Am 19. April 1999 fand die erste Sitzung des Bundestages im Berliner Reichstagsgebäude statt
Am Ende der ersten Sitzung des Bundestages im Reichstagsgebäude am 19. April 1999 kündigt Bundestagsvizepräsident Rudolf Seiters an: „Die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages findet in Bonn statt.“ Es wird jedoch das letzte Mal sein, dass das Parlament in Bon tagt. Von nun an ist das umgebaute Reichstagsgebäude in Berlin Sitz der deutschen Volksvertretung.
Fast zehn Jahre nach dem Fall der Mauer tagt das gesamtdeutsche Parlament erstmals in dem vom britischen Architekten Norman Foster behutsam restaurierten Gebäude. Die 33. Sitzung des 14. Deutschen Bundestages ist verhältnismäßig kurz: Das Protokoll vermerkt den Anfang für 12 Uhr mittags und das Ende um 15.38 Uhr. Es gibt nur zwei Tagesordnungspunkte: Eine Rede des Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse und eine Regierungserklärung des Bundeskanzlers Gerhard Schröder.
Wilhelminisch-preußisches Erbe
Es folgen neun weitere Redner. Alle beschäftigen sich mal ironisch, mal verärgert mit dem offiziellen Titel der Veranstaltung: „Übernahme und feierliche Eröffnung des Plenarbereiches Reichstagsgebäude“. Plenarbereich Reichstagsgebäude, was soll das sein? Das Wortkonstrukt drückt die Ambivalenz aus, mit der man dem wilhelminisch-preußischen Erbe des Paul-Wallot-Baus gegenübersteht. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse beschwört seine Kolleginnen und Kollegen: „Wenn wir heute von unserem neuen Plenarsaal im Reichstagsgebäude Besitz ergreifen, ist eine kritische Innenansicht unserer eigenen Geschichte geradezu zwingend, eine Selbstvergewisserung darüber, welches historische Erbe wir gerade in diesem so umstrittenen Gebäude antreten.“
Sinnbild für Offenheit und Transparenz
Bundeskanzler Gerhard Schröder tritt als zweiter Redner auf: „Ich wünsche mir im übrigen, dass die gläserne Kuppel über uns, die der Architekt für dieses Haus entworfen hat, zum Sinnbild für Offenheit und für Transparenz unserer demokratischen Politik wird; denn natürlich lebt Architektur auch hier von der Institution, die sie belebt.“
Sein Wunsch wird erfüllt. Seit der Eröffnung der Reichstagskuppel für die Öffentlichkeit bricht der Strom der Besucher, die jeden Tag bis Mitternacht auf das Dach des Parlamentes steigen, nicht ab. Insgesamt haben in den vergangenen acht Jahren mehr als 15 Millionen Besucher das Reichstagsgebäude und die umliegenden Gebäude des Bundestages besucht.
Vom Wasserwerk in den Reichstag
Für die CDU/CSU spricht am ersten Sitzungstag im neuen Haus der Fraktionsvorsitzende Wolfgang Schäuble: „Für die Freiheit steht als Symbol der Reichstag. Für die Freiheit, Herr Regierender Bürgermeister, steht Berlin. Deshalb musste für mich Berlin auch Sitz von Parlament und Regierung werden. Deshalb, Herr Präsident, habe ich übrigens bis heute nicht verstanden, warum wir dieses Gebäude mit seiner demokratischen republikanischen Tradition nicht mehr sollen Reichstag nennen dürfen.“
An dieser Stelle vermerkt das Protokoll „Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der F.D.P. – Zuruf der Abgeordneten Anke Fuchs [Köln] [SPD]“. Was Frau Fuchs Herrn Schäuble zuruft, ist nicht überliefert, seine Antwort lautet jedoch: „Ja, wir sind der Deutsche Bundestag. Wir haben auch schon im Wasserwerk getagt. Jetzt tagen wir im Reichstag. Belassen wir es also bei der gewohnten Bezeichnung und schreiben wir keine andere vor. Im Wasserwerk, Frau Vizepräsidentin, haben wir entschieden, dass wir künftig im Reichstag tagen. So einfach ist der Zusammenhang. Aber es ist immer der Deutsche Bundestag.“
Keine Berliner Republik
Von Bonn nach Berlin zu gehen, fällt manchen Abgeordneten nicht leicht. Auch durch die Medien geistert ein heute fast vergessener Begriff: In einer „Berliner Republik“ werde möglicherweise Politik über die Köpfe der Menschen hinweg gemacht oder könnten gar neue Großmachtambitionen entstehen. Michael Glos von der CDU/CSU-Fraktion warnt: „Der Wechsel vom Rhein an die Spree darf nicht mit einer Verschiebung der politischen Grundachse Deutschlands und seines politischen Koordinatensystems einhergehen. (…) Aber Berlin muss ebenso wie Bonn ein Synonym für innen- und außenpolitische Berechenbarkeit, für Kontinuität und selbstverständlich für Liberalität werden und bleiben. Deswegen gibt es für mich keine „Berliner Republik“, genauso wenig wie es je eine „Bonner Republik“ gegeben hat. Es geht um die gemeinsame deutsche Republik, die wir insgesamt weiter pflegen und voranbringen wollen.“
Am Ende ringt sich Michael Glos noch zu einem noch schüchternen Kompliment für das neue Domizil durch: „Ein Allerletztes. Mir gefällt dieses Haus, unser Berliner Parlament. Seien wir doch selbstbewusst genug, es so zu nennen, wie es die Leute nennen: Der Bundestag wird künftig im Reichstag tagen.“