Die "Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina" darf - rund 350 Jahre nach ihrer Gründung - als altehrwürdig bezeichnet werden. Ihre Bedeutung im aktuellen wissenschaftlichen Diskurs ist einzigartig, zumal seit einiger Zeit zu den Jahrestagungen nicht nur Naturforscher geladen werden, sondern auch Vertreter anderer Fakultäten sowie Künstler.
Von dieser Tradition der Offenheit profitierte auch die "Gaterslebener Begegnung 2001", die unter das Thema "Freiheit und Programm in Natur und Gesell-schaft" gestellt war. Eine hochbrisante Veranstaltung, bei der es auch um Fragen ging, die hierzulande längst an der Spitze der politischen Agenda stehen. Etwa um die Frage, ob an menschlichen embryonalen Stamm-zellen geforscht werden darf oder nicht. Der vorliegende Band dokumentiert die acht Hauptvorträge und jene sich daran anschließenden Diskussionen sowie das abschließende Rundtischgespräch über die gesellschaftlichen Folgen der Forschung. Einige Gedichte, Schriftstellerlesungen und Werke der bildenden Kunst ergänzen den Tagungsbericht.
Während die Wissenschaftler in ihren Vorträgen die naturwissenschaftlichen Grundlagen, die ökonomisch-politischen Aspekte und ethischen Dimensionen menschlicher Freiheit ausloten, formulieren die Künstler in den "Anfragen an Wissenschaftler" und in der "Kunstdiskussion" vor allem ihr Unbehagen am bio-technologischen Fortschritt. Genmanipulative Eingriffe, so die Befürchtung, könnten aus dem Menschen ein weitgehend determiniertes Wesen machen - ein Wesen, das gar nicht mehr menschlich ist.
Derartige Zukunftsängste versucht der Philosoph Volker Gerhardt abzubauen, indem er konstatiert: Die Freiheit der Forschung führt nicht geradewegs zur Selbstabschaffung der Menschheit, sondern hilft lediglich, die Probleme des Lebendigen besser zu verstehen. Die Beiträge der Genetiker Anna M. Wobus und Martin Heisenberg sowie des Evolutions- und Kognitionsforschers Franz M. Wuketits verdeutlichen jedoch: Dieses "bessere Verstehen" begründet zugleich immer auch weitergehende Macht- und Deutungsansprüche der Naturwissenschaften.
Gewiss, der "freie Wille" könnte von der Wissenschaft leicht als Illusion entlarvt und der menschliche Embryo zum Mittel der Forschung degradiert werden. Aber auch die Entscheidungsfreiheit der Politik droht künftig massiven Einschränkungen unterworfen zu werden. So lässt der Biogeochemiker Ernst-Detlef Schulze keinerlei Zweifel daran, dass der moderne Mensch einen gefährlichen Klimawandel mit tiefgreifenden Folgen induziert hat. Ebenso sicher glaubt der Ökonom Rüdiger Pohl, dass es zur Globalisierung der Wirtschaft keine Alternative gibt.
Gegen die beinahe naturgesetzliche Wucht dieser beiden globalen Trends wirken die gediegen ausformulierten ethischen Hilfestellungen des evangelischen Theologen Trutz Rendtorff beinahe schon hilflos. Etwas mehr Temperament in der Gegenrede entfaltet der Kulturtheoretiker Prinz Rudolf zur Lippe. Er fällt sowohl den ungestüm voranstürmenden Naturfor-schern als auch den radikalen Globalisierern verbal in den Arm, um im Hinblick auf den Menschen und seine Menschlichkeit etwas mehr Geduld und Selbstreflexion einzufordern.
Was die Folgen wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Handelns anbelangt, überwiegen auch im Rundtischgespräch die skeptischen Töne. Vor allem der Publizist Konrad Weiß befürchtet, dass die "Würde des Menschen" - trotz Artikel 1 Grundgesetz - im weiteren Verlauf der Fortschrittsdebatte "antastbar" wird. Das Gefühl für das "Ganze", so Weiß, ist der Wissenschaft ohnehin verloren gegangen. Und daher werden die Gefahren beim Eingriff in komplexe Systeme immer wieder aufs neue unterschätzt.
Wer im notwendigen Streit um "Freiheit und Programm" nach Orientierung sucht, dem bietet dieser Tagungsband der Leopoldina eine höchst willkommene Hilfe.
Anna M. Wobus, Ulrich Wobus und Benno Parthier (Hrsg.):
Freiheit und Programm in Natur und Gesellschaft.
Nova Acta Leopoldina, Neue Folge, Band 86, Nr. 324.
Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina,
Hallle an der Saale 2002;
276 S., 29,95 Euro