Das umfangreiche Handbuch steht in der Tradition der unabhängigen Berichterstattung des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, die von der "Arbeitsgruppe Bildungsbericht" bereits Ende der 70er-Jahre begonnen wurde und hiermit fortgesetzt wird. Stand der letzte Band aus dem Jahre 1994 noch unter dem starken Eindruck der deutschen Vereinigung und der daraus resultierenden Folgeprobleme für das Bildungswesen, so ist das jetzt vorlie-gende Handbuch durch eine Reihe neuer gesellschaftlicher Entwicklungen geprägt.
Die Herausgeber nennen hier zu Beginn die Auswirkungen der anhaltenden Wirtschaftsschwäche, die verzögerte Anpassung an den europäischen und internationalen Wettbewerb, den Umbau des Sozialstaates im Kontext hoher struktureller Arbeitslosigkeit, die sich verändernde Altersstruktur der Bevölkerung und nicht zuletzt die Ergebnisse der verschiedenen internationalen Bildungsstudien. Sie alle verweisen darauf, dass das Bildungswesen sich in doppelter Hinsicht neuen Herausforderungen stellen muss - Herausforderungen, die einerseits durch die gesellschaftliche Umwelt bedingt werden, andererseits aus Modernisierungsversäumnissen im System selbst resultieren.
Diese Diagnose durchzieht als roter Faden alle Beiträge des Bandes, der Problemsituationen analysiert, Hinweise auf Handlungsoptionen gibt, sich aber bewusst mit Empfehlungen zurückhält, weil, so die Herausgeber, "kein direkter Weg von der wissenschaftlichen Diagnose zur Handlungsempfehlung führt." Sie waren gut beraten, diesen Weg zu gehen, weil Bildungspolitik eben Politik ist und hier auch Politik gefordert ist.
Für ihren "roten Faden" haben die Herausgeber eine Reihe national und international renommierter Bildungsforscher als Autoren gewinnen können. Sie haben die 18 Beiträge in fünf thematische Blöcke gegliedert. Es macht an dieser Stelle wenig Sinn, die differenzierten Befunde der einzelnen Artikel aufzulisten, vielmehr sollen Einblicke in die thematische Breite des Handbuches vermittelt werden.
Eröffnet wird es mit einem allgemeinen Teil, der zunächst die soziale Einbettung bildungspolitischer Trends in der Bundesrepublik skizziert und an internationalen Erfolgsmodellen misst. Ihnen folgt ein längerer Beitrag zu grundlegenden Entwicklungen und Strukturproblemen des allgemeinbildenden Schulwesens, der mit Blick auf die einzelnen Bundesländer auch vergleichend argumentiert, alte und neue Themen auflistet und ungelöste beziehungsweise übersehene Probleme erörtert.
Die Aufsätze von Achim Leschinsky über den institutionellen Rahmen des Bildungswesens und von Klaus Klemm über Bildungsausgaben und Bildungskosten beenden den allgemeinen Teil. Ihnen folgen ausführliche Studien zur Vorschulerziehung und Grundschule, zu den Sekundarstufen I und II sowie zum Hochschulwesen und dem facettenreichen Feld der Weiterbildung.
Der letzte Teil des Bandes widmet sich verschiedenen Einzelthemen, so der Situation von Migrantenkindern im deutschen Bildungswesen oder den Jugendlichen ohne Schulabschluss und ihren Möglichkeiten, Wege in den Arbeitsmarkt zu finden, sowie Kindern, die einer sonderpädagogischen Förderung bedürfen.
Beschlossen wird das Buch mit einem zur Zeit aktuellen und kontrovers diskutierten Thema, nämlich dem Zustand der Lehrerbildung. Ewald Terhart hat sich dieses Komplexes angenommen und er bietet den Lesern zunächst Einblicke in die Geschichte der Ausbildung "niederer" und "höherer" Lehrer, diskutiert verschiedene Strukturprobleme der Lehrerbildung - etwa das Verhältnis von universitärer und berufsprakti-scher Ausbildungsphase -, um sich dann den Forschungen zur Lehrerbildung zuzuwenden und verschiedene Modelle künftiger Reformen zu diskutieren - Modelle, die für die Universitäten so oder so neue Herausforderungen bringen würden.
Speziell die Forderungen nach einer Entstaatlichung der Lehrerausbildung decken sich "in mehrfacher Hinsicht mit der Idee zur Verknüpfung von gestufter Studiengangsstruktur und Lehrerausbildung". Terhart warnt aber auch vor solchen Entwicklungen, denn "der Verzicht auf staatliche Ausbildungs- und Prüfungshoheit könnte zur Folge haben, dass eine spezifische, von Beginn an am späteren Berufsfeld ausgerichtete Lehrerausbildung an den Universitäten faktisch nicht mehr erkennbar wäre". Und wie immer, wenn es in Deutschland um Bildung geht, fehlt es nicht an guten Vorschlägen, aber am politischen Willen, ideologisch gefärbte Schatten zu verlassen und zu konstruktiver Zusammenarbeit zu finden.
Alle Beiträge sind sehr informativ verfasst und zeugen von der großen Kompetenz der Autoren. Darin liegt unzweifelhaft die Stärke des Bandes, aber zugleich auch seine große Schwäche. Denn die Autoren bedienen sich durchweg einer hoch elaborierten Fachsprache, die den Band für ein größeres interessiertes Laienpublikum zu einer schwer verdaulichen Lektüre werden lässt. Mit Bildungsfragen bewanderte Leser werden dagegen hier ein fundiertes und umfassendes Nachschlagewerk finden, das durch sein differenziertes Sachwortregister auch einen schnellen Zugang zu Einzelfragen ermöglicht.
Kai Cortina, Jürgen Baumert, Achim Leschinsky, Karl Ulrich Mayer, Luitgard Trommer, (Hrsg.)
Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland.
Strukturen und Entwicklungen im Überblick.
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 2003;
906 S., 16,90 Euro