Pressemeldung -
01.01.2005
Neujahrsansprache von
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse im Deutschlandfunk
(Sendetermin: 1. Januar 2005, 19.10
Uhr)
Liebe Hörerinnen und Hörer!
Das Jahresende 2004 ist überschattet von den Bildern der
entsetzlichen Naturkatastrophe im Indischen Ozean. Es ist wohl die
schlimmste Katastrophe seit Menschengedenken: 100.000 Tote,
furchtbare Zerstörungen, unendliches Leid! Unser
Mitgefühl gilt den Angehörigen der vielen Opfer. Wir
trauern auch um Landsleute, für die geruhsame Urlaubstage im
Tod endeten. Ich wünsche mir sehr, dass Betroffenheit und
Anteilnahme bei uns Solidarität und Hilfsbereitschaft für
die betroffenen armen Länder stärken. Und ich danke all
denen, die durch Spenden zur Linderung der Not und zum Wiederaufbau
beitragen.
Liebe Hörerinnen und Hörer,
wir in Deutschland haben ein konfliktreiches politisches Jahr
hinter uns. Im Zentrum stand die Reform des Sozialstaates, vor
allem die des Arbeitsmarktes. Nach anfänglichen Protesten im
Sommer hat aber offenbar eine Mehrheit die Absicht dieser Reform
verstanden. 65% der Deutschen sind nach dem jüngsten
Politbarometer mit ihrer Situation im vergangenen Jahr zufrieden.
Das gehört zu den guten Nachrichten, die uns erlauben mit
Zuversicht in das neue Jahr zu gehen.
Wir werden uns aber auch 2005 unter Demokraten weiter streiten
müssen und Sorgen haben. Mich beschäftigt zum Beispiel,
dass der Reichtum unseres Landes sehr ungleich verteilt ist. Die
Kluft zwischen arm und reich ist größer geworden. Es
gibt offenbar kein erfolgreiches nationalstaatliches Mittel, das
internationale Wettbewerbsfähigkeit und gerechtere
Einkommensverteilung gleichzeitig bewirken könnte. Dieses
Problem wird uns auch im neuen Jahr beschäftigen und wir
werden nach europäischen Lösungen suchen müssen.
Gerade vor diesem Hintergrund freue ich mich über das
europäische Jahr, das 2004 vor allem gewesen ist. Die
Wiedervereinigung Europas durch Aufnahme der neuen Mitglieder in
die EU am 1.Mai und die ersten gesamteuropäischen Wahlen sind
zusammen mit der Vorlage des europäischen Verfassungsvertrages
die wichtigsten politischen Ereignisse gewesen. Nun sollten wir
auch als Bürger und Wähler lernen, die europäische
Ebene stärker zu beachten.
Zu meinen innenpolitischen Sorgen gehört, dass Bildungs- und
Aufstiegschancen immer noch von der Herkunft abhängen. Da sind
Bildungssysteme in anderen Staaten fairer. Forschung, Bildung und
Innovationen sind deshalb - und weil sie unsere einzigen
Trümpfe im internationalen Wettbewerb sind - die wichtigsten
Aufgaben der nächsten Jahre.
Deshalb ist zu beklagen, dass es Bund und Ländern nicht
gelungen ist, ihre jeweiligen Zuständigkeiten klarer zu
ordnen- auch und gerade in Sachen Bildung nicht. Ich vermute, dass
es Ihnen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, um ein gutes
und faires Bildungswesen geht, das den Umzug in ein anderes
Bundesland nicht mit Nachteilen für schulpflichtige Kinder
bestraft. Deswegen erscheint mir eine Mitverantwortung des Bundes
für einheitliche Zugänge und Abschlüsse, für
gemeinsame Bildungsstandards und Bildungsplanung nötig. Ich
hoffe, dass die Föderalismuskommission diese Aufgabe im neuen
Jahr löst.
In den letzten Wochen und Monaten haben wir Anlass gehabt,
über das Zusammenleben der Menschen aus unterschiedlichen
Kulturkreisen und mit unterschiedlichen Religionen zu diskutieren.
Ganz konkret geht es dabei um die 3 Millionen hier in Deutschland
lebenden Muslime und deren Integration in unsere Gesellschaft. Ich
wünsche mir und allen, die hier leben, dass diese Debatten uns
voran bringen zu einer Gesellschaft, in der wir alle als Menschen
ohne Angst verschieden sein können.
Dafür sollte die so genannte Mehrheitsgesellschaft viel mehr
Zuwendung und mehr Hilfen zur Integration für die Einwanderer
und ihre Kinder und Enkel aufbringen. Wir tragen heute die Folgen
davon, dass wir eine einfache Erkenntnis ignoriert haben, die der
berühmte Schriftsteller Max Frisch vor 30 Jahren so formuliert
hat: "Wir haben Gastarbeiter gerufen; aber gekommen sind
Menschen."
Aber auch die Muslime unter den Zuwanderern müssen lernen,
dass Integration nicht nur die Beherrschung der deutschen Sprache
voraussetzt, sondern auch die Beachtung unserer Gesetze und der
Grundwerte und Rechte unserer Verfassung: die Religionsfreiheit,
die ihnen die ungestörte Ausübung ihres Glaubens
garantiert ebenso wie die Gleichheit von Mann und Frau; das Verbot
der Diskriminierung auf Grund von Herkunft, Religion und
Geschlecht, das ihnen die Teilhabe am beruflichen,
gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Leben erleichtert
ebenso wie die Garantie der individuellen Freiheit und Entscheidung
und sei es die, eine andere Religion anzunehmen.
Der internationale Terrorismus und Fundamentalismus, der sich ein
islamistisches Gewand gibt, setzt auch die in Deutschland lebenden
Muslime großem Druck und pauschalem Verdacht aus. Das ist
ungerecht, unangebracht und unangemessen. Für die
überwältigende Mehrheit der Muslime, ihre
Friedfertigkeit, ihre hoch entwickelte Zivilität, ihre Abscheu
gegen Mord und Terrorismus kann man getrost die Hand ins Feuer
legen.
Im Alltag mancher muslimischer Familien existieren jedoch noch
Verhaltensweisen, die - wenn man unsere Verfassung ernst nimmt -
nicht akzeptabel sind. Beispiele, die insbesondere in vielen
Schulen erhebliche Probleme bereiten, sind die Versuche,
Mädchen von Bildungsgängen, vom Sportunterricht und vom
sozialen Leben an der Schule auszuschließen. Die allgemeine
Schulpflicht gilt aber auch für muslimische Mädchen und
das Grundgesetz verpflichtet, allen hier lebenden Menschen
gleichwertige Teilnahme am gesellschaftlichen, kulturellen und
politischen Leben zu gewährleisten.
Lassen Sie uns 2005 gemeinsam zu einem Jahr machen, in dem wir dem
Ziel näher kommen, ein Land des friedlichen Zusammenlebens von
Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religion zu sein.
Ich wünsche Ihnen allen ein gutes neues Jahr 2005!
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