Gutes Hotel, gutes Essen und ein Empfang im Schloss Bellevue: Und dennoch fühlt sich Siegfried Hirche nicht ganz wohl in seiner Haut. "Der Rummel ist mir fast zu viel", sagt der 75-Jährige aus dem sächsischen Görlitz. Er gehört am 7. Januar zu den rund 70 Bürgern, die Bundespräsident Johannes Rau wegen ihrer ehrenamtlichen Verdienste zum Neujahrsempfang in seinen Amtssitz eingeladen hat. Seit der Ära des Bundespräsidenten Gustav Heinemann (1969 -1974) wählt das Bundespräsidialamt jedes Jahr für den Empfang verdiente Menschen aus den Vorschlägen der Senats- und Staatskanzleien der Länder aus.
Hirche kümmert sich seit 1980 um die Denkmalpflege in Görlitz. Zusammen mit Gleichgesinnten richtete er den verwilderten Nikolaifriedhof wieder her und dokumentierte fotografisch den Jüdischen Friedhof und alle städtischen Friedhöfe in Görlitz. "Es gibt so viele andere Menschen, die diese Arbeit auch machen. Und ich stehe jetzt so im Mittelpunkt", sagt der 75-Jährige, der sich dennoch über die Einladung freut. Nach dem Händeschütteln bleiben wenige Sekunden zu einem persönlichen Gespräch mit dem Bundespräsidenten: "Ich habe ihn eingeladen", sagt Hirche. "Es gibt in Görlitz viel zu sehen."
Eine lange Reihe aus Bürgern und den Größen aus Gesellschaft, Wissenschaft, Politik und Wirtschaft zieht an diesem Tag am Ehepaar Johannes und Christina Rau vorbei. Das Staatsoberhaupt schüttelt rund 240 Hände. Der 19-jährige Andreas Roth aus Schweighofen in Rheinland-Pfalz gesteht, sein Herz habe vor Aufregung mächtig geklopft. "Jetzt nur nichts falsch machen", habe er gedacht. Roth engagiert sich unter anderem in der Jugendfeuerwehr und Kirchengemeinde. Rau sei "sehr nett" gewesen, erzählt der junge Mann: "Er fragte, was ich beruflich in der Zukunft machen möchte. Ich habe gesagt: Pilot."
Inge Bauer aus Kusterdingen in Baden-Württemberg engagiert sich seit 25 Jahren als "Grüne Dame". Sie besucht Klinikpatienten, liest ihnen vor, erledigt Botengänge und kauft ein. Die Einladung zum Empfang beim Bundespräsidenten habe ihr Mann für sie zugesagt. "Ich hätte vielleicht abgelehnt. Ich mache meinen Dienst lieber in der Stille", sagt die 65-Jährige. Sie freue sich, wenn ein "Dankeschön von Herzen" von den Patienten komme.
"Das ganze Leben ist ein Stück Ehrenamt", meint der 57-jährige Walter Stirm aus Marbach in Baden-Württemberg. Die Liste seiner Ämter ist lang, das Präsidialamt hebt Verdienste um die Ausbildung von Jugendlichen im Obstanbau und Engagement für biologische Pflanzenschutzverfahren hervor. "Es macht mir viel Spaß. Ich habe viele Leute kennen gelernt", beschreibt er seine Motivation. Dass Raus Amtszeit in diesem Jahr endet, bedauert Stirm: "Ich habe mich bei ihm bedankt für seine Arbeit, die ich sehr schätze." Rau sei ein Politiker, der zu dem stehe, was er gesagt habe.
Während sich die Politiker um die Nachfolge Raus die Köpfe heiß reden, halten sich die "verdienten Bürger" bei diesem Thema zurück oder zeigen sich ratlos. Stirm hält den stellvertretenden Unions-Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Schäuble (CDU) für einen Kandidaten: "Aber es ist wie bei allen Politikern: Man muss sehr vorsichtig sein", schränkt er ein. "Jeder steht irgendwann in der Kritik."
Am folgenden Tag begrüßt der Bundespräsident bei seinem Neujahrsempfang für das Diplomatische Korps 147 Botschafter und Geschäftsträger im Schloss Bellevue. Rau setzt sich dabei für eine Stärkung der Vereinten Nationen ein und verurteilt den Missbrauch des Völkerrechts durch Diktaturen. "Nicht nur die Menschen, auch Staaten sind auf Gemeinschaft angelegt in dem Sinne, dass sie auf Dauer nicht allein existieren können", sagt er am 8. Januar. Vor dem Hintergrund der Irak-Krieges hebt Rau ausdrücklich die Bedeutung der Vereinten Nation (UN) hervor. Sie seien gewiss reformbedürftig. "Die Ereignisse des letzten Jahren haben aber gezeigt, dass wir nur mit ihrer Hilfe den globalen Herausforderungen begegnen können, zu denen an erster Stelle die internationale Stabilität und Sicherheit gehört." Die UN seien nach wie vor das beste Instrument, um über die Grenzen von Kontinenten und Sprachen, von Religionen und Kulturen hinweg Lösungen für globale Probleme zu finden.
Vorurteile und das rücksichtslose Durchsetzen so genannter nationaler Interessen seien nicht verschwunden. "Vor allem religiöse Unterschiede lassen sich leicht dazu missbrauchen, Gräben aufzureißen und Gesellschaften zu spalten", so Rau. Der Doyen des Diplomatischen Korps, Kameruns Botschafter Jean Malaga, äußert sich besorgt über die terroristische Bedrohung und die vielen Konflikte auf der Welt. Die Chancen auf einen ersehnten dauerhaften Frieden seien kaum mehr erkennbar.