Vor zehn Jahren wurde das Reichstagsgebäude wiedereröffnet
Vor zehn Jahren zog der Bundestag von Bonn nach Berlin - in ein neues Parlamentsviertel. Den Auftakt dazu bot die Wiedereröffnung des Reichstagsgebäudes am 19. April 1999. Der britische Architekt Lord Norman Foster überreichte damals dem Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse (SPD) den symbolischen Schlüssel für das Gebäude: der Bundestag war in Berlin angekommen.
Die Entscheidung für Berlin fiel bereits im Jahr 1991, gut
eineinhalb Jahre nach dem Fall der Mauer. In einem Antrag mit dem
Titel "Vollendung der Einheit Deutschlands" wurde ein
Standortwechsel für den Deutschen Bundestag nach Berlin
gefordert. Es sollte eine "faire Arbeitsteilung" geben, sodass
"Bonn auch nach dem Umzug das Verwaltungszentrum der Bundesrepublik
bleibt".
Die Frage nach dem Parlamentssitz war umstritten. Nach mehr als zehn Stunden beantragter Redezeit gab die damalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) am 20. Juni 1991 das Ergebnis bekannt: Für die "Bundesstaatslösung Bonn-Antrag" wurden 320 Stimmen abgegeben. Für den Berlin-Antrag wurden 338 Stimmen gezählt, bei einer Enthaltung und einer ungültigen Stimme.
Das knappe Ergebnis zeigte, wie sehr man in Bonn gespalten war.
Viele Abgeordnete sahen in dem Umzug eine Kostenfalle. Er war mehr
als nur ein Standortwechsel. Berlin sollte andere kulturelle
Einflüsse auf den Geist des Parlaments ausüben.
Im Gegenzug veränderte auch der Bundestag das Bild der Stadt. Das Reichstagsgebäude wurde Mittelpunkt eines neu entstehenden Parlaments- und Regierungsviertels. Nach der Umzugsentscheidung begann ein Architektenwettbewerb.
Am 1. Juli 1993 erteilte der Ältestenrat Lord Norman Foster
den Auftrag zur Bauausführung. Das neue Reichstagsgebäude
sollte wieder eine Kuppel erhalten. Doch der britische Architekt
hatte keine Kuppel konzipiert; er bezeichnete die historische
Kuppel als ein "leeres Symbol, ein überdimensioniertes
Verschattungselement".
Die Kuppelfrage wurde zum Politikum. Foster testete 27 verschiedene Kuppelformen. Süssmuth stellte klar, dass Foster seinen Auftrag verlieren könnte, sollte er "weiter solche Kompotthütchen" zeichnen. Am 10. Februar 1995 stellte er die endgültige Kuppellösung vor: eine Konstruktion aus Glas und Stahl.
1994 begannen die Bauarbeiten. Die Sechziger-Jahre-Einbauten des
Architekten Paul Baumgarten wurden entfernt. Beim Abriss kamen
Zeichen deutscher Geschichte zum Vorschein: Ornamente aus der
Kaiserzeit, Schäden des Reichstagsbrands, Kampfspuren des
Kriegsendes und Graffiti der Sowjets.
Im Juni hüllte das Künstlerpaar Christo und Jeanne Claude das Reichstagsgebäude in silbrig glänzendes Tuch. Die Kunstaktion wurde auch als eine positive Erneuerung verstanden, wie Rita Süssmuth sagte: "Man packt den Reichstag ein und den Bundestag aus."
In der ersten Etappe des Umbaus wurde das Gebäude im Inneren
ausgehöhlt, um dort den Plenarsaal zu errichten. Zwei Jahre
später begannen die Arbeiten an der Kuppel.
Die Baukommission entschied in zahlreichen Sitzungen über Gebäudestruktur, Technik und Sitzungssäle. Abermals gab es Debatten um ein Wahrzeichen – den Bundestagsadler. Der Ältestenrat ließ daraufhin zwei Adler aufhängen: den alten, vergrößerten aus Bonn und auf der Rückseite einen lächelnden Adler von Norman Foster.
Am 19. April 1999 überreichte Foster dem damaligen
Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse (SPD)auf den Stufen des
Reichstagsgebäudes den symbolischen Schlüssel. Es folgten
mehrere Tage der offenen Tür. Knapp 300.000 Besucher warfen
einen Blick in das neue Wahrzeichen Berlins.
In der parlamentarischen Sommerpause 1999 wurde in Bonn für die Hauptstadt gepackt. 90 deutsche Speditionen schlossen sich zusammen, um die größte logistische Herausforderung in der Geschichte der Bundesrepublik zu meistern. Abgeordnete und Bundestagsmitarbeiter packten rund 46.000 Umzugskisten.
Die Container wurden in Köln vom Lkw auf die Schiene verladen.
19 Mal fuhr ein Nachtzug die Strecke nach Berlin. Am 6. September
nahm der Bundestag im umgebauten Reichstagsgebäude seine
Arbeit auf und feierte am Tag darauf sein fünfzigjähriges
Bestehen.