Das Parlament: Fühlen Sie sich persönlich noch frei, wird Ihnen beim Blick in die Zukunft manchmal mulmig?
Andreas Pfitzmann: Ich selbst fühle mich noch ziemlich frei. Lange Zeit hatte ich, um ein Beispiel zu nennen, überhaupt keine Kreditkarte, um meine Geldgeschäfte nicht registrieren zu lassen. Eines Tages habe ich dann doch das Handtuch geworfen. Nach wie vor benutze ich aber keine Bankautomaten, ich kenne nicht einmal meine PIN-Nummern. Natürlich spüre ich den Überwachungs- und Kontrolldruck, der von den neuen Techniken ausgeht. Aber als Dickkopf, der ich bin, denke ich, diesen Tendenzen weiterhin recht gut widerstehen zu können. Beim Blick auf die Gesellschaft bin ich allerdings pessimistischer. Ob Kreditkarten, Kundenkarten oder manch anderes, viele Bürger sehen bei diesen Dingen nur die Bequemlichkeit und lassen die Gefahren außer acht: zunehmende Überwachung und Verlust an persönlicher Autonomie.
Das Parlament: Überwachungskameras allerorten, die Registrierung und damit die Kontrolle der Kommunikation im Internet, Chips in der Haut, die Satellitenüberwachung des Straßenverkehrs, die bevorstehende biometrische Erfassung aller Bürger, auf Chipkarten gespeicherte Krankheiten, die Liste ließe sich fortsetzen: Angesichts dieser Entwicklung hin zur Big-Brother-Gesellschaft wird es doch wohl dazu kommen, dass kaum noch eine menschliche Lebensaktivität vom elektronischen Zugriff verschont bleibt.
Pfitzmann: Bei einer Fortschreibung dieses Trends nähern wir uns in der Tat einer Gesellschaft, in der nahezu alles überwacht wird. Da zeichnen sich durchaus totalitäre Tendenzen ab. Aber Geschichte und Lebenserfahrung lehren, dass es irgendwann Brüche und Widersprüche gibt. Die Bequemlichkeit und das Komfortbedürfnis der Menschen sind ohne Zweifel starke Bündnispartner der Überwachungsgesellschaft. Von Voltaire stammt der Satz, dass glückliche Sklaven die schlimmsten Feinde der Freiheit sind. Aber eines Tages wird den Menschen die Entmündigung bewusst, und dann wächst die Bereitschaft zum Aufbegehren. Die Informationstechnologien werfen ja auch selbst Probleme auf. Nehmen wir die Handys, die immer bessere Bilder zu machen vermögen: Es ist absehbar, dass man in Unternehmen beim Betreten sensibler Bereiche diese Mobiltelephone wird abgeben müssen. Zudem sind wir von einer absoluten technischen Perfektion Gott sei Dank noch weit entfernt. Man denke nur an das Desaster bei der LKW-Maut. Überdies ist es eine Illusion, von der Technik die Lösung menschlicher und gesellschaftlicher Konflikte zu erwarten. Meine Botschaft an die Studenten lautet so: Wir sollten eine Technik entwickeln, die keinen zusätzlichen Streit in der Welt provoziert.
Das Parlament: Wo sehen Sie denn die größten Gefahren heraufziehen?
Pfitzmann: Da sind zum einen die rasanten Fortschritte bei der Mobilkommunikation zu erwähnen. Die immer perfekteren Handys, die vielleicht auch in Hörgeräte und dann sogar direkt ins Ohr implantiert werden können, erleichtern die Erstellung von Bewegungs- und Kommunikationsprofilen. In einem solchen Fall klappt übrigens im Parlament keine Intrige mehr, und das dürfte auch Politikern nicht gefallen. Eine andere Bedrohung von Freiheit und Autonomie geht von dem aus, was man mit "Smart-Environment" umschreiben kann: Der Alltag wird von der Wohnung mit elektronisch gesteuerten Kühlschränken, Vorhängen und Heizungen bis zur satellitengelenkten Autofahrt immer bequemer und komfortabler gemanagt. Und auf der anderen Seite lebt der Mensch dann unter einer wachsenden Zahl von Kameras, Mikrophonen und Bewegungsmeldern. Ein dritter bedenklicher Trend ist der Einbau von Überwachungstechnik direkt in Geräte: So ermöglichen in Kleider integrierte RFID-Tags, also Chips mit einer Kennung, im Prinzip die Ortung eines Menschen - was auf eine Art indirektes Personenkennzeichen hinausläuft.
Das Parlament: Forscher sind inzwischen dabei, mit dem PC Gedanken zu lesen ...
Pfitzmann: Mit solchen Systemen wird es ganz dramatisch. Das mag für Behinderte, die ihre Arme und Beine nicht mehr bewusst steuern können, eine schöne Sache sein. Im Kern werden so aber die abendländische Kultur und Zivilisation ad absurdum geführt, das ist eine kolossale Erschütterung unseres Menschenbildes. Das Denken, der Kopf, so war es jedenfalls bisher, ist doch uneingeschränkt eine private Sphäre, die ausschließlich dem betreffenden Individuum gehört. Der Mensch muss frei entscheiden können, welche Gedanken er seiner Umwelt mitteilt und welche nicht. Das Denken darf nicht zu etwas werden, das dem Zugriff anderer unterliegt und somit öffentlich wird. Nun aber rückt die Maschine immer näher an den Menschen heran. Wo wird künftig die Grenze gezogen? Da stößt die Wissenschaft in ganz neue gefährliche Dimensionen vor.
Das Parlament: Schaffen die Informatiker so ganz nebenbei einen neuen Menschen? Einen, der passiv, angepasst, zurückhaltend, unterwürfig ist, der nicht mehr selbstbestimmt, nicht mehr widerständig lebt? Die zunehmende Überwachung und Kontrolle der Bürger mit Hilfe der modernen Technik kann doch nicht ohne gesellschaftliche und politische Folgen bleiben.
