Das Parlament: Gehören die Migrationsforscher zu den wissenschaftlichen Stars der Zukunft?
Straubhaar: Von Stars möchte ich nicht unbedingt reden. Die Bedeutung dieser Disziplin wird aber gewaltig zunehmen. Die Aufwertung ergibt sich ganz einfach aus den wachsenden Migrationsbewegungen. In den USA, seit jeher ein Einwanderungsland, hat diese Forschung traditionell einen höheren Stellenwert als in Europa. Hierzulande ist man sich dieser Problematik erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs so richtig bewusst geworden, als etwa im Zuge der Kriege in Ex-Jugoslawien Flüchtlingsmassen in die Bundesrepublik und andere europäische Staaten strömten. Solche Erfahrungen fördern die politische und auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Thema.
Das Parlament: Die junge Disziplin der Migrationsforschung spielt in der Öffentlichkeit noch keine große Rolle. Solche Wissenschaftler melden sich mit Berechnungen über die Notwendigkeit von Zuwanderung wegen der Rentensicherung oder mit Vorschlägen für Integrationsprojekte zu Wort. Das trifft nicht unbedingt den Nerv der politischen Diskussion.
Straubhaar: Diesen Eindruck kann man schon bekommen. Er wird allerdings der intensiven migrationswissenschafltichen Arbeit nicht gerecht. Die Öffentlichkeit und die Politik nehmen die Migrationsforschung nicht adäquat wahr. Beispielsweise stehen an der Spitze einiger großer Wirtschaftsinstitute Ökonomen, die sich explizit auch als Migrationsforscher verstehen. Das trifft etwa auf Klaus Zimmermann vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung oder auf mich zu. Politik und Medien konzentrieren sich oft auf tagesaktuelle Effekte, da kocht das Thema Migration dann hoch, wenn in Sensationsmanier über Ausländerkriminalität oder Asylmissbrauch berichtet und gestritten wird. Langfristig angelegte Grundlagenforschung hat es hingegen schwer, sich medial in Szene zu setzen. Aber das dürfte sich ändern. Die Zuwanderungskommission, in der Wissenschaftler saßen, oder die Kontroverse um das Zuwanderungsgesetz sind Zeichen eines solchen Wandels.
Das Parlament: Ist denn ein Migrationsforscher per se pro Zuwanderung?
Straubhaar: Das hängt von der jeweiligen wissenschaftlichen Disziplin ab. Für meine ökonomische Zunft kann man diese Frage klar mit Ja beantworten. Unter wirtschaftlichen Aspekten ist Migration positiv einzustufen. Anders sieht das vielleicht bei Soziologen aus, die sich mit Problemen bei der Integration von Einwanderern auseinandersetzen. Auch Politologen können unter Umständen eine eher kritische Sichtweise entwickeln, wenn sie sich mit dem konfliktbeladenen Wertewandel in einer von Immigration geprägten Gesellschaft beschäftigen. Und Ökologen oder Biologen richten möglicherweise den Blick auf die denkbare "Überbevölkerung" eines Landes, das Zuwanderer in besonders großer Zahl anzieht. In Deutschland ist wegen des in der Geschichte wurzelnden Selbstverständnisses einer Kultur- oder Abstammungsnation eine distanzierte Haltung gegenüber der Migration ohnehin stark ausgeprägt. In den USA ist das in diesem Ausmaß nicht der Fall. Übrigens auch nicht in der Schweiz, die sich als Willensnation und nicht von der Abstammung her definiert.
Das Parlament: Welches sind denn die zentralen Zukunftsthemen für die Migrationsforschung?
Straubhaar: Eine große Aufgabe liegt in der Erarbeitung tragfähiger Konzepte für eine gesteuerte Zuwanderung. Einerseits ist Immigration erwünscht und auch notwendig. Andererseits kann es keine offenen Grenzen geben, es können nicht alle kommen. Welche Kriterien aber sollen gelten für eine geregelte Zuwanderung, wer soll in welcher Zahl einreisen dürfen? Da dreht es sich für die Ökonomen um Quoten im Blick auf Wirtschaft und Arbeitsmarkt, für die Soziologen um die Integrationsfähigkeit, für Politologen um die Vermittlung demokratischer Werte an die Neuen. Es ist eine komplizierte Sache, in diesem Koordinatenfeld Modelle für ein ausgewogenes Gleichgewicht bei einer gesteuerten Einwanderung zu entwickeln. Das ist nicht nur politisch, sondern auch wissenschaftlich eine heikle Gratwanderung: Man darf die Grenze zu einem "latenten Rassismus", wie ich es mal nennen will, nicht überschreiten.
