1989 ging es darum, die verratene Idee der Menschenrechte wieder aufleben lassen, sagt der Mitgründer des Neuen Forums Martin Böttger. Ein Gespräch über die Ziele der Revolution, ihre Vorbilder und über eine Führung, die nur noch staunend zusehen konnte, wie es mit ihr und der DDR zu Ende ging.
Blickpunkt SPEZIAL: Herr Böttger, Sie sind ein DDR-Bürgerrechtler. Was führte Sie in die Opposition?
Martin Böttger: Mein Weg dahin führte über die Zeit als Bausoldat. So konnte man in der DDR den Dienst mit der Waffe verweigern. Ich kam zwischen 1970 und 1972 mit Christen zusammen, die nicht nur aus Glaubens-, sondern auch aus politischen Gründen Waffendienst ablehnten. Diese Zeit war meine Schule der Opposition. 1976 lernte ich meine Frau kennen. Sie durfte kein Abitur machen: entweder kirchliche Betätigung in der Jungen Gemeinde oder Abitur. Der Preis für′s Abitur war ihr zu hoch. Sie ging zur kirchlichen Friedensbewegung in die Opposition.
Blickpunkt: 1989 waren Sie 42, also schon lange gegen die DDR aktiv. Ging das ohne Schrammen?
Böttger: Natürlich nicht, aber ich kam stets glimpflich davon. 1976, 1980, 1983 gab es eintägige Festnahmen, einmal 14 Tage Untersuchungshaft nach einer Friedensaktion.
Blickpunkt: Wie groß war Ihre Angst?
Böttger: Quelle meiner Kraft ist ein Satz aus dem Matthäus-Evangelium: „Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten und die Seele nicht töten können; fürchtet euch aber vielmehr vor dem, der Leib und Seele verderben kann in der Hölle.” 1989 suchten die Menschen jemanden ohne Angst. Sie brauchten keine Bedenkenträger, charismatische Führer, hoffnungsvolle Rednertalente, lavierende Realpolitiker. Gefragt waren Menschen ohne Angst, die hierbleiben, das Land verändern wollten. Als Organisator des Neuen Forums im damaligen Bezirk Karl-Marx-Stadt konnte ich meine Erfahrungen aus der Berliner Szene in die revolutionären Geschehnisse im Erzgebirge einbringen.
Blickpunkt: Was erwarteten die Menschen dort vom Neuen Forum?
Böttger: Nicht Ideen wie „Demokratischer Sozialismus” oder „Dritter Weg”. Sie suchten Leute, die den Mund auftaten, um die Wahrheit zu sagen. Ohne Zensur, ohne polizeiliche Verfolgung, ohne Berufsverbot. Keiner von uns hatte Lust, die berufliche Karriere vom Nachbeten offizieller Lügen abhängig zu machen. Sie brauchten keine neuen Ideen, wollten eine alte, vergessene, verratene Idee wieder aufleben lassen: die Idee der Menschenrechte. Da kam ich gerade recht, der schon 1975 in Chemnitz zur Maidemonstration ein Plakat trug mit der Aufschrift „Für die Verwirklichung der Menschenrechte”.
Blickpunkt: Sie waren auch bei der kirchlich organisierten Friedenswerkstatt, Mitglied der kirchlichen Versammlung Frieden, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung, sind Mitbegründer des Neuen Forums. Ist die Revolution gelungen?
Böttger: Die wichtigsten Ziele dieser Gruppen waren Frieden, Demokratie und Menschenrechte. Die Berliner Friedenswerkstatt war immer auch eine Freiheitswerkstatt. Mit dem Sturz der SED-Diktatur erreichten wir diese Ziele. Deshalb halte ich die Revolution durchaus für gelungen. Aber auch Demokratien sind verbesserungsbedürftig. So bin ich heute für Volksinitiativen, Volksbegehren, Volksentscheide auf Bundesebene; das könnte wachsende Politikverdrossenheit mindern.
Blickpunkt: Welche Vorstellungen hatten Sie, um den Staat zu verändern?
Böttger: In jenem Herbst wurde mir klar: Dieser Staat ist nicht zu reformieren, nur zu revolutionieren. Der IM „Achim Öser” berichtet im Oktober 1989 meine Antwort auf seine Frage, was das Neue Forum vom Sozialismus halte: Ich könne mir durchaus einen neuen Sozialismus vorstellen, einen wie in Schweden oder Österreich.
Blickpunkt: Welcher Rang kommt der Revolution in der Geschichte zu?
Böttger: Die Jahrzehnte der Zweistaatlichkeit und der kommunistischen Diktatur in der DDR sind Teil der Geschichte aller Deutschen, nicht nur der Ostdeutschen. Zurzeit scheinen sich jedoch vor allem Ostdeutsche darum zu kümmern. Das erkennt man daran, dass es im Westen kaum Erinnerungsstätten gibt und keine Außenstellen der Birthler-Behörde.
Blickpunkt: Was ist wichtiger, Freiheit oder Einheit?
Böttger: Freiheit ist mir immer wichtiger als Einheit. Ich hielt 1990 nichts davon, Freiheit durch Einheit zu verwirklichen. Im Gegenteil: Ich wollte zuerst ein freies Ostdeutschland, das sich selbstbewusst mit dem westlichen Teil Deutschlands vereinigen sollte. Die Mehrheit sah das anders, meinte, Deutschlands Weg in die Einheit soll möglichst schnell gehen. Noch heute wird vielen Bürgerrechtlern vorgeworfen, dass sie nicht schnell genug die Einheit anstrebten. Für mich war die Geschwindigkeit der Vereinigung nicht so wichtig wie die volle Verwirklichung der Menschenrechte. Dazu gehören eine stabile, unabhängige Gerichtsbarkeit, Presse-, Vereinigungsfreiheit, Gewerkschaften und Bestrafung der Menschenrechtsverletzungen.
Blickpunkt: Andere Oppositionelle, Robert Havemann, Wolfgang Templin, waren früher SED-Mitglieder. So eine Phase durchlebten Sie nicht?
Böttger: Nein. Jeder kann und darf sich ändern. Die Kirche wirft Paulus nicht vor, dass er vorher Saulus war.
Blickpunkt: Sie und viele Mitstreiter waren damals um die vierzig, hatten Familie. Das war ein großes Risiko. Wo waren die Jüngeren in der Revolution?
Böttger: Meine Mitstreiter waren meist um die vierzig, einige in den Dreißigern, andere etwa fünfzig. Studenten waren nicht darunter. Die Generation nach uns kümmerte sich wohl mehr um die eigene Karriere oder setzte sich über Ungarn ab. Wir Eltern wollten da nicht tatenlos zusehen. So lastete die Verantwortung für Ostdeutschland auf uns.
Blickpunkt: Hatten Sie damals Vorbilder?
Böttger: Meine großen Vorbilder waren die Menschen der Charta 77, Václav Havel, Petr Uhl, Anna Sabatova – Uhl und Sabatova durfte ich persönlich kennenlernen – und natürlich die Solidarność- Aktivisten wie Adam Michnik, Jacek Kuroń und Lech Wałęsa.
Blickpunkt: Welche Rolle spielten Leute im Westen?
Böttger: Einige Friedensgruppen Westeuropas unterstützten uns, jene, die uns stets zur END-Konferenz (European Nuclear Disarmement) einluden. Natürlich durfte keiner fahren. Aus Westdeutschland halfen uns auch einige Friedensgruppen, seit 1983 auch DIE GRÜNEN, vor allem Petra Kelly, Gert Bastian, Lukas Beckmann; trotz innerparteilicher Anfeindungen ließen sie nie den Kontakt abreißen.
Blickpunkt: Die DDR-Staatssicherheit hat Sie wohl geliebt, in Berlin und Zwickau?
Böttger: In Berlin war ich im Stasi-Jargon Operativer Vorgang (OV) „Diplom”. Die Akte umfasst zwölf Bände. Nach meinem Umzug im August 1989 nach Zwickau wanderte sie hierher. Gleich waren neue Inoffizielle Mitarbeiter (IM) auf mich angesetzt. Besonders eifrig erwies sich IM „Achim Öser”, der einer meiner Begleiter wurde. Seine Berichte zeigen die Stasi-Bemühungen, den Umbruch zu verhindern: Doch sie konnten nur staunend zusehen, wie es mit ihnen und der DDR zu Ende ging, wie sich die Revolution wie eine Sturmflut ausbreitete und verschluckte, wer sich ihr entgegenstellte. Die Stasi hatte noch mehr Informationsquellen in unseren Reihen. Unter den sechs Sprechern im Bezirk waren zwei IM. Sie berichteten aus dem engsten Führungszirkel unabhängig voneinander. Sie konnten aber das Neue Forum nicht zersetzen.
Blickpunkt: Was war anders in Chemnitz als in Leipzig oder Berlin?
Böttger: In diesem bevölkerungsreichen Bezirk demonstrierten die Chemnitzer in Chemnitz – damals hieß es noch Karl-Marx-Stadt –, die anderen im Heimatort, meist in der Kreisstadt: Zwickau ist da genauso bekannt wie Freiberg, Annaberg, Mittweida, Plauen oder Oelsnitz. Also: Allen staatstragenden Kräften, von den SED-Funktionären bis zur Staatssicherheit, stand hier ziemlich schnell und zugleich das Wasser bis zum Hals. Eine solch „zersplitterte” Entwicklung wirkte sich auf die Organisation aus. Kontaktanschriften, regionale Büros schossen in allen Kreisen wie Pilze aus dem Boden. Die meisten Mitglieder wohnten draußen im Lande. Für den Sprecherrat des Neuen Forums war das eine gewaltige Herausforderung.
Blickpunkt: Wie war der Kontakt untereinander?
Böttger: Alle Kommunikation ging zu Fuß, mit dem Fahrrad, mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder – seltener – mit dem Trabi. Die DDR-Post brauchte zu lange. Über die Post meldeten sich Sympathisanten, wenn sie nicht selbst kamen. Zunächst liefen alle Fäden in unserem Haus in Zwickau zusammen.
Blickpunkt: Wer machte die Logistik?
Böttger: Meine Frau hatte alle Hände voll zu tun: Kontaktadressen organisieren, Mitgliederlisten fertigen, Termine koordinieren. Der IM „Achim Öser”, ein Computerexperte, unterstützte sie. Das tat der Sache keinen Abbruch. Wäre die Revolution gescheitert, hätten wir uns dank der Listen wohl alle in Lagern wiedergefunden.
Blickpunkt: Bei der Landtagswahl in Sachsen plakatierte die NPD „Wir sind das Volk” …
Böttger: Eine nicht zu überbietende Dreistigkeit! Rechtsextreme gehören ganz sicher nicht zu unserer Revolution.
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„Der Anfang vom Ende der DDR: Die Jahre 1985-1990”
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Interview: Karl-Heinz Baum
Erschienen am 2. Oktober
2009
Martin Böttger, Jahrgang 1947, gehörte 1985 zu den Gründungsmitgliedern der Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM) und 1989 zu denen des Neuen Forums. Im ersten sächsischen Landtag nach der Wende war der promovierte Physiker Vorsitzender der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Seit 2001 ist er Leiter der Außenstelle Chemnitz der Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen.