Vorabmeldung zu einem Interview in der nächsten Ausgabe der Wochenzeitung
„Das Parlament“ (Themenausgabe „Zukunft des Parlamentarismus“)
Erscheinungstag: 6. April 2009
– bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen Veröffentlichung –
Bundestagspräsident Norbert Lammert spricht sich für eine Erweiterung der Legislaturperiode des Parlaments auf fünf Jahre aus. In einem Interview mit der Wochenzeitung „Das Parlament“ betonte er, „im Kontext der Erfahrung, dass die immer häufiger stattfindenden Wahlen offenkundig die Wahlbegeisterung nicht fördern“, halte er eine solche Erweiterung für „schlüssig und hilfreich“. Außerdem empfahl er weitere „unvermeidliche Änderungen“ im geltenden Wahlrecht so schnell wie möglich dort vorzunehmen, wo Probleme auftreten, „zum Beispiel beim Zustandekommen von Überhangmandaten“.
Der Einführung von Plebisziten auf Bundesebene erteilte der Bundestagspräsident eine Absage. „Die Vorstellung, bei komplizierten Sachverhalten möglichst häufig plebiszitäre Entscheidungen anstelle repräsentativer zu ermöglichen, halte ich für bestenfalls gut gemeint, aber nicht wirklich gut durchdacht.“ Mit Blick auf die 60 guten Jahre, die diese Republik hinter sich habe, gebe es Anlass, den Repräsentanten „für die klugen Entscheidungen zu danken, die sie an manchen Stellen auch gegen die erkennbare Mehrheitsstimmung der Bevölkerung getroffen haben“.
Lammert verteidigte zudem die „freiwillige Übertragung nationaler Souveränitätsrechte auf die europäische Gemeinschaft“. Es sei allerdings wichtig, dass dieser Entscheidungsprozess auf europäischer Ebene parlamentarisiert werde, betonte der Präsident mit Verweis auf den Lissabon-Vertrag. Berechnungen, nach denen mittlerweile rund 80 Prozent der Gesetze aus Brüssel kämen, widersprach er. Diese Größenordnungen seien nachweislich falsch und differenzierten nicht zwischen herausragend wichtigen und Routineentscheidungen.
Das Interview im Wortlaut:
Interview mit Bundestagspräsident Norbert Lammert
Herr Präsident, teilen Sie den Eindruck, dass es dem Bundestag wie den Kirchen geht: man wird sich erst in schlechten Zeiten der Bedeutung bewusst?
Ich möchte mit einem klugen Satz von Henry Kissinger antworten: Was einem Personen wie Institutionen wert sind, erkennt man am besten, wenn man sich einen Augenblick lang fragt, was sie einem wohl wert wären, wenn es sie nicht mehr gäbe.
Gilt das aktuell besonders für politische Institutionen?
Offenkundig hat die Öffentlichkeit in Zeiten der Krise die Bedeutung der Politik wiederentdeckt. Erst gab es eine sich geradezu überschlagende Begeisterung dafür, die politischen Interventionen insbesondere aus ökonomischen Beziehungen zu verdrängen, weil vermeintlich erst dann der Gipfel der Leistungsfähigkeit erreicht sei, wenn es einschränkende Rahmenbedingungen nicht mehr gäbe. Nun wird nach einem dramatischen Schockerlebnis die Unverzichtbarkeit von Rahmenordnungen wiederentdeckt, die durch den Staat gesetzt werden.
Es scheint aber eine Diskrepanz zu geben zwischen der Begeisterung für bestimmte Strukturen und der Wertschätzung des politischen Systems insgesamt.
Wir haben seit geraumer Zeit eine unverändert hohe Wertschätzung der Demokratie als Regelsystem für die staatliche Verfassung unserer Gesellschaft. Gleichzeitig gibt es einen deutlichen Trend, dass das Vertrauen in die Arbeitsfähigkeit der Institutionen, gewissermaßen das Funktionieren des politischen Lebens, dünner geworden ist. Ob die jüngsten Erfahrungen mit dem Umgang des Parlaments und der Regierung mit der Krise zu einer Veränderung dieser Wahrnehmung führen, kann man noch nicht hinreichend beantworten.
Hat die Unzufriedenheit mit dem konkreten Funktionieren auch mit der Großen Koalition zu tun? Lähmt sie?
Die Schlussfolgerungen, die sich an diese Konstellation anknüpfen, sind meiner Beobachtung nach übertrieben. Was die oft kritisierte Verlagerung der Entscheidungsfindung in informelle Gremien jenseits des Plenums oder der Fachausschüsse betrifft, ist die Beobachtung zwar richtig, das hat aber mit der Großen Koalition ursächlich nichts zu tun. Ich gehöre dem Bundestag fast dreißig Jahre an und kann sagen: Das war immer schon so – in allen Konstellationen. Und dafür gibt es natürlich gute Gründe.
Dem Parlament werden so doch aber Entscheidungen vorweg genommen?
Wie soll denn eine sorgfältige Urteilsbildung erfolgen, wenn schon das Sortieren von Argumenten auf dem offenen Markt stattfinden muss? Problematisch wäre es, wenn Entscheidungen den Gremien entzogen würden, die darüber eigentlich zu befinden haben. Davon kann aber heute genauso wenig die Rede sein wie früher. Was in diesem Land verbindlich wird, wird durch Entscheidungen im Deutschen Bundestag verbindlich oder es wird nie Gesetz.
Bestehen falsche Vorstellungen? Viele Bürger sehen einen leeren Plenarsaal und kommen zu dem Schluss, Wichtiges werde nicht im Bundestag entschieden.
