Die Geschäftsordnung des Bundestages wird zu Beginn einer jeden Wahlperiode neu beschlossen, oft in geänderter Form. Dennoch hat das heute geltende Regelwerk eine lange Geschichte und große Vorbilder: Es steht in einer nahtlosen Tradition, die zurückreicht bis in die Anfänge des europäischen Parlamentarismus. Einige Bestimmungen stammen noch aus der Zeit der Weimarer Republik oder des Kaiserreichs. Andere sind sogar noch älter.
Es ist ein Paragraph, der immer wieder vor und nach Wahlen für Aufregung sorgt: So kursiert auch nun, nur wenige Wochen vor der Bundestagswahl, in den Medien die Frage, ob die SPD tatsächlich erwägt, Paragraph 10 der Geschäftsordnung des Bundestages zu ändern. Die Union hatte dies bisher als "putschartigen Plan" oder "Taschenspielertrick" zurückgewiesen. Nicht grundlos, schließlich hätte eine Reform des Paragraphen gerade für CDU und CSU deutliche Konsequenzen.
Paragraph 10 bildet nämlich die rechtliche Grundlage für die Fraktionsgemeinschaft der beiden C-Parteien. Eine Änderung des von manchen auch "Lex Union" bezeichneten Paragraphen würde eine Spaltung der Union bedeuten und könnte die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag zugunsten der SPD umdrehen. Eine kleine Änderung mit großer Wirkung. Aber unabhängig davon, ob die Sozialdemokraten dies tatsächlich anstreben oder nicht - die Debatte zeigt, dass ein vermeintlich trockenes Regelwerk reichlich politischen Zündstoff bergen kann. Nicht selten wird es auch taktisch genutzt: So sorgte etwa 2006 eine kurzfristig anberaumte Sondersitzung des Finanzausschusses für einen Eklat. Die Einladung zur Sitzung am frühen Morgen erreichte die Opposition erst kurz vor Mitternacht. Für FDP, Linke und Grüne eine Fristverletzung nach der Geschäftsordnung. Als auch ein Antrag auf Verschiebung von der Großen Koalition abgelehnt wurde, witterten sie Absicht dahinter: Die Grünen warfen der Regierung "Arroganz der Macht" vor. Berichterstatter der Opposition seien bewusst von den Beratungen ausgeschlossen worden. "Lächerliche Verfahrenskritik", konterte die Koalition.
Dabei sind Geschäftsordnungen an sich nicht sonderlich aufregend: Sie seien ein "notwendiger, aber unpopulärer Bestandteil parlamentarischer Demokratie", schreibt zum Beispiel Prof. Dr. Norbert Lammert in einer Einleitung des 1985 erschienenen Buches "Die Geschäftsordnungen deutscher Parlamente seit 1848". "Große Faszination" gehe von den Verfassungen aus, an denen gemessen Geschäftsordnungen wie "lästige Fußnoten eines großen staatsphilosophischen Konzepts" wirkten, so der heutige Bundestagspräsident. Sie mag nicht einmal Gesetzeskraft besitzen, dennoch ist die Geschäftsordnung des Bundestages von großer Bedeutung: Sie bestimmt schließlich die Spielregeln, die Verfahren und den Umgang miteinander im wichtigsten Repräsentationsorgan der Demokratie - und sie prägt so auch die politische Kultur des Landes mit. Paul Löbe, Alterspräsident des ersten Bundestages und zwölf Jahre lang Präsident des Reichstages in der Weimarer Republik, formulierte es eher technisch-nüchtern: Die Geschäftsordnung ist "das Werkzeug der gesetzgebenden Versammlung zur glatten und einwandfreien Behandlung ihrer Aufgaben. Je schärfer und gediegener das Werkzeug, umso sauberer wird das hergestellte Gut".
