Interview mit dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann
Benedikt XVI. besucht dieser Tage seine Heimat: Bayern steht Kopf und auch ganz Deutschland lässt sich vom Papst-Fieber ein wenig anstecken. Der früher als „Panzer-Kardinal“ kritisierte Pontifex erntet inzwischen im Land Luthers Lob und zeigt, dass er nicht nur am Schreibtisch ein Meister des Wortes ist, sondern auch Talent im Umgang mit großer Öffentlichkeit besitzt. Das ist eine der „Überraschungen“, die der Papst dem Vorsitzenden der Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann, bereitet hat. Er sei überzeugt, so Lehmann im Gespräch mit der Zeitung "Das Parlament", „dass die Kardinäle, die ihn gewählt haben, froh sind“ darüber.
Das Parlament: Eminenz, seit Frühjahr 2005 „sind wir Papst“. Hat das der Kirche in Deutschland Schwung gebracht?
Karl Lehmann: Ich mag diese etwas populär-populistische Ausdrucksweise vom „deutschen Papst“ nicht so sehr. Aber unabhängig davon hat der neue Schwung auch noch eine Reihe von anderen Motiven als Ursache. Ich denke dabei an das vorbildliche Ende des Lebens von Johannes Paul II., an sein Sterben, die Art und Weise seiner Beerdigung, aber natürlich auch die Wahl eines Papstes aus unserem Land. Ich denke aber auch an die Weltjugendtage in Köln und die Einweihung der Frauenkirche in Dresden. In einem halben Jahr gab es sozusagen einen Kranz von großen Ereignissen mit religiösen Grundcharakter. Das hat natürlich einen gewissen Schwung gegeben. Dies würde aber das Phänomen doch nicht ausreichend erklären: Es ist schon eine größere Nachdenklichkeit gewachsen, teilweise seit dem 11. September 2001, nach der Tsunami-Katastrophe an Weihnachten vor zwei Jahren. Dazu gehört auch die Frage, woher nehmen wir die Kräfte und die Motive, um große gesellschaftliche Änderungen durchzuführen, bei denen auch Verzichte eine Rolle spielen und Solidarität – jedenfalls über das bisherige Maß hinaus – geleistet werden muss. Das geht bis in die wissenschaftlichen Reflexionen hinein. Es ist ein neuer Ernst in der Beschäftigung mit der Frage nach der Religion.
Das Parlament: Die Wiederkehr der Religion wird zurzeit beschworen, zum Teil mit Bauchschmerzen, etwa im Hinblick auf die Gewalt im Namen Gottes...
Karl Lehmann: Zunächst gilt: Wir haben nicht von vornherein zu jeder Religion ein positives Verhältnis, nur weil es um Religion geht. Das Christentum ist auch religionskritisch, und zwar von Anfang an: Im Alten Testament gegenüber den Fruchtbarkeitsreligionen Kanaans, im Neuen Testament etwa im Hinblick auf die Kulte der Antike, und das über alle Jahrhunderte hindurch bis heute. Für mich selbst ist zum Beispiel ein ganz wichtiges Kriterium, ob Religion den Menschen zur Freiheit verhilft. Wenn sie in irgendeiner Weise knechtet durch Gurus oder problematische Führergestalten, dann stimmt etwas nicht. Wenn Religion abgleitet in Okkultismus und Fanatismus, dann muss man sie bekämpfen. Man muss natürlich auch im eigenen Bereich wachsam sein.
Das Parlament: Was erwarten Sie vom Papst-Besuch für die katholische Kirche in Deutschland, für das Land selbst?
Karl Lehmann: Ich muss ehrlich gestehen, dass ich eigentlich gar keine großen Erwartungen habe. Nicht, weil ein solcher Papst-Besuch nicht auch Wirkungen haben wird, sondern weil ich den Papst ein bisschen schonen möchte. Er macht zunächst mal einen persönlichen Besuch in seiner Heimat, die er schon zwei, drei Jahre nicht gesehen hat. Da soll man ihn auch mal Mensch sein lassen. Der Papst ist aber nie nur Privatmann. Es gibt also ein Gespräch mit dem Bundespräsidenten und der Bundeskanzlerin, aber sonst keine Begegnungen auf Bundesebene.
Das Parlament: „Ratzinger ist für Überraschungen gut“, haben Sie kurz nach dem Konklave gesagt. Womit hat er Sie bislang überrascht?
