"Meine Frau war seit langem der festen Überzeugung, dass ich schon früher hätte aufhören sollen", erklärt Dr. Klaus W. Lippold. Sie habe ihm schon nach der letzten Wahl im heimischen Dietzenbach in seinem hessischen Wahlkreis Offenbach gesagt, er solle sich doch mal umschauen, er sei der letzte aus dem Freundeskreis, der noch arbeite. Aber erst als im vergangenen Jahr auch sein Herz angeklopft und leise gemahnt hatte, habe er sich besonnen, zumindest kürzerzutreten. Also hatte er im letzten Herbst angekündigt, zum Ende der Wahlperiode Mandat und Vorsitz im Verkehrsausschuss zurückzugeben, seine bisherige wirtschaftliche Tätigkeit aber beratend weiterzuführen.
"Fest gebucht" hat aber das Ehepaar zunächst einmal eine
längere Reise in die Stille – in eine eisige Welt, die
ohrenbetäubend still sein kann oder krachend und
dröhnend, beängstigend großartig, bedrohlich und
bedroht: die Antarktis. Es ist wohl eine fällige Reverenz des
früheren Vorsitzenden der Enquete-Kommission "Schutz der
Erdatmosphäre" an einen Klima-Motor par excellence. Erst
danach will der 66-Jährige "eine alte Leidenschaft wieder
aufgreifen und Geschichte studieren. Neuere Geschichte".
Es gehe ihm darum, sagt der Volkswirt, "Zusammenhänge aus den Anfängen des zwanzigsten Jahrhunderts zu begreifen, um Entwicklungslinien bis zu dem Zeitpunkt nachzuziehen, an dem man selbst aktiv geworden ist". Was ihn umtreibt wird klar, wenn er darüber spricht, dass er "ja zu den Fossilien gehört, die nicht unbedingt wussten, dass sie die Wiedervereinigung noch erleben".
Dieser für sein persönliches und politisches Leben "ganz
eindeutige absolute Höhepunkt des Falles der Mauer in
Kombination mit der Wiedervereinigung" hat den Mann, der seit 1983
und damit seit sieben Legislaturen dem Bundestag angehört,
tief berührt. Dem 'Was' und 'Warum' will er nun nachgehen.
"Denn", sagt er, "das ist uns ja nie erzählt worden."
Wie viele andere habe auch er "die Sowjetunion und das ganze damit verbundene System ja viel stabiler eingeschätzt, als es war". Und er habe sich "immer gewundert, dass uns die Geheimdienste aufzählen konnten, wie viele Maschinengewehre die andere Seite hatte, dass sie uns aber nie gesagt haben, wie labil das Wirtschaftssystem ist und wie sehr es in vielen Bereichen vor der Verrottung stand".
In die Zeit politischer und persönlicher Höhepunkte
fällt für Lippold auch das Erleben tiefster
Betroffenheit. Er müsse zugeben, dass er nach dem Mauerfall
"einen Moment davon geträumt habe, man könne eine Zeit
ewigen Friedens erleben": "Stattdessen mussten wir feststellen,
dass der große Konflikt nun durch viele plötzlich
aufbrechende kleinere ersetzt wurde, die nicht minder erschreckend
waren."
So habe man etwa fassungslos dagestanden, als zum Beispiel aus den Jugoslawen, die ja überall gut in Deutschland integriert waren, nach dem Tod Titos "plötzlich wieder Serben, Kroaten oder Bosnier wurden". "Menschen, die nicht mehr miteinander feierten, sondern aufeinander losgingen. Menschen, die seit 25 oder mehr Jahren friedlich miteinander gelebt haben – und plötzlich sind die alten Gegensätze wieder da."
Vielleicht wird vor diesem Hintergrund auch verständlich, wenn
Lippold auf die Frage, ob er aus heutiger Sicht etwas anders machen
würde, sagt: "Ich bedaure, nicht europäischer gedacht und
gearbeitet zu haben."
Persönliche Schwierigkeiten mit nachlassendem "Gefragtsein" oder die unbestreitbare Machteinbuße als Mensch ohne Mandat sieht der früher eher kämpferisch auftretende Unionsmann dagegen gelassen. Natürlich werde es anfangs etwas schwer werden, wenn man nicht mehr auf den Einladungslisten stehe. Doch das Nachdrängen der nächsten Generation könne man auch aus einem anderen Winkel sehen.
"Denn im Auftreten der eigenen Kinder drückt sich ja aus, dass
sie erfolgreich sind, dass sie selbst bereits etwas erreicht haben
und darstellen. Und dass sie aus eben dieser Eigenwertbetrachtung
nun sagen: Davon verstehst du nichts. Und das ausgerechnet mir,
Klammer auf - als gelerntem Volkswirtschaftler - Klammer zu", sagt
Lippold lächelnd. Das müsse und könne man aber
"demütig ertragen".