Das Parlament: Verändert die Migration nicht die herkömmlichen Staaten?
Straubhaar: Ein anderes wichtiges Zukunftsprojekt für unsere Wissenschaft ist ohne Zweifel die Auseinandersetzung mit dem Staatsbegriff und der Staatsangehörigkeitsfrage. Welche Rechte und Pflichten sollen Einwandernde haben? Wie verändert sich ein Staat, in dem Menschen mit mehreren Identitäten leben, kann man etwa gleichzeitig ein guter Deutscher und ein guter Türke sein? Staatsrecht ist für Migrationsforscher keine abstrakte Rechtsgelehrtendiskussion, schließlich geht es konkret um Menschen. Erwähnen möchte ich noch ein drittes Thema, das wenig beachtet wird: Wie wirkt sich die Abwanderung höher Qualifizierter aus einem Staat aus? Wenn nur gering qualifizierte, nicht mobile Menschen in einem Land zurückbleiben, kann das verhängnisvolle wirtschaftliche Auswirkungen haben. Andererseits verlottern in den USA viele öffentliche Schulen, stattdessen holt man sich Hochqualifizierte von außen, deren Ausbildung man nicht bezahlen musste.
Das Parlament: In Deutschland und nicht nur hier existiert viel Furcht vor einer Einwanderung in die Sozialsysteme. Vor Italien und Spanien finden Flüchtlinge aus Afrika den Tod im Meer. Ist das alles aber erst ein Vorgeschmack auf den massenhaften Drang der Armen aus dem Süden zu den Reichen im Norden?
Straubhaar: Diese Angst halte ich für übertrieben. Bisher leben weniger als fünf Prozent der Weltbevölkerung, das sind gut 200 Millionen Menschen, in einem anderen als dem angestammten Land. Die Menschen lassen sich vom Prinzip Hoffnung leiten: Sehen Sie eine Perspektive im eigenen Staat, wandern sie nicht aus. Deshalb dürfte es auch keinen großen Zuzug aus Ost- nach Westeuropa geben - weil eben die Mitgliedschaft in der EU eine Verbesserung der Lebensverhältnisse verspricht. So ist es ja auch mit Italien, Griechenland oder Spanien gelaufen, Gastarbeiter aus diesen Ländern sind heute weitgehend unbekannt. Sollte es jedoch zu einem massenhaften Andrang aus Afrika kommen, würde dies in Europa wegen der enormen ethnischen, religiösen, kulturellen und sozialen Unterschiede zu harten Konflikten führen. Der Norden ist also gut beraten, gegenüber Afrika eine entwicklungsfördernde Politik betreiben, wozu etwa eine Öffnung der hiesigen Märkte für Produkte aus dem Süden oder die Hilfe beim Aufbau demokratischer Regierungssysteme gehören.
Das Parlament: Für Internationalisten, vor allem linker Couleur, war der Kosmopolit stets eine politische Vision. Erwächst nun der "Weltbürger" ganz selbstverständlich aus dem Alltag der Globalisierung?
Straubhaar: Ich warne vor Illusionen. Diese weltbürgerlich gesonnenen "Globalisierungsnomaden" machen unter den Wanderungswilligen nur einen kleinen Teil aus, mehr als zehn Prozent sind das nicht. Das sind Leute, die Geld haben, die hochqualifiziert, mobil, persönlich unabhängig, kulturell aufgeschlossen sind. Diese Kosmopoliten werden nie ein Massenphänomen. Man kann ja auch geradezu das Gegenteil beobachten, dass es nämlich als Reaktion auf die Konfrontation mit der Migration zu einem Rückzug in nationale Mentalitäten kommt, dass gar ein neuer Nationalismus entsteht. Tendenzen dieser Art sind beispielsweise in Osteