbsbeteiligung führen.
Unser Angebot an diese Menschen ist: Wir wollen einen flexiblen Übergang gewährleisten. Dabei freue ich mich, Frau Ferner - in diesem Zusammenhang trifft das Sprichwort ?Steter Tropfen höhlt den Stein? zu -, dass die SPD offensichtlich einige Teile unseres Konzeptes übernommen hat.
Wir wollen, dass man mit 60, wenn man grundsicherungsfrei ist - das ist beileibe keine hohe Anforderung, weil auch die private bzw. betriebliche Altersvorsorge berücksichtigt werden soll; auch für Bedarfsgemeinschaften soll das geprüft werden -, mit einer Voll- oder Teilrente in den Ruhestand gehen kann. Gleichzeitig sollen alle Zuverdienstgrenzen entfallen. Denn es ist nicht nachzuvollziehen, warum jemand, der eine Vollrente bezieht, nach heutiger Rechtslage nur 400 Euro hinzuverdienen kann. Es gibt viele Menschen, die in den Vorruhestand gegangen sind, aber dann feststellen, dass sie gerne noch ein oder zwei Jahre arbeiten würden, und zwar zu einem höheren Verdienst als 400 Euro, weil sie sich noch nicht zum alten Eisen zählen. Das ist derzeit nicht möglich, und das wollen wir ändern. Das ist unser innovativer Ansatz.
Wenn es die Mehrheitsfindung in diesem Hause erleichtert, können wir gerne mit einer Verbesserung der Teilverrentungsmöglichkeiten anfangen. Man muss aber ehrlicherweise berücksichtigen, dass der Bürokratieaufwand bei der Berechnung der Zuverdienste bei Teilrenten sehr hoch ist, was die Akzeptanz in der Praxis deutlich reduziert. Warum soll aber nicht jemand, der eine Teilrente bezieht, unbegrenzt hinzuverdienen können? Die Menschen in unserem Land sind längst so weit. Das habe ich auf vielen Veranstaltungen erlebt, auf denen ich unser Konzept erläutert habe. Sie wollen den flexiblen Rentenzugang, und sie wollen als Rentner selbst entscheiden können, wie viel sie noch arbeiten. Das sollten wir den Menschen ermöglichen.
Ich komme zum Schluss. Die Altersarmut ist Gott sei Dank derzeit kein Massenphänomen. Es ist kein großes Problem.
Aber es verschärft sich.
Der Normalfall wird aber auch weiterhin ein ausreichendes Alterseinkommen sein, jedenfalls dann, wenn man nicht allein von der gesetzlichen Rente ausgeht, sondern vom Zusammenwirken von gesetzlicher Rente und privater und betrieblicher Altersvorsorge.
Ich bitte Sie, die Zahlen im Alterssicherungsbericht 2005 der Bundesregierung zur Kenntnis zu nehmen. Derzeit beziehen 2,5 Prozent der über 65-jährigen Leistungen der Grundsicherung. Künftig werden es 8 bis 9 Prozent sein. Sie, Herr Strengmann-Kuhn, haben ?14 Prozent? dazwischengerufen, das ist ein sehr pessimistisches Szenario.
Die richtige Antwort darauf heißt Prävention statt nachsorgender Kompensation. Prävention ist besser. Wir müssen junge Menschen ermutigen, beizeiten eine eigene Zusatzvorsorge über die gesetzliche Rente hinaus anzustreben, und ihnen garantieren, dass sie im Alter davon profitieren, indem ihnen Anrechnungsfreibeträge für private und betriebliche Altersvorsorge gewährt werden.
Das ist der richtige Weg.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Ich sehe, Frau Präsidentin, dass meine Redezeit zu Ende ist. Ich bedanke mich sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Ernst, Ihre Rede hat einmal mehr deutlich gemacht, wo der Unterschied zwischen Ihnen und uns Grünen liegt: Während Sie rückwärtsgewandt und sozialstaatskonservativ zu einem Sozialstaat der Vergangenheit zurückwollen, sind wir der Zukunft zugewandt
und wollen den Sozialstaat reformieren.
Wir alle leben im Durchschnitt immer länger und leben auch immer länger gesünder. Das ist auch gut so. Nehmen Sie das doch einmal zur Kenntnis!
Die längere Lebenserwartung führt - neben der gesunkenen Geburtenquote - dazu, dass der Anteil der Alten in der Gesellschaft steigt. Wir stellen uns dieser Herausforderung, während die Linke zurück zum Sozialstaat der 1980er-Jahre will. Die Linke ist die Partei der Vergangenheit - die Grünen sind die Partei der Zukunft!
Gleichzeitig sind die Grünen auch die Partei der ökonomischen Vernunft. Wir wissen nämlich, dass eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit gleich zwei gute Wirkungen für die Rentenversicherung hat: Auf der einen Seite werden länger Beiträge gezahlt und die Einnahmen der Rentenversicherung gesteigert. Auf der anderen Seite ist eine längere Lebensarbeitszeit gut für die Ausgabenseite, weil weniger lang Renten gezahlt werden. Aufgrund dieser doppelten Wirkung ist eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit besonders effektiv und eine ganz wichtige Stellgröße für die Finanzierung der Rentenversicherung in der Zukunft. Auch das sollten Sie, Herr Ernst, endlich einmal zur Kenntnis nehmen.
Und was volkswirtschaftlich gilt, gilt auch für jeden Einzelnen und jede Einzelne. Je länger gearbeitet wird, desto höher sind die Renten.
- Ich habe ja noch ein paar Minuten.
Ich habe gerade über den Durchschnitt geredet, wir wissen aber auch, dass nicht jede Person bis zu einem Alter von 67 oder auch nur 65 Jahren arbeiten kann - das beträfe also auch die Rente mit 65, die Sie ja wollen.
Häufig haben gerade diejenigen, die früher in Rente gehen, eine geringere Lebenserwartung. Das sollte auf der rechten Seite des Plenums einmal zur Kenntnis genommen werden. Von diesen Personen mit einer kürzeren Lebenserwartung, die früher in Rente gehen müssen, zu verlangen, dass sie bis 67 arbeiten, wäre in der Tat zynisch.
Die Alterung verläuft individuell sehr unterschiedlich. Manche können mit 60 nicht mehr arbeiten, manche können und wollen aber auch noch mit 75 oder älter arbeiten. Johannes Heesters arbeitet sogar noch mit über 100.
Diesen individuellen Unterschieden muss ein Alterssicherungssystem gerecht werden. Das ist für uns eine ganz wichtige Voraussetzung für eine generelle Verlängerung der Lebensarbeitszeit.
Wir wollen deswegen flexible Übergänge in den Ruhestand schaffen, über die die Menschen möglichst selbstbestimmt entscheiden können, Herr Kolb.
Denn wir Grünen sind nicht nur die Partei der Zukunft und der ökonomischen Vernunft, sondern wir sind auch die Partei der Freiheit und Selbstbestimmung.
Aber im Gegensatz zur FDP wollen wir nicht nur Freiheit und Selbstbestimmung für die Besserverdienenden
- Sie haben eben in Ihrer Rede schon wieder eine Gruppe ausgeschlossen. Wir dagegen wollen das tatsächlich allen ermöglichen.
Ich bin deswegen der Meinung, dass wir von einem starren Renteneintrittsalter wegkommen sollten. Warum sollten die Menschen nicht in der Tat selbst entscheiden, wann sie in Rente gehen, ob sie ihre Rente nur teilweise in Anspruch nehmen, ob sie ihre Arbeitszeit sofort ganz reduzieren oder in Stufen?
Diese Entscheidung sollten wir den Menschen schon früher als mit 67 Jahren ermöglichen.
Wir sollten es den Menschen aber gleichzeitig auch ermöglichen - und daran fehlt es im Moment noch -, länger zu arbeiten, und zwar jedem nach seinen Bedürfnissen und jedem nach seinen Fähigkeiten.
Wir wollen es den Menschen ermöglichen, früher - zumindest teilweise - in Rente zu gehen. Gleichzeitig muss es sich auch lohnen, länger zu arbeiten.
Die skandinavischen Länder haben mit dieser Kombination gute Erfahrungen gemacht - Herr Kolb hat eben schon darauf hingewiesen,
auch wenn die skandinavischen Länder sonst nicht gerade Ihr Vorbild sind; das muss man auch sagen. Dort gibt es jedenfalls die Möglichkeit, früher in Rente zu gehen.
- Stellen Sie eine Zwischenfrage, und reden Sie nicht andauernd dazwischen!
