Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert (CDU) spricht sich dafür aus, die Wahlperiode von vier auf fünf Jahre zu verlängern. Im Gespräch mit der Wochenzeitung "Das Parlament" vom 21. September 2009 verweist Lammert darauf, dass "nahezu alle Bundesländer und nahezu alle unsere Nachbarländer eine fünfjährige Legislaturperiode haben". Mit Blick auf die vergangenen vier Jahre zeigt sich der Parlamentspräsident "ziemlich sicher", dass die derzeitige große Koalition "mit etwas größerem zeitlichen Abstand deutlich freundlicher beurteilt werden wird, als das während der laufenden Spielzeit der Fall war".
Herr Präsident, noch nie war die Wahlbeteiligung bei einer
Bundestagswahl gering wie 2005: 77,7 Prozent. Hoffen Sie 2009 auf
mehr Wähler?
Mir sind hohe Wahlbeteiligungen immer lieber als niedrige. Aber ich muss darauf hinweisen, dass wir mit Wahlbeteiligungen zwischen 75 und 85 Prozent international Spitzenwerte erreichen. Wenn mehr als drei Viertel aller Wahlberechtigten von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen, besteht kein Anlass, Besorgnisse zu artikulieren, jedenfalls nicht für Bundestagswahlen. Und wir haben aus guten Gründen keine gesetzliche Wahlpflicht. Es gibt auch eine wachsende Zahl von Wählern, die nicht aus politischem Desinteresse, sondern konkreten inhaltlichen oder personellen Gründen keine der Parteien unterstützen wollen. Auch diese Entscheidung muss man respektieren, zumal sie in vielen Fällen eine bewusste politische Entscheidung ist.
Manche sehen in der hohen Zahl von Wahlen - allein 2009 alles in allem mehr als ein Dutzend - eine Ursache für Wahlmüdigkeit.
Da ist sicher was dran. Die Vielzahl der Wahlen, die sich auf kommunaler Ebene zunehmend multiplizieren, weil Gemeinde- und Kreistagswahlen oder Stadtratswahlen unabhängig von der Wahl von Bürgermeistern oder Landräten stattfinden, erhöht nicht unbedingt für den durchschnittlich Interessieren die Attraktivität von Wahlen.
Wäre eine Verlängerung der Legislaturperiode von vier auf fünf Jahren, wie von Ihnen vorgeschlagen, eine Möglichkeit, die Wahlbeteiligung zu stärken?
Ich bin aus verschiedenen Gründen für eine Verlängerung der Legislaturperiode, weiß aber nicht, warum alles unter dem Gesichtspunkt der Wahlbeteiligung betrachtet werden muss. Noch einmal: Ich finde es nicht nur naheliegend, sondern hochgradig erwünscht, dass wir von der Möglichkeit Gebrauch machen, selbst darüber zu entscheiden, von wem wir regiert werden wollen. Aber zu glauben, unsere Demokratie sei defekt, wenn sich nicht 100 Prozent der Wähler an dieser Entscheidung beteiligen, halte ich für eine maßlose Übertreibung.
Was spricht für längere Wahlperioden?
Zunächst fällt auf, dass nahezu alle Bundesländer und nahezu alle unsere Nachbarländer eine fünfjährige Legislaturperiode haben; auch das Europäische Parlament wird für fünf Jahre gewählt: Zweifellos ist inzwischen die fünfjährige Legislaturperiode der Regelfall. Und es gibt immer wieder nicht unberechtigte Klagen, dass zu Beginn einer Wahlperiode relativ viel Zeit für die – nicht förmliche, sondern faktische – Konstituierung und Arbeitsfähigkeit des Parlaments verloren geht und dass ein nicht unbeträchtlicher Teil des letzten Jahres dem Wahlkampf gewidmet ist. Unter diesem Gesichtspunkt würde eine Verlängerung von vier auf fünf Jahre nicht schlicht ein Jahr mehr, sondern – relativ gesehen – 40 bis 50 Prozent mehr effektiv nutzbarer parlamentarischer Arbeitszeit bedeuten.
Gegen Ihre Empfehlung hat der Bundestag entschieden, erst nach der Wahl das Wahlrecht entsprechend der Forderung des Bundesverfassungsgerichts zu reformieren, um den paradoxen Effekt auszuschließen, dass sich Wählerstimmen für eine Partei gegebenenfalls negativ auf deren Mandatszahl auswirken können.
