Runder Tisch unter Vorsitz von Antje Vollmer nahm Arbeit auf
Unter Leitung der früheren Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer ist am 17. Februar 2009 der Runde Tisch "Heimkinder“ zu seiner ersten Sitzung zusammengetreten. Der Bundestag hatte die Einrichtung eines Runden Tisches im November 2008 auf Empfehlung des Petitionsausschusses beschlossen. Ziel ist es, das Unrecht aufzuarbeiten, das Kinder in den fünfziger und sechziger Jahren in deutschen Kinderheimen erlitten hatten. Bis Ende 2010 soll der Runde Tisch einen Abschlussbericht vorlegen.
Dr. Hans-Siegfried Wiegand stockt immer wieder, wenn er von seiner
Schulzeit erzählt. „Ich habe nie jemandem erzählt,
dass ich im Heim lebe. Ich wollte nicht, dass jemand das
erfährt. Ich habe mich meiner bloßen Existenz
geschämt.“ Er freundete sich zwar mit einem seiner
Lehrer an, mit dem er den Weg zur Schule teilte. Aber erst, als er
als Erwachsener – nun selber Lehrer – den alten
Pädagogen besuchte, holte ihn die Vergangenheit ein.
„Warum hast du denn nie darüber gesprochen?“,
wurde er gefragt – und nahm diese Frage zum Anlass, sich im
Verein ehemaliger Heimkinder zu engagieren.
Dabei hatte Wiegand Glück: Er konnte das Gymnasium besuchen, weil sich ein Patenonkel für ihn einsetzte. Sonja Djurovic blieb der Kontakt zur Außenwelt über Jahre hinweg ganz verwehrt. Sie wurde Schneiderin, um wenigstens eine Ausbildung zu haben. „Ich habe es gehasst“, sagt sie, „und ich hasse es noch heute.“ Nach mehreren Suizidversuchen und mit schweren Depressionen im Alltag beschreibt sie sich selbst als beziehungsunfähig. Grund dafür sind fünf Jahre in einem Erziehungsheim der sechziger Jahre.
Antje Vollmer, ehemals Vizepräsidentin des Deutschen
Bundestages, eröffnete am 17. Februar 2009 den Runden Tisch
„Heimerziehung in den fünfziger und sechziger
Jahren“. Dieser mit 23 Personen besetzte Runde Tisch soll
Lösungen für die Anliegen der ehemaligen Heimkinder wie
Hans-Siegfried Wiegand finden, das Geschehene aufarbeiten und Wege
aufzeigen, wie die ehemaligen Heimkinder angemessene Genugtuung
erfahren können.
Neben den Betroffenen, organisiert im Verein ehemaliger Heimkinder, sitzen nicht nur Vertreter des Bundestages und der Bundesregierung, der Länder und Kommunen, der Wirtschaft und der Wissenschaft am Runden Tisch. Auch die häufig konfessionellen Trägervereine der Erziehungsheime arbeiten mit. Dazu kommen Vertreter von Jugendhilfeorganisationen, von denen die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) die Geschäftsführung des Runden Tisches übernehmen wird.
Zur Eröffnung erzählten die ehemaligen Heimkinder
Wiegand, Djurovic und Eleonore Fleht aus ihrer Kindheit, die von
Gängelung, Zwangsarbeit und Missbrauch im Umfeld geprägt
war. Sie forderten Entschädigung und Anerkennung für ihre
Schicksale. Die Vertreter von Regierung und Kirche drückten
ihr Bedauern über die Vorfälle aus. „Es tut uns
unendlich leid“, sagte beispielsweise Dr. Hans-Ulrich Anke
von der Evangelischen Kirche Deutschland.
Der Runde Tisch wird alle zwei Monate für zwei Tage zusammentreten. In einem Jahr soll ein Zwischenbericht vorliegen, Ende 2010 ein Abschlussbericht. Bis dahin leiten vier Schwerpunkte die Arbeit des Runden Tisches an, wie die „Moderatorin“ des Runden Tisches, Antje Vollmer, erklärte: „Im Mittelpunkt sollen natürlich die Betroffenen stehen, zum einen die ehemaligen Heimkinder, zum anderen aber auch die damaligen Mitarbeiter der Heime, Trägervereine und Jugendämter.“
Zunächst will der Runde Tisch die Erfahrungen der Betroffenen
aufarbeiten, anschließend die rechtlichen
Verantwortlichkeiten klären und schließlich die
Fälle zeitgeschichtlich einordnen. „Mir kommt es so vor,
als ob wir in den Bergwerken der alten Bundesrepublik werden graben
müssen“, sagte Vollmer.
2006 waren die ersten Fälle von Kindern bekannt geworden, die in den fünfziger und sechziger Jahren in Erziehungsheimen missbraucht und zu unentgeltlicher Arbeit gezwungen worden waren. Einige dieser ehemaligen Heimkinder hatten eine Petition an den Bundestag gerichtet; dabei ging es ihnen um gesellschaftliche Anerkennung und Aufklärung ihrer Schicksale, aber auch um materielle Entschädigung für erlittenes Leid und geleistete Arbeit.
Der Petitionsausschuss beschäftigte sich intensiv mit den
rechtlichen, persönlichen und wirtschaftlichen Seiten des
Problems. Um für diesen komplizierten Fall eine möglichst
breit akzeptierte Lösung zu finden, empfahl er dann die
Gründung des Runden Tisches „Heimerziehung in den
fünfziger und sechziger Jahren“.
Als Folge der Jahre im Kinderheim leiden viele nicht nur psychisch.
Oft sind auch die Rentenansprüche niedrig, weil die damals
geleistete Arbeit offiziell gar nicht registriert wurde.