Maßgebliche Reformen waren es, die die Bundesregierung Anfang 2003 ankündigte. Sie sollten Deutschland endlich zukunfts- und wettbewerbsfähig machen. Ein Jahr später ist der Reform- und Modernisierungsoptimismus eher gedämpft. Rückblickend kommt dem im vergangenen Jahr aufgeführten Reformdrama der Charakter eines Lehrstücks über die Schwierigkeiten des Regierens im deutschen Bundesstaat zu. Verfolgt man die letztjährige Reformdebatte aus der Perspektive der Sozialwissenschaften, stellen sich Assoziationen zu den 70er-Jahren ein.
Mit Vehemenz ist seinerzeit in den Politik- und Verwaltungswissenschaften ein Konflikt um die Steuerungsfähigkeit des Staates und die (Un-)Regierbarkeit ausgetragen worden. Dieser Begriff ist zwischenzeitlich aus der Mode gekommen, sei es aus Missbehagen an der Vieldeutigkeit oder wegen seiner normativen Implikationen. Heutzutage werden vergleichbare Phänomene als Reformblockaden oder Modernisierungsbarrieren, öfters auch als Strukturdefizite des föderativen Systems verhandelt.
Freilich geht mit dem Wandel der Terminologie auch der explizite Bezug zum Regieren verloren - und womöglich das Bewusstsein für die gewaltigen Herausforderungen des Regierens (nicht erst) im frühen 21. Jahrhundert. "(Un-)Regierbarkeit" lässt eben keinen Zweifel daran, dass es um Grundsätzliches geht: die Durchsetzung gesellschaftlich verbindlicher Entscheidungen. In dem Maße, in dem ein Staat die Fähigkeit dazu verliert, büßt er beides ein: seine materielle Handlungsfähigkeit und seine Legitimation.
Dieser doppelte Bezug auf die Ergebnisse staatlichen Handelns (Leistungsfähigkeit) und die Verfahren mitsamt ihrer Akzeptanz (Legitimation) hat die wissenschaftliche Debatte um die Regierbarkeit seit ihren Anfängen geprägt. Dabei bilden Input- und Outputprobleme gewissermaßen zwei Seiten derselben Medaille. Sieht man von dem hier nicht zu behandelnden dramatischen Kompetenzverlust nationalstaatlicher Akteure im Zuge von Globalisierungs- und Europäisierungsprozessen ab, sind es vor allem drei Aspekte, die das Regieren und mit ihm größere Reformen erschweren:
Während das Problem im ersten Fall paradoxerweise gerade in einer Entgrenzung der Politik besteht, liegt im zweiten Fall eine "Entleerung" der Politik und im dritten eine Selbstblockade vor.
Dass der Ausbau der Staatstätigkeit die Handlungsfähigkeit des Staates letztlich einschränkt, findet sich als zentrale These bereits in frühen Texten zur Regierbarkeit. In dieser liberal-konservativen Lesart kommt die Entgrenzung seiner Zuständigkeiten den Staat gleich in doppelter Hinsicht teuer zu stehen: Sie belastet dauerhaft das Budget, vor allem aber verändert sie die Legitimationsgrundlage des demokratischen Verfassungsstaates in Richtung auf eine verstärkte Outputorientierung. Kann dieser den steigenden Erwartungen der Bürger an die Absicherung sozialer Risiken nicht entsprechen, droht ihm der Vertrauensentzug. Dem versuchen die konkurrierenden politischen Parteien durch eine weitere Steigerung der Wohlfahrt zu entgehen. Graf Kielmansegg hat darin einst einen Teufelskreis erkannt, der in den Verfahrensweisen der Demokratie selbst angelegt ist.
Birgt die Entgrenzung der Politik die Gefahr einer Überlastung des Staates, so bedeutet ihre "Entleerung", dass Regierung und Parlament kaum noch Wesentliches zu entscheiden vermögen, zumindest nicht autonom. Angesichts der Komplexität moderner Politik, ihrer Verflechtung mit der Wirtschaft und der vorhandenen Verbändemacht ist die Regierung vielfach zur autonomen Politikgestaltung nicht (mehr) in der Lage. Autoritative Entscheidungen werden infolgedessen durch komplizierte Aushandlungsmechanismen ersetzt. Der Preis dieser Art von Verhandlungsdemokratie besteht in der Abhängigkeit von wirkmächtigen Lobbys. Hinzu kommt die unzureichende Berücksichtigung schwer organisierbarer Interessen und damit zugleich ein Legitimitätsverlust.
Für die enge Abstimmung der Politik mit Unternehmensverbänden, Gewerkschaften und sonstigen Interessengruppen hält die bundesdeutsche Geschichte reichlich Anschauungsmaterial bereit. Das Paradebeispiel aus der Regierungspraxis der rot-grünen Koalition stellt wohl der Ausstieg aus der Atomenergie dar. Sorgsam wurden hier im Zusammenspiel von Regierung und Betreibern die Interessen aller Beteiligten in einem Kompromiss abgeglichen, dessen Regelungen bis weit ins dritte Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts reichen. Wie massiv der Widerstand mächtiger Interessenverbände ausfallen kann, veranschaulicht das Konfliktthema Dosenpfand. Trotz eindeutiger Vereinbarungen gegen seine Einführung gab es eine boykottartige Obstruktionspolitik seitens der Hersteller.
Angesichts der solchermaßen eng gesteckten Grenzen staatlicher Steuerungsfähigkeit erscheint die Kooperation staatlicher, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Akteure in einem anderen Licht. In einigen Politikfeldern sichert sie offenbar allererst die Regierungsfähigkeit.
Während sich die Verhandlungsmacht von Verbänden aus ihrer starken gesellschaftlichen Position ergibt, sind dem Bundesverfassungsgericht und dem Bundesrat aus Gründen der Machtdiffusion und Kontrolle vom Verfassungsgeber ganz bewusst Vetomöglichkeiten eingeräumt worden.
Beiden Verfassungsorganen ist jedoch wiederholt die exzessive Ausübung ihrer Kompetenzen zu Lasten von Parlament und Regierung vorgeworfen worden. Schlagworte vom Bundesverfassungsgericht als Ersatzgesetzgeber oder vom Bundesrat als Nebenparlament legen Zeugnis davon ab.
Auch wenn es an empirischen Anhaltspunkten dafür nicht mangelt, kann von einer systematischen und nachhaltigen Beeinträchtigung des Regierungshandelns kaum die Rede sein. Dies gilt selbst für den seit Anfang der 90er-Jahre weitgehend von der jeweiligen Bundestagsopposition dominierten Bundesrat. Zwar ist seither verstärkt der Vermittlungsausschuss angerufen worden, doch dort konnte in der Regel ein Kompromiss erreicht werden - wie zuletzt am 15. Dezember.
Gleichwohl sind die existierenden Blockademöglichkeiten der Opposition Ausdruck von Fehlentwicklungen im deutschen Föderalismus. Problematisch erscheinen neben der Exekutivlastigkeit des Bundesrates vor allem die enorm hohe Quote zustimmungspflichtiger Gesetze bei gleichzeitigem Rückgang originärer Länderkompetenzen sowie die fehlende Transparenz der Entscheidungsfindung.
Die Politikverflechtung im deutschen Bundesstaat stattet die beteiligten Akteure mit einem gewaltigen Verhinderungspotenzial aus, das durchgreifende Reformen erschwert. Die fehlende Zurechenbarkeit politischer Entscheidungen tut ein Übriges, um auf Seiten der Wähler politische Apathie und Unzufriedenheit gedeihen zu lassen.
Die hier skizzierten Probleme des Regierens - teils Strukturprobleme westlicher Demokratien, teils solche "made in Germany" - erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Modernes Regieren wird auch durch die Funktionslogiken der Mediengesellschaft erschwert - und ganz entscheidend von der Globalisierung. Aber schon Entgrenzung, Entleerung und Selbstblockade der Politik stellen die Problemlösungsfähigkeit der deutschen Demokratie auf eine ernsthafte Probe. Die Bemühungen, dem Staat Gestaltungsspielraum zurückzugewinnen, gehen im Wesentlichen in drei Richtungen.
Erstens wird zur Auflösung der Selbstblockade qua Politikverflechtung eine institutionelle Reform angestrebt. Der so genannten Föderalismuskommission ist aufgetragen, Vorschläge für eine Entflechtung von Landes- und Bundeskompetenzen vorzulegen. Zweitens erfolgt die Begrenzung der staatlichen Aufgaben sowohl auf dem traditionellen Weg der Privatisierung als auch durch die Verlagerung in die Zivilgesellschaft. Letzteres geschieht mit dem Risiko, dass mangels tragfähiger gesellschaftlicher Strukturen vormals staatliche Aufgaben nicht mehr wahrgenommen werden. Weitgehend irreversibel erscheint hingegen der Autonomieverlust der Politik. Ein Ausweg wird hier vor allem in der Forcierung kooperativer Konfliktbewältigung und in Verfahren der indirekten Steuerung gesehen.
Befindet sich nun der deutsche Bundesstaat mitsamt seinen Akteuren, Eliten wie Wählern, am Rande der Reformunfähigkeit? Für einen solchen Krisenbefund besteht kaum Anlass, zumal sich Demokratien - einem Diktum Oberreuters zufolge - per se durch eine gewisse Schwerregierbarkeit auszeichnen. Man mag den begrenzten Reformwillen der Deutschen beklagen und dafür ihre "Versorgungsmentalität" verantwortlich machen. Die Gründe könnten auch mit den Reformen in Verbindung stehen. Der Eifer in der Politik erweckt mitunter den Eindruck, als seien die Reformen bloßer Selbstzweck - ein Verdikt, das viele eilfertig ventilierte Vorschläge, aber auch Teile der verabschiedeten Gesetzespakete trifft. Unbestritten ist, dass der Reformmotor der deutschen Verhandlungsdemokratie langsam auf Touren kommt - und sich einzelne Politikfelder reformresistent erweisen. Durch einen generellen Reformstau ist die politische Lage in Deutschland jedoch nicht gekennzeichnet.
Michael Edinger ist Politikwissenschafter an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.