Zum einen hat das Bundesverfassungsgericht mit Hinweis auf die komplizierte Rechtsmaterie ausdrücklich diese längere Frist eingeräumt. Zweitens: Ich bin nach wie vor überzeugt, dass eine Regelung dieses Themas vor dem anstehenden Wahltermin wünschenswert und möglich gewesen wäre, wenn alle unmittelbar nach der Entscheidung des Gerichts an die Arbeit gegangen wären. Leider haben manche ihr Interesse an dem Thema erst in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Wahlkampf entdeckt. Und drittens hat sich in den parlamentarischen Beratungen auf der Basis eines von einer Fraktion dazu eingebrachten Gesetzentwurfes herausgestellt, dass die mit dieser Lösung verbundenen neuen Probleme auch verfassungsrechtlich nicht weniger gravierend waren als die, die das Verfassungsgericht zu seiner Entscheidung veranlasst haben. Das bestätigt, dass es sich um ein außerordentlich kompliziertes Thema handelt, obwohl es nur einen kleinen Bereich des im Ganzen nicht beanstandeten Wahlrechts betrifft. Damit wird sich der Bundestag zu Beginn der nächsten Wahlperiode befassen müssen.
In Ihrer Antrittsrede 2005 haben Sie gemahnt, die „ungeschriebenen Rechte der Opposition“ müssten bei einer großen Koalition auch für die kleinen Fraktionen gelten. Waren vier Jahre große Koalition für das parlamentarische Geschehen schädlich?
Ich war immer der Auffassung, dass große Koalitionen nicht der Normalfall eines parlamentarischen Systems sind, aber in gegebenen Situationen auch kein Verhängnis darstellen. Ich bin auch ziemlich sicher, dass diese große Koalition ähnlich wie die erste mit etwas größerem zeitlichem Abstand deutlich freundlicher beurteilt werden wird, als das während der laufenden Spielzeit der Fall war. Auch haben wir gerade in dieser Legislaturperiode aus guten Gründen eine Stärkung der parlamentarischen Minderheitenrechte herbeigeführt, die unabhängig von den künftigen Mehrheitsverhältnissen Bestandteil unserer Geschäftsordnung beziehungsweise unserer Verfassung ist.
Mehr Mitspracherechte für den Bundestag insgesamt gibt es in EU-Fragen mit den gerade verabschiedeten Begleitgesetzen zum Lissabon-Vertrag. Zufrieden?
Ja. Ich glaube, dass die jetzt verabschiedete Konstruktion nicht nur den Anforderungen des Verfassungsgerichts genügt, sondern der verfassungsrechtlichen Stellung des Parlaments in allen Gesetzgebungsprozessen. Dass dies für europäische Rechtsetzung ähnlich gelten muss wie für nationale Gesetzgebung, konnte eigentlich niemanden ernsthaft überraschen. Ich habe zu Beginn dieser Legislaturperiode im Zusammenhang mit der Vereinbarung zwischen Parlament und Regierung zur Zusammenarbeit in europäischen Angelegenheiten schon damals die Auffassung vertreten, dass die da zunächst vorgesehenen Regelungen keineswegs zu ehrgeizig waren, sondern zu zögerlich. Sie werden jetzt Bestandteil der Rechtslage.
Um Bundestags-Kompetenzen ging es in dieser Wahlperiode auch bei der Föderalismusreform I, als die Zuständigkeiten von Bund und Ländern neu sortiert wurden. Hat sich die Reform bewährt oder rechnen Sie mit Nachbesserungen?
Es ist noch ein bisschen zu früh für Schlussfolgerungen über die Wirkungen dieser Zuständigkeitsveränderungen. Ich bin aber ohnehin kein Freund von regelmäßigen Änderungen unserer Verfassung mit dem Anspruch scheinbar ultimativer Lösungen. Und ich fühle mich mit den Erfahrungen der vergangenen Jahre gerade im Blick auf Grundgesetzänderungen - das gilt für die erste wie für die zweite Föderalismusreform - in dieser Skepsis sehr bestätigt. In Zeiten, die durch schnelle Veränderungen geprägt sind, wird man nur schwer mit dem Anspruch abschließender Lösungen aufwarten können. Und unser Ehrgeiz, die jeweiligen Einschätzungen der Lage dann gleich zum Gegenstand von Verfassungsvorgaben zu machen, scheint mir eher übertrieben.
Sie bekleiden nun fast vier Jahre das zweithöchste Staatsamt. Welche Begegnungen, welche Erfahrungen haben Sie besonders bewegt?
Das ist ganz schwer zu sagen. Sowohl im parlamentarischen Geschehen wie bei internationalen Kontakten gibt es immer wieder so unterschiedliche, herausragende Ereignisse, dass es schwer ist, ein einzelnes besonders hervorzuheben. Wenn ich das müsste, würde ich wohl meinen offiziellen Besuch in Israel wenige Monate nach meinem Amtsantritt nennen: Der Empfang in der Knesseth mit einer Ehrenformation der israelischen Armee unter Abspielen der deutschen Nationalhymne ist für jeden, der nur einen Hauch von historischem Verständnis hat, ein so außerordentlicher Moment. Die Erfahrung, dass dies möglich ist, hilft über viele kleine Enttäuschungen des politischen Lebens mühelos hinweg.