Karl Lehmann: Er hat mich durch mehrere Dinge in diesen eineinhalb Jahren überrascht: Er hat erstaunlich gut und schnell einen eigenen Stil im Umgang mit der Öffentlichkeit gefunden. Das war ja nach dem „Medienpapst“ Johannes Paul II. nicht so leicht. Er ist etwas zurückhaltender als sein Vorgänger und hat trotzdem eine große Unmittelbarkeit in der Kommunikation. Benedikt XVI. hat den Mut gehabt, die hohe Zahl der Audienzen und Arbeitsessen zu reduzieren, weil er mehr Zeit zum Studium haben wollte. Eine gewisse Überraschung ist auch, dass er ganz und gar nicht unpolitisch ist. Seine Äußerungen etwa zur Lage im Nahen Osten zeigen dies. Insofern muss ich sagen, das Wagnis, überhaupt einen Nachfolger für Johannes Paul zu finden, der die Linie fortsetzt, ohne irgendwas zu imitieren, ist herausragend geglückt.
Das Parlament: Erwarten Sie auch theologische Überraschungen?
Karl Lehmann: Oh, die gibt es eigentlich schon: Die Art und Weise, wie er in der ersten Enzyklika „Deus caritas est“ schreibt, wie er begründet, was er in dem Fernsehinterview zum Stellenwert von Geboten und Verboten gesagt hat. Das habe ich so interpretiert, dass es ihm etwa in der ersten Hälfte von „Deus caritas est“ zunächst um solide Grundlagen geht, auf denen aufbauend man dann sagen kann, was den Menschen gut tut, was ihnen schaden wird. Da haben dann Gebot und Verbot ihren begrenzten Platz, aber wichtiger ist, die eigentliche Botschaft rüberzubringen. Das hat er sich sehr entschieden vorgenommen. Aber ich denke, dass man zum Teil vollkommen übertriebene Erwartungen an den Papst hat. Der Papst steht mitten in der Kirche, der Papst gehört zur Kirche, der Papst braucht auch die Kirche. Deswegen etwa in der Ökumene zu erwarten, dass in einem oder eineinhalb Jahren plötzlich Dinge geschehen, an denen man schon Jahrzehnte arbeitet, ist unseriös. Das kann der Papst nie einfach per Dekret. Es ist kurios, dass gerade die, die eigentlich gar keinen so mächtigen Papst wollen, dann erwarten, er sollte innerhalb von Monaten ganze Realitäten umkrempeln.
Das Parlament: Um noch beim Papst zu bleiben, was schätzen Sie besonders an ihm?
Karl Lehmann: Dass er ein großer, ich würde nicht zögern zu sagen, ein genialer Theologe ist. Ich verwende das Prädikat „genial“ äußerst selten. Unter den Theologen, die ich kenne, waren sicher mein Lehrer Karl Rahner und ein Mann wie Hans Urs von Balthasar so zu nennen. Ich zögere auch nicht, meinen Freund und Kollegen Klaus Hemmerle, früherer Bischof von Aachen, als einen wirklich genialen Menschen zu bezeichnen. Joseph Ratzinger ist, als er nach Rom ging, bei uns in Deutschland oft einseitig interpretiert worden, eine regelrechte Karikatur seiner Person ist daraus entstanden. Ich habe mich schon zu verschiedenen Zeitpunkten immer wieder gewehrt und gesagt: Das ist nicht der ganze Ratzinger. Das gilt zum Beispiel auch für seine frühen theologischen Arbeiten, etwa zur Ökumene im Umfeld des Zweiten Vatikanischen Konzils. Und wenn es um die entscheidenden, wesentlichen Grundlagen von Kirche geht, begnügt er sich nicht mit Randaussagen. Ich bin jedenfalls überzeugt, dass die Kardinäle, die ihn gewählt haben, froh sind, dass sie sich so entschieden haben.
Das Parlament: Sie haben gerade erwähnt, dass sich das Bild von Joseph Ratzinger in Deutschland verändert hat: Anfang 2005 war er noch der Großinquisitor, Hardliner, Glaubenswächter, Panzer-Kardinal und so weiter – und jetzt leben wir, wie die „Süddeutsche Zeitung“ titelte, im „Land der Benediktiner“. Wie erklären Sie den Wandel in der veröffentlichten Wahrnehmung seiner Person?
Karl Lehmann: Wenn nach 500 Jahren wieder ein Deutscher, und das nach einem Polen, Papst wird, ist es doch eine ungeheure Sache, die auch ein Echo in der öffentlichen Meinung hat. Das merkt man auch, wenn man in Rom ist und die vielen Pilger aus Deutschland sieht. Er ist auch in seiner sprachgewandten Art den Menschen sehr zugetan. Diese Unmittelbarkeit, auch im Umgang mit Kindern, das hätte ich in der Form nicht erwartet. Als Präfekt der Glaubenskongregation hatte er eben Aufgaben, die sich sehr stark am Schreibtisch vollzogen haben, und im Gespräch mit den Mitarbeitern, in kleineren Kreisen, nicht in dieser großen Öffentlichkeit.
Das Parlament: Trotz der Begeisterung des Papstjahres, die Probleme der Kirche sind geblieben: Priestermangel, Kirchenaustritte, Finanzkrise. Was bereitet Ihnen die größten Sorgen?
Karl Lehmann: Ich glaube, wir sind da arg wehleidig. Es geht vielen viel schlechter, und zwar schon in unserer unmittelbaren Nachbarschaft. Deswegen sollen wir, wenn wir den Gürtel hier und da enger schnallen müssen und uns finanziell oder sonst etwas einschränken müssen, nicht gleich jammern.
Das Parlament: „Reich, etabliert, staatsverbunden, romkritisch, schwachbrüstig im Glauben“ – so beschreibt der Kirchenfachmann Matthias Drobinski das Klischee „katholische Kirche in Deutschland“. Braucht sie vielleicht einfach mehr Überzeugungskraft, mehr Mut, mehr Profil?
Karl Lehmann: Ja, das brauchen wir ganz sicher. Bei der großen Bedeutung der Individualisierung in der heutigen Welt ist die Kirche zweifellos ganz entscheidend auf den Mut zum Zeugnis und zur Bekenntnis des Einzelnen und kleiner Gruppen angewiesen. Unser relativer Reichtum – nicht nur Reichtum an Geld, sondern auch Reichtum an Strukturen und Institutionen – ist nicht das Wichtigste. Das Wichtigste ist das konkrete, lebendige Zeugnis des Einzelnen. Hier haben wir die größten Defizite. Es ist aber einiges geschehen. Seit dem Jahr 2000 haben wir, auch evangelischerseits, die missionarische Dimension der christlichen Botschaft durchaus mit Erfolg verstärkt. Wir haben weniger Kirchenaustritte und mehr Eintritte seit zwei Jahren, mehr Konversionen und Erwachsenen-taufen.
Das Parlament: Gelegentlich hat man den Eindruck, dass die Basis für dieses lebendige Zeugnis fehlt. Die Christen wissen oft nur diffus, woran sie glauben. Sehen Sie darin ein Problem?
Karl Lehmann: Ganz ohne Frage ist der Rückgang des religiösen Wissens beklagenswert. Man kann es eigentlich nicht verstehen, dass so viele Stunden Religionsunterricht gegeben werden und nachher das Wissen derart dürftig ist. Ich würde es trotzdem nicht auf den Religionsunterricht allein schieben. Wir haben einfach ein riesiges Angebot an Informationen und an Unterhaltung. Die Bedingungen der Rezeption sind viel schwieriger geworden. Wir können nur etwas erreichen, wenn die so genannten verschiedenen Lernorte des Glaubens zusammenwirken. Unentbehrlich ist der Lernort Familie. Wenn dort Religion und Glaube nicht vorkommen, kann man nicht erwarten, dass die Schule das alles sozusagen indoktriniert. Ich bin dennoch nicht so pessimistisch, wenn ich sehe, dass an der weltweiten Ministrantenwallfahrt nach Rom von den 42.000 Ministranten 35.000 aus Deutschland kamen. Ich war vor einiger Zeit auch überrascht zu hören, dass jeden Werktag in den Einrichtungen der Jugendseelsorge eines mittleren Bistums 13.000 junge Leute ein- und ausgehen. Da soll man nicht sagen, wir erreichen die Leute nicht.
Das Parlament: Wie geht es weiter im Streit um den Religionsunterricht in Berlin? Werden Sie noch versuchen, Ihre Position durchzusetzen?
Karl Lehmann: Ja, auf jeden Fall. Wir haben ja jetzt mit allen Bundesländern, auch den Stadtstaaten, Staatskirchenverträge, in denen der Religionsunterricht geregelt ist. Berlin ist die einzige Ausnahme. Nun muss man die Wahlen abwarten, und dann werden wir sehen, ob sich nicht andere politische Konstellationen ergeben, die unser Anliegen, einen konfessionellen Religionsunterricht anzubieten, eher unterstützen. Sonst müssen wir wieder dicke Bretter bohren.
Das Parlament: Was dicke Bretter angeht: Sie gelten als ein Vermittler innerhalb der Kirche, scheuen aber Konflikte mit Rom nicht. Gibt es einige „heiße Eisen“, die Sie in Rom aus dem Feuer holen möchten?
Karl Lehmann: Nein, da gibt es keine Strategieplanung. Es gibt ein gesundes Spannungsvermögen. Wir probieren manches neu und bieten manche Erkenntnisse an. Aber wir müssen so nüchtern und bescheiden sein und sehen, dass es gut ist, wenn uns jemand auf die Finger sieht. Es ist auch gut, wenn jemand fragt, habt ihr das auch gut überlegt, ist das wirklich auf die Dauer gut?
Das Parlament: Vor einigen Wochen hat sich die Bischofskonferenz in der Frage der Schwangerenberatung von Donum Vitae abgegrenzt. Hat der Zeitpunkt etwas mit dem Papst-Besuch zu tun?
Karl Lehmann: Nein, Rom hat uns schon vor längerer Zeit gebeten, dass wir eine klare Verhältnisbestimmung und gewisse Kriterien für die Mitgliedschaft zum Beispiel in den kirchlichen Räten festlegen. Es ging nicht, wie manche meinten, darum, Personen auszugrenzen. Was nicht sein soll ist, dass Leute in Donum Vitae und zugleich in kirchlichen Räten verantwortliche Aufgaben haben. Ich habe lange darum gekämpft, dass wir weiter im bisherigen staatlichen System beraten können. Ich weiß, dass unsere deutsche Lösung ethisch anfechtbar ist, wenn wir sagen: Es ist rechtswidrig, aber straffrei. Das sieht so aus, als ob die Abtreibung ethisch doch irgendwie legitimierbar wäre.
Das Parlament: Es geht also um die „Klarheit des Zeugnisses“?
Karl Lehmann: Ja, darum geht es auch dem Papst, Johannes Paul II. ebenso wie Benedikt XVI. Es ist aber ja nicht so, wie oft getan wird, dass bei uns das ganze Beratungswesen zusammengebrochen ist. Das ist eine absolute Fehlinformation. Wir stellen keine Scheine aus, aber Frauen, die in Not sind, kommen und lassen sich beraten. Der Sozialdienst katholicher Frauen macht da eine wunderbare Arbeit. Und wir haben die Beratung sehr stark ausgedehnt auf andere Dinge, etwa Pränataldiagnostik und dergleichen. Da ist manchmal auch bei den Mitgliedern von Donum Vitae ein Jargon entstanden, als würden Kinder nur noch durch sie gerettet. Ich sehe aber in der Reaktion der sieben „Zwischenrufer“ (vgl. „Zwischenruf“ vom 20. Juli) von Donum Vitae eigentlich ein kluges und nicht auf Streit hinausgehendes Echo.
Das Parlament: Die Kirche kritisiert immer wieder die Praxis der Spätabtreibungen. Wollen Sie weiter auf eine gesetzliche Regelung pochen oder vielleicht den Paragraphen 218 ganz aufschnüren?
Karl Lehmann: Wir sind da Gott sei dank nicht allein. Partei- und fraktionsübergreifend finden wir hier Gleichgesinnte. Auch die Bundeskanzlerin hat im März deutlich gesagt, dass es ihr ein wichtiges Anliegen ist, zu einer Lösung zu kommen. Aber in diesen Fragen braucht man einen großen Konsens, das kann man nicht mit zwei, drei Stimmen Mehrheit durchboxen. Das Paket ganz aufschnüren, das wollen wir nicht, das befürchten aber viele und wollen deswegen an das Thema Spätabtreibung nicht herangehen. Auf der anderen Seite steht im Gesetz, dass überprüft werden soll, ob die neue Regelung wirklich zu einem größeren Lebensschutz beigetragen hat. Da aber kein Zeit-raum angegeben worden ist, kümmert sich niemand darum. Das finde ich unredlich. Wenn man vermeiden will, dass darüber diskutiert wird, dann ist das ziemlich undemokratisch. Ich glaube, dass es eine große Mehrheit für eine vernünftige Regelung gibt, weil diese Spätabtreibungen ein Skandal sind.
Das Parlament: Sie haben in den vergangenen Monaten der Politik öfter die Leviten gelesen...
Karl Lehmann: Weiß ich gar nicht (lacht).
Das Parlament: Zum Beispiel in der Abschiebungspraxis, Integration von Migranten, in sozialen Fragen. Die Umsetzung von Hartz IV haben Sie als „Mogelpackung“ bezeichnet. Was ist dabei schief gelaufen und was sind Ihre Lösungsansätze?
Karl Lehmann: Ich habe mich in verschiedenen Äußerungen nachdrücklich zu einer echten Sozialen Marktwirtschaft bekannt, allerdings auch ihre Wertgrundlagen aufgezeigt, die nicht selbstverständlich sind. Und ich habe auch davon gesprochen, dass es eines Umbaus des Sozialstaats bedarf, aber natürlich keines völligen Abbaus. Das im Einzelnen auszutarieren, ist eine ungeheuer schwierige Aufgabe, um die wirklich kein Politiker zu beneiden ist. Wir haben die Gesundheitsreform, die Rentenreform zu spät angepackt, zu spät auch das ganze Problem der Generationengerechtigkeit mit hereingebracht. Die Kirche hat das eigentlich immer wieder thematisiert, aber wir sind nicht die, die konkrete Lösungen anbieten können. Das Bewusstmachen der Situation, das Wahrnehmen der Wirklichkeit, die Sensibilität dafür, die Ausbildung von Grundhaltungen, die man braucht, um eine Lösung zu finden – davon verstehen wir etwas.
Das Parlament: Was konkret stört Sie bei der Umsetzung?
Karl Lehmann: Für mich ist es nicht schlimm, dass man ein Gesetz macht, das nicht nur unvollkommen ist, sondern Fehler hat. Aber dann sollte schleunigst korrigiert werden. Wenn ich denke, was das für eine Schlamperei gewesen ist bei dem Antidiskriminierungsgesetz! Da muss man sich fragen: Wie viele haben das eigentlich nochmals gelesen vor der Abstimmung? Warum ist das den Experten eigentlich nicht mehr aufgefallen? Im Grunde ist es ein Skandal, dass es so dem Bundespräsidenten übergeben worden ist.
Das Parlament: Auch in der Familienpolitik ergreifen Sie das Wort. Sie fordern etwa eine „neue Offensive für das Kind“. Was erwarten Sie von der Politik?
Karl Lehmann: Für mich ist es nicht in erster Linie eine Forderung an die Politik.
Das Parlament: Und was soll man tun?
Karl Lehmann: Man kann nur von vielen Standorten und Verantwortlichen her in der ganzen Gesellschaft etwas unternehmen. Das geht nicht einfach nur mit Geld, es muss ein Bewusstseinswandel da sein, es muss etwa den Müttern viel leichter gemacht werden, in den Beruf zurückzukehren. Außerdem müssen die Erziehung und der Einsatz für Kinder eine stärkere Anerkennung in der Gesellschaft finden.
Das Parlament: Die katholische Kirche drohe durch ihre Sexualmoral ins Abseits zu geraten, haben Sie vor einiger Zeit gesagt. Ist es eine Frage der Vermittlung oder ist die Sexualmoral der Kirche überholt?
Karl Lehmann: Es ist eine Frage der Vermittlung, aber es betrifft auch die Aufbereitung der Inhalte. Da habe ich selbst erlebt, dass man durchaus manches plausibel machen kann, was zunächst fremd und völlig unverständlich ist. Da ist in Manchem das letzte Wort einfach wohl auch noch nicht gesprochen.
Das Parlament: Was meinen Sie damit?
Karl Lehmann: Es gibt etwa Bewegungen im Feminismus, die das Problem etwa der „Pille“ auch unterschiedlich dargestellt haben. Es ist ein vermintes Feld, da möchte ich keine großen Sprüche machen. Aber ich denke, der Papst weiß es sehr genau und das konnte man bei seinem Fernsehinterview sehen. Es gehe nicht zuerst um Verbote, sagte er, und hatte wohl primär den ganzen Bereich der Sexualethik vor Augen. Aber kommt Zeit, kommt Rat. Da muss auch die Moraltheologie da und dort eine andere, neue Sprache finden. Die menschliche Sexualität gehört zu den höchsten Gütern, die den Menschen geschenkt sind. Sie kann aber den Menschen so tief erniedrigen wie nichts anderes; es gibt in diesem Bereich diese ganz tiefe Ambivalenz von Schönheit und Dämonie. Man muss es einfach ganz redlich und viel mehr vom Phänomen her betrachten – da kommt nicht zunächst das Verbot und der Zeigefinger. Es gibt natürlich Empfehlungen, wie man sich verhalten soll und kann. Man muss aber an die Normen anders rangehen. Ich träume, dass es einer mal hinkriegt.
Das Parlament: Sie haben einen Aufsatz geschrieben „Über die besondere Kunst, glücklich zu sein“. Sind Sie glücklich?
Karl Lehmann: Ja, ich bin es eigentlich, ohne zu jauchzen.
Das Interview führte Bernadette Schweda