In Schweden gibt es die Möglichkeit, früher in Rente zu gehen. Gleichzeitig besteht die Möglichkeit, länger zu arbeiten. Im Durchschnitt arbeiten die Schweden länger. Länger, aber weniger arbeiten wäre also das Motto.
Für uns ist eine stärkere Flexibilisierung des Renteneintritts eine wichtige Voraussetzung für eine generelle Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Von der Bundesregierung haben wir dazu bisher noch nichts gehört. Auch von Ihnen von der FDP habe ich in letzter Zeit keinen Antrag dazu gesehen. Bringen Sie doch einen entsprechenden Antrag ein, dann können wir konstruktiv darüber diskutieren.
Für uns ist aber auch wichtig - das unterscheidet uns von der FDP -, dass diejenigen, die früher aus dem Erwerbsleben ausscheiden, nicht dafür mit einem höheren Armutsrisiko bestraft werden. Wir wollen deshalb eine garantierte Mindestrente - wir nennen das Garantierente - für das Alter, die den Grundbedarf deckt. Wer mehr als 30 Jahre versichert war, muss sich darauf verlassen können, dass er eine Rente erhält, die über dem Grundsicherungsniveau liegt.
Auch diesbezüglich gibt es von der Regierung nichts außer einem sehr kryptischen Satz in der Koalitionsvereinbarung. Im Gegenteil: Mit ihrem dreisten Griff in die Rentenkasse durch das sogenannte Sparpaket wird die Altersarmut ansteigen. Es handelt sich um über 2 Milliarden Euro. Frau Ferner hat das eben schon angedeutet. Das hat mit Sparen überhaupt nichts zu tun, weil die Ausgaben der Rentenversicherung sogar noch steigen werden und die Ausgaben der Kommunen für die Grundsicherung ebenfalls. Das heißt, bezahlen müssen es die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler und die Kommunen. Das Ganze nennen Sie Sparen. Für uns sieht Sparen anders aus.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Strengmann-Kuhn, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fricke zulassen?
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ja.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Bitte schön.
Otto Fricke (FDP):
Herr Kollege, Sie haben darum gebeten, nachzufragen, wenn man etwas, was Sie gesagt haben, nicht nachvollziehen kann oder nicht verstanden hat. Ich möchte, dass Sie mir etwas erklären. Jemand, der 30 Jahre gearbeitet hat, soll nach Ihrem Modell einen Anspruch auf eine Grundrente haben? Habe ich das richtig verstanden? Das heißt, jemand, der mit 16 Jahren angefangen hat, in die Rentenkasse einzuzahlen, hat mit 46 Jahren einen Anspruch auf die Grundrente. Ist es das, was Sie erklären wollen, oder was macht der Betreffende zwischen 46 und dem Renteneintrittsalter?
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wir sind nicht für die Rente mit 46, um das klar zu sagen.
Unsere Vorstellung ist, dass jemand ab 60 eine Teilrente beziehen kann. In Schweden gibt es eine Garantierente ab 65, also ab dem üblichen Renteneintrittsalter. Wir wollen einen Einstieg für die langjährig Versicherten schaffen. Wir wollen denjenigen, die 30 Jahre in die Rentenkasse eingezahlt haben, ein Minimum garantieren.
Ich möchte einen Satz im Koalitionsvertrag anführen, weil er so schön ist:
Deshalb wollen wir, dass sich die private und betriebliche Altersvorsorge auch für Geringverdiener lohnt und auch diejenigen, die ein Leben lang Vollzeit gearbeitet und vorgesorgt haben, ein Alterseinkommen oberhalb der Grundsicherung erhalten, das bedarfsabhängig und steuerfinanziert ist.
Alles klar? Warum ist das Ganze so merkwürdig formuliert? Weil sich auch hier Union und FDP wieder nicht einig sind, weil sie unterschiedliche Konzepte haben. Herr Kolb hat das eben angedeutet. Von der CDU/CSU kommt vielleicht nachher noch eine Aussage zur Altersarmut. Was ist die Lösung? Sie bilden wieder einmal eine Kommission, die angeblich 2012 Ergebnisse vorlegen soll. Mehr ist über dieses Geheimgremium bisher nicht zu erfahren. Wir haben eine Kleine Anfrage gestellt. Es wurde nicht geantwortet, wann mit Ergebnissen zu rechnen ist, wie die Kommission zusammengesetzt ist, und es ist nicht zu erfahren, wie der merkwürdige Satz, den ich eben vorgelesen habe, zu interpretieren ist und welche Vorschläge im Einzelnen von dieser Kommission behandelt werden sollen. Also gibt es wieder einmal, wie wir es von dieser Regierung kennen, nichts als heiße Luft und leere Ankündigungen. Kosten soll das Ganze auch nichts - das habe ich einem Bericht der Passauer Neuen Presse entnommen; die weiß offensichtlich mehr als wir -, weder zusätzliche Beitragsmittel noch Steuermittel. Sie müssen mir einmal erklären, wie Sie damit eine armutsfeste Rente finanzieren wollen.
Wir Grünen wollen, dass die Rente mit 67 keine Rentenkürzung durch die Hintertür wird. Das wollen wir verhindern.
Deswegen wollen wir sicherstellen - das ist der entscheidende Punkt -, dass diejenigen, die länger arbeiten wollen, dies auch können. Wenn das nicht der Fall ist, dann wäre es in der Tat eine Rentenkürzung durch die Hintertür. Wir haben aber noch etwas Zeit. Die stufenweise Einführung fängt erst im Jahr 2012 an. Die Rente mit 67 gilt für meinen Jahrgang erst im Jahr 2029.
- Hören Sie mir doch einmal zu! -
- Gut, wunderbar. - Wir müssen sicherstellen, dass diejenigen, die länger arbeiten wollen, dies auch können. Das ist eine Frage der Gesundheit und der Arbeitsbedingungen. Deswegen brauchen wir insbesondere eine Gesundheitspolitik, die mehr auf Prävention setzt, damit wir nicht nur länger leben, sondern auch länger gesünder bleiben. Wir brauchen Arbeitsplätze, die die Menschen nicht kaputtmachen. Wir brauchen gute Arbeit und nicht Arbeit um jeden Preis.
- Das ist richtig, aber dazu hätte ich gerne einige Vorschläge von Ihnen. -
Außerdem gehören dazu sowohl alters- als auch alternsgerechte Arbeitsplätze, also Arbeitsplätze, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sich die Arbeitsbedingungen und die Arbeitszeit dem zunehmenden Alter der Beschäftigten anpassen. Hier sind vor allem die Arbeitgeber in der Pflicht. Der Jugendwahn, der in vielen Unternehmen immer noch vorherrscht, muss endlich beendet werden.
Diejenigen, die arbeiten können und wollen, müssen auch einen Arbeitsplatz finden. Wichtig ist also die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Wie die Antwort auf die Große Anfrage zeigt, gibt es hier durchaus Fortschritte: Der Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten an der Gruppe der 60- bis 65-Jährigen hat sich von 2000 bis 2008 immerhin verdoppelt, nämlich von 10,7 Prozent auf 21,5 Prozent. Das ist nicht allzu viel: Nur ein Fünftel der 60- bis 65-Jährigen hat eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Bei den 64-Jährigen sind es gerade einmal - Herr Ernst hat schon darauf hingewiesen - 10 Prozent, die sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind. Auch das ist kein großer Fortschritt.
Wenn Erwerbstätige und Arbeitslose zusammengezählt werden, sieht man, dass es zwar Fortschritte gibt - die Erwerbsquote der 60- bis 64-Jährigen ist von 21,5 Prozent auf 37,8 Prozent gestiegen; auch das ist immerhin fast eine Verdoppelung -, aber selbst bei den Männern lag die Erwerbsquote immer noch unter 50 Prozent. Das Glas ist also vielleicht gerade einmal halb voll.
Es ist noch einiges zu tun, und die Zeit bis 2012 wird in der Tat langsam knapp. Wir Grünen wollen längeres Arbeiten und einen flexibleren Übergang in den Renteneintritt ermöglichen - im Interesse der Menschen und im Interesse der Rentenversicherung. Wir wollen deswegen keine Rückkehr zur Rente mit 65. Eine bedingungslose Zustimmung zur Anhebung der Altersgrenze ab 2012 wird es mit uns aber auch nicht geben. In diesem Sinne sind wir gespannt auf den Bericht der Bundesregierung im November. Wir werden ihn genau prüfen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 15. Sitzung - wird am
Montag, den 12. Juli 2010,
auf der Website des Bundestages unter ?Dokumente & Recherche?, ?Protokolle?, ?Endgültige Plenarprotokolle? veröffentlicht.]