Voll sind die Parlamente da, wo sie nichts zu sagen haben. Wenn die Volkskammer der DDR zusammentrat oder der Oberste Sowjet tagte, war der Laden voll – und hatte nichts zu sagen. Einflussreiche Parlamente sind dagegen hoch arbeitsteilig organisiert.
Das heißt?
In der Regel findet die Darstellung der Regelungsabsichten wie der Einwände durch die Kollegen statt, die mit dem jeweiligen Thema fachlich befasst sind. . Auf deren Empfehlung hin stimmen die Fraktionen für oder gegen ein bestimmtes Gesetz. Ob an dieser Plenardebatte auch die übrigen 500 Abgeordneten physisch teilnehmen, die damit nicht so befasst sind, ist für den Sachverhalt unerheblich, für das Erscheinungsbild allerdings schon. Die Urteilsbildung der Abgeordneten findet vor allem in den Fraktionsberatungen statt, nicht im Plenarsaal. Auch wenn es die Zuschauer nur begrenzt tröstet: Das Verfahren hat sich bewährt. Man kann die gleiche Erfahrung übrigens auch im amerikanischen Kongress, im britischen Unterhaus und in der französischen Nationalversammlung machen.
Ist das Wahlrecht noch geeignet, die politischen Realitäten abzubilden?
Wir haben im Rahmen eines Wahlrechts, das in seinen Grundstrukturen seit Beginn dieser Republik unverändert geblieben ist, beachtliche Veränderungen im Parteiensystem und in der parlamentarischen Repräsentanz erlebt. Das ist ein starker Beleg dafür, dass eben nicht das Wahlrecht das Wahlverhalten prägt, sondern das Wahlverhalten prägt die politischen Verhältnisse.
Dennoch werden immer wieder Änderungen des Wahlrechts gefordert.
Es gibt eine Reihe von Änderungen, die ich mir vorstellen kann, ohne sie für unverzichtbar zu halten. Ich fände eine Erweiterung der Legislaturperiode des Bundestags auf fünf Jahre schlüssig und hilfreich – auch im Kontext der Erfahrung, dass die immer häufiger stattfindenden Wahlen offenkundig die Wahlbegeisterung nicht fördern. Zweitens: Da, wo im geltenden Wahlrecht Probleme auftreten, zum Beispiel beim Zustandekommen von Überhangmandaten, empfehle ich, unvermeidliche Änderungen so zügig wie möglich vorzunehmen.
Ist mehr direkte Beteiligung der Bürger nötig, mehr direkte Demokratie?
Die Vorstellung, bei immer komplizierteren Sachverhalten möglichst häufig plebiszitäre Entscheidungen anstelle repräsentativer zu ermöglichen, halte ich für bestenfalls gut gemeint, aber nicht wirklich gut durchdacht. Welche der Richtungsentscheidungen in der Bundesrepublik wäre wohl über ein Plebiszit möglich gewesen? Die Entscheidung für die Einführung der Marktwirtschaft oder für den Nato-Beitritt, für den Wiederaufbau der Bundeswehr oder die Einführung des Euro und die Abschaffung der D-Mark? Mit Blick auf die 60 guten Jahre, die diese Republik hinter sich hat, haben wir Anlass, den Repräsentanten für die klugen Entscheidungen zu danken, die sie an manchen Stellen auch gegen die erkennbare Mehrheitsstimmung der Bevölkerung getroffen haben.
Viele Menschen sind besorgt, der Bundestag könne Kompetenzen zugunsten von Brüssel verlieren. Teilen Sie diese Angst?
Nichts von dem, was heute auf europäischer statt auf nationaler Ebene entschieden wird, haben irgendwelche Europäer in einem rechtswidrigen Zugriff den Mitgliedstaaten weggenommen. Alles, was heute auf europäischer Ebene verhandelt und gegebenenfalls entschieden wird, beruht auf der freiwilligen Übertragung nationaler Souveränitätsrechte auf die europäische Gemeinschaft. Wir haben gewusst, dass und warum wir bestimmte Dinge europäisch statt national entscheiden wollen. Weil wir überzeugt sind, dass es nur so oder jedenfalls überzeugender geht – etwa bei Migrations- und Umweltfragen und zunehmend auch bei Energiefragen.
Es gibt Berechnungen, mittlerweile kämen rund 80 Prozent der Gesetze aus Brüssel.
Diese Größenordnungen, die immer wieder durch die Medien geistern, sind nachweislich falsch und differenzieren nicht zwischen herausragend wichtigen und Routineentscheidungen. Es ist albern, etwa eine Verfassungsänderung im Bundestag in gleicher Weise als Gesetzgebungsvorgang zu zählen wie die 27. Novelle der europäischen Milchpreisverordnung. Weil wir freiwillig Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft übertragen haben, legen wir allerdings großen Wert darauf, dass dieser Entscheidungsprozess auf europäischer Ebene parlamentarisiert wird. Deswegen sieht der Lissabonner Vertrag sowohl die Stärkung des europäischen Parlaments als auch eine Beteiligung der nationalen Parlamente an europäischen Entscheidungsprozessen vor.
Wie sehen Sie den Bundestag 2020?
Ich bin sicher, dass es ihn dann noch gibt und dass er ähnlich unangefochten sein wird wie in den bisherigen 60 Jahren.
Das Interview führten Susanne Kailitz und Sebastian Hille.
Norbert Lammert (CDU), 60, ist seit 2005 Präsident des Deutschen Bundestages.