Nach Paragraph 40 des Grundgesetzes gibt sich der Bundestag selbst eine Geschäftsordnung (GO). Diese regelt den parlamentarischen Betrieb vom großen Ganzen, etwa das Abstimmungsprozedere bei der Wahl des Bundeskanzlers oder die Einsetzung von Ausschüssen, bis ins kleine Detail. So bestimmt sie, wie lang die Redezeit eines Abgeordneten bei der Aktuellen Stunde sein darf (fünf Minuten) oder wie eine Zwischenfrage während einer Rede zu formulieren ist (kurz und präzise - und nur vom Saalmikrofon aus). Jeweils zu Beginn einer neuen Legislaturperiode muss auch die Geschäftsordnung vom Parlament neu beschlossen werden. Über die Jahre hat sie dabei eine Reihe von Modifikationen und Ergänzungen erfahren: So wurde etwa die bereits erwähnte Fraktionsgemeinschaft aus CDU und CDU erst mit der "Kleinen Parlamentsreform" 1969 möglich. Auch erhielt der Bundestag damals erstmals die Möglichkeit, Enquete-Kommissionen zur Beratung langfristiger Fragen einzuberufen. Das Parlament reagierte mit dieser Ergänzung bewusst auf gesellschaftliche Veränderungen und neue Anforderungen, indem es seine Geschäftsordnung änderte.
Zuletzt beschlossen die Parlamentarier im Juli 2009 Änderungen der Geschäftsordnung, die auch Ordnungsmaßnahmen gegen Störenfriede umfassen. Wer die Ordnung "gröblich verletzt", kann nun auch nachträglich von Plenarsitzungen ausgeschlossen werden. Das Ziel dieser Disziplinierung, für die Union, SPD und FDP plädiert hatten: "Das Ansehen und die Würde des Bundestages zu wahren und ihn nicht der Lächerlichkeit preiszugeben." Andere Änderungsanträge mit ähnlicher Absicht hatten dagegen in der Vergangenheit keinen Erfolg: Als die Grünen 1983 erstmals in den Bundestag einzogen - und mit ihnen Häkelpullis und Turnschuhe - forderte ein CSU-Politiker eine Änderung der Geschäftsordnung, damit "diese Typen" wenigstens "nicht ohne Krawatten im Parlament herumsitzen".
Geschäftsordnungen spiegeln Entwicklungen in Gesellschaft, Staat und Verfassungsordnung wider. Umso seltsamer erscheint es da zunächst, dass sich der Bundestag 1949 keine neue Geschäftsordnung gab. In einer Situation, die viele Zeitzeugen als "Stunde Null" empfanden, als Neuanfang mit neuer Verfassung und mit neuen staatlichen Institutionen, nahm der erste Bundestag seine Arbeit mit einer ‚alten’ Geschäftsordnung auf. Er verabschiedete nach seiner Konstituierung am 7. September 1949 bis auf wenige Änderungen im Wesentlichen die Geschäftsordnung des Reichstages der Weimarer Republik. Erst mehr als zwei Jahre später gab sich der Bundestag dann eine eigene Geschäftsordnung - die jedoch immer noch viele Bestimmungen aus Vorgänger-Geschäftsordnungen enthielt. Für den Politikwissenschafter Prof. Dr. Werner J. Patzelt ist das nicht verwunderlich, sondern nur logisch: "Die parlamentarische Geschäftordnung enthält ein unglaublich großes Erfahrungs- und Prozedurwissen. Es wäre völlig aussichtslos, eine funktionierende Geschäftsordnung am "grünen Tisch" zu erfinden."
Daher sei auch die erste Handlung eines neu zusammentretenden Parlaments, die Geschäftsordnung seines Vorgängers zu übernehmen, zu beschließen und dann den Geschäftsordnungsausschuss zu beauftragen, Regeländerungen vorzunehmen, wo sie eben notwendig seien, so der Parlamentarismus-Experte von der Universität Dresden. Demnach lässt sich die heute geltende Geschäftsordnung des Bundestages trotz aller Veränderungen in gerader Linie bis in die Anfänge des europäischen Parlamentarismus zurückverfolgen. Sind berühmte Abstimmungsregeln wie der "Hammelsprung", bei der die Abgeordneten zur Zählung ihrer Stimmen erst das Plenum verlassen, um es dann durch "Ja"- und "Nein"-Türen wieder zu betreten, auch nicht ganz so alt (erstmals findet sich der "Hammelsprung" in der GO des Reichstages des Norddeutschen Bundes von 1868), so lassen sich auch weit ältere Spuren entdecken: So lehnte sich die GO des preußischen Abgeordnetenhauses an Regelungen der Nationalversammlung von 1848 und der belgischen Deputiertenkammer von 1831 an. Das übrigens mit gutem Grund: "Der belgische Parlamentarismus war zu dieser Zeit auf dem Kontinent der fortschrittlichste", erklärt Patzelt. "Er wollte die Machtstellung des französischen Parlaments mit der des englischen Parlaments verbinden". Aber Vorbilder hatte somit auch er: England und Frankreich.