Pfitzmann: Wenn Menschen befürchten, dass alles, was sie reden und tun, erfasst wird und ihnen eines Tages vorgehalten werden kann, neigen sie in hohem Maße zum Konformismus. Das Volkszählungsurteil des Verfassungsgerichts aus dem Jahr 1984 war da sehr vorausschauend. Das ist ein schleichender Prozess, der das Wesen der Demokratie untergräbt. Die Demokratie basiert darauf, dass die vielen einzelnen, natürlich auch in organisierter Form, für ihre Interessen kämpfen - ohne von vornherein ausgebremst zu werden. Man stelle sich vor, die heutige Technik mit all ihren Überwachungs- und Kontrollmöglichkeiten hätte es schon in der DDR gegeben: Ob es unter solchen Bedingungen 1989 die von Oppositionsgruppen getragene Revolution gegeben hätte? Jedes Gemeinwesen lebt von gesellschaftlicher Innovation, und die ist eben oft zunächst mit Regelverstößen verbunden: Werden die durch Überwachung und Kontrolle präventiv verhindert, wird der Status quo zementiert.
Das Parlament: Informatiker erfinden immer schneller neue Dinge. Keimen da beim Blick auf die freiheitsbedrohenden Konsequenzen keine Zweifel auf?
Pfitzmann: Ich kenne eine ganze Reihe von Forschern aus unserer Zunft, die sich sehr wohl kritische Gedanken machen. Beim Blick auf die Verantwortung unserer Wissenschaft Informatik und Informationstechnik muss man differenziert abwägen. Wer Grundlagenforschung betreibt, wer etwa Halbleiter und Speicherzellen entwickelt, ist von den praktischen Auswirkungen seiner Arbeit sehr weit weg. Bei der Anwendung der Mathematik zur Analyse der Welt - das ist das Wesen der Informatik als Strukturwissenschaft - stellt sich die Frage nach der gesellschaftlichen Verantwortung zunächst eigentlich nicht. Ganz anders sieht es bei den Ingenieurwissenschaften aus: Informatiker bauen Systeme, die weitreichend in die Wirklichkeit eingreifen, da gestaltet der Forscher Realität. Und dann wächst natürlich auch die gesellschaftliche Verantwortung des Wissenschaftlers. Man muss sich schon fragen, wie sich Handys, Überwachungskameras oder RFID-Tags auf das menschliche Leben auch negativ auswirken können.
Das Parlament: Müsste man das, was mit gesellschaftlicher Verantwortung der Forschung gemeint ist, nicht stärker organisieren? Einst war allenthalben von Technikfolgenabschätzung die Rede, davon ist heute nicht mehr viel zu hören.
Pfitzmann: Es sollte da mehr geschehen. Ich bedauere es zum Beispiel, dass die Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg wieder geschlossen wurde. Manche Wissenschaftler sehen in solchen Gremien eher unergiebige Debattierclubs, was nicht meine Meinung ist. Vor allem aber denke ich, dass diese Einrichtungen so manchen Politikern nicht unbedingt in den Kram passen. Bei solchen Think-Tanks kommt nun einmal zwangsläufig heraus, dass nicht alle Zukunftsversprechen aufgehen können, und das ist für nicht wenige Politiker sicher ein Störfaktor. Ich plädiere mit Nachdruck für eine institutionalisierte Untermauerung der Selbstreflexion und des kritischen Dialogs über die gesellschaftlichen Folgen der Informatik und Informationstechnik. Unabhängige Gremien außerhalb der Universität haben dabei durchaus etwas für sich, doch sollten deren Aktivitäten mit der wissenschaftlichen Arbeit innerhalb der Hochschulen verknüpft sein.
Das Parlament: Ist diese kritische Reflexion in der Ausbildung der Informatik-Studenten angemessen verankert?
Pfitzmann: Das hängt sehr vom Engagement der einzelnen Hochschullehrer ab. Bei uns in Dresden wird das intensiv praktiziert. Aber das findet nicht überall in gleichem Maße statt. Es nützt wohl nicht viel, das Nachdenken über die gesellschaftlichen Folgen der Informatik in Ausbildungsgänge und Prüfungsordnungen aufzunehmen, diese Debatte kann man schlecht in ein Curriculum zwängen. Bei den Studenten ist jedenfalls ein enormes Interesse an diesen Fragen zu spüren. Ich appelliere an die Professoren, sich auf solche Diskussionen mit den Studenten einzulassen. Meine eigenen Vorlesungen sind freiwillig und trotzdem gut besucht.
Das Parlament: Sollte der verantwortungsbewusste Informatiker auch ein aktiver Bürgerrechtler sein, der sich für Freiheitsrechte einsetzt und der sich in die Politik einmischt?
Pfitzmann: Diese Forderung richtet sich vor allem an die Ingenieurwissenschaftler unseres Fachs. Sie müssen über die Folgen ihres Tuns nicht nur gegenüber sich selbst, sondern auch gegenüber den Bürgern Rechenschaft ablegen - und deshalb sollten sie mehr als bisher die öffentliche Debatte suchen. Das geht weit über den universitären Rahmen hinaus. Wir sollten in die Medien gehen, im Fernsehen Interviews geben, in interessierten Kirchengemeinden auftreten, uns kritischen Fragen von Bürgerrechts-Gruppen stellen. Nötig ist dabei eine verständliche Sprache. Die Informatiker dürfen keine abgeschlossene Community bilden. Dafür greift unsere Arbeit viel zu sehr in das individuelle und gesellschaftliche Leben der Menschen ein.