Sozialpädagoge Richard Münchmeier im Interview mit "Das Parlament"
Sie sind jetzt 64 Jahre alt. Kann man Sie dennoch als jugendlich
bezeichnen?
Nein, sicher nicht. Meine Jugendphase war ganz anders! Ich bin in der Nachkriegs- und Wirtschaftswunderzeit erwachsen geworden. Und jung sein ist nicht nur eine Frage des Alters, sondern auch der Zeit, in der man aufwächst. Über das Lebensalter definieren wir Wissenschaftler heute Jugend sowieso nicht mehr. Die Grenzen der klassischen Jugendphase sind durchlässig geworden. Schon mit zwölf muss manch einer heute nicht mehr sagen, wo er hingeht. Andererseits sind Jugendliche mit 18 zwar rechtlich gesehen volljährig, stehen aber noch längst nicht auf eigenen Beinen. Für viele findet das Selbstständigwerden sogar erst über 30 statt.
In die Schule gehen, Freunde treffen, Partys feiern. Macht das die
Jugend von heute aus?
Nein, auch viele Erwachsene führen heute einen jugendlichen Lebensstil. Jugendlichkeit ist ein Wert in unserer Gesellschaft geworden. Die Leute möchten so lange es geht jugendlich sein. So haben sich Lebensstile von Jugendlichen und Erwachsenen zum Beispiel im Freizeitbereich angenähert.
Heißt das, Jugendliche und Erwachsene sind in genau der
gleichen Lebenssituation?
Nein, auf gar keinen Fall! Erwachsene müssen Kohle verdienen, um selbstständig zu sein. Jugendliche bekommen ihr Geld aus zweiter Hand. Sie haben daher das Privileg, stärker in den Tag hinein leben zu können. Und selbst das stimmt nicht mehr: Denn wenn Sie als Jugendlicher heute sagen, mir ist es egal, ob ich mein Abitur mache, dann wissen Sie genauso gut wie ich: Das wäre nicht vernünftig. Auch Sie müssen schon an die Zukunft denken.
Tragen Jugendliche heute mehr Verantwortung?
Ja. In alten Lehrbüchern liest man zwar, dass die Jugend vom Ernst des Erwachsenseins entlastet ist, aber wir Jugendforscher von heute sagen, Jugendliche müssen Jugend bewältigen. Das heißt: Die Gesellschaft stellt Erwartungen an die Jugendlichen, wie Schule oder das erfolgreiche Eingliedern in die Gemeinschaft. Misslingt die Bewältigung der Jugend, wird das "bestraft", indem die Betroffenen an die Ränder der Gesellschaft gedrängt werden. Deshalb ist die Jugendphase keine Spielwiese mehr.
Und wie schätzen Jugendliche ihre Lage selbst
ein?
In der zwölften Shell-Jugendstudie von 1997 haben wir gefragt, was für Jugendliche das größte Problem sei. Die Antwort: Arbeitslosigkeit. In meiner Zeit war das noch ganz anders. Den Begriff "Numerus clausus" kannte ich nicht, und ich habe kein einziges Mal darüber nachgedacht, dass ich arbeitslos werden könnte. Diese Entwicklung zeigt, dass Gesellschaftsprobleme, in diesem Fall Arbeitslosigkeit, heute in die Jugendphase hineinwachsen. Die Jugendlichen müssen ihr Leben so gestalten, dass sie mit diesen Problemen zurechtkommen.
Die beste Freundin oder doch die Eltern – wer spielt für
Jugendliche die wichtigste Rolle in Sachen
Werte-Entwicklung?
Ich selbst hätte jederzeit darauf gewettet, dass es die Gleichaltrigen sind. Aber genau das hat die Shell-Jugendstudie widerlegt. Zu meinem großen Erstaunen sind die Eltern tatsächlich die wichtigsten Bezugspersonen für die Jugendlichen – und von den Eltern ist wiederrum die Mutter noch wichtiger als der Vater. In der Shell-Jugendstudie kommt eine besonders interessante Frage zu diesem Thema vor: Würdest du später deine Kinder genauso, ungefähr so, anders oder ganz anders erziehen als du selbst erzogen wurdest? Und darauf antworten heute drei Viertel der jungen Menschen: Ich möchte es genauso oder ähnlich machen! Da merkt man, dass ein Generationenkonflikt hier nicht mehr existiert.
Trotzdem: Sind bei der Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen innere
Konflikte und Probleme mit der Außenwelt
vorprogrammiert?
Ja, natürlich. Heute ist es schon schwierig, die Jugendphase zu beenden, den Übergang von der Ausbildung ins Berufsleben und Erwachsenendasein zu schaffen. Selbst wenn die Jugendlichen einen guten Abschluss haben, bieten ihnen Firmen oftmals erst Praktika an, bei welchen sie schlecht oder gar nichts verdienen. Nicht umsonst gibt es die Bezeichnung "Generation Praktikum".
Sind Praktika kein Schritt ins Erwachsenenleben?
Nein, nur indirekt, denn Erwachsensein bedeutet, ökonomisch unabhängig zu werden, auf eigenen Beinen zu stehen. Doch auch innere Konflikte belasten. Zum Beispiel die Entwicklung einer Geschlechtsidentität. Was bedeutet es heute, eine Frau zu sein? Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten. Was heißt es, ein Mann zu sein? Soll man ein Softie werden oder tough bleiben? Die Jugendlichen haben viel mehr Freiheiten, aber größere Orientierungsprobleme.
Schon in der Schule herrscht ein enormer Leistungsdruck, danach
geht der erbitterte Kampf um Studien- und Arbeitsplätze los.
Haben Sie ein Rezept gegen Zukunftsangst?
Ganz ehrlich? Als Jugendforscher würde ich sagen, die Jugendlichen brauchen kein Patentrezept gegen Zukunftsangst, denn sie haben keine. Jugendliche sind kluge Leute, sie wissen, dass ihnen viel abverlangt wird. Aber es gibt in der neueren Jugendforschung keine Hinweise, dass sie deswegen von Angst gebeutelt sind – im Gegenteil. Jugendliche antworten auf diese Herausforderung in der Regel mit Erhöhung ihrer Leistungsbereitschaft. Warum haben zum Beispiel Mädchen in letzter Zeit so gute Abiturnoten? Doch nicht, weil sie Zukunftsängste haben, sondern weil sie ganz genau wissen, es wird nicht leicht, also nehme ich mein Leben in die Hand.
Viele Jugendliche begeistern sich für Musikbands. Und Politik?
Ist Politik heute kein Jugendthema mehr?
Stimmt, Politik ist megaout. Aber das ist eher ein Problem unserer Zeit. Bei Erwachsenen ist die Politikverdrossenheit sogar noch größer. Wobei man genau hinsehen muss: Es ist nicht so, dass Jugendliche sich nicht für politische Probleme wie Gerechtigkeit oder Umwelt interessieren. Im Gegenteil. Sie haben nur kein Interesse an Parteien, am Politikbetrieb, an den Politikern. An politischen Aktionen wie Streiks oder Demonstrationen sieht man doch, dass sich die Menschen interessieren.
Die Jugend will immer ihr eigenes Ding machen. Warum legen wir uns
nicht auf die faule Haut und machen das, was die Generationen
vorher auch getan haben? Kann doch nicht so verkehrt sein
…
Das wäre ein ganz großes Problem, wenn sie das täten! Die Jugendzeit ist als Vorbereitungszeit gedacht: Die Jugendlichen lernen, machen eine Ausbildung, entwickeln eine Persönlichkeit. Das hat es der Gesellschaft ermöglicht, sich weiter zu entwickeln. Jugend, das ist die Schmiere für die Gesellschaft.
Wenn die Jugend vorbei ist, ist man dann wirklich schlauer und
reifer? Welche Erfahrungen müssen Jugendliche gesammelt haben,
um später "gute" Erwachsene abzugeben?
Es ist schwierig, über solche Idealbilder zu reden, denn keiner kann sie erfüllen. Aber idealerweise sollten Jugendliche Vertrauen in sich selbst gefasst haben. Sie sollten überzeugt sein, dass sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen können. Eine weitere Voraussetzung für ein gelingendes Leben sind Schutzfaktoren wie eine solide Partnerschaft und ein hoher Bildungsabschluss, der einem wiederrum Zugang zum Beruf verschafft. Denn das Leben ist nicht so, dass man immer auf der Erfolgsspur laufen kann. Es gibt Rückschläge und Niederlagen. Menschen mit solchen Schutzfaktoren können diese Probleme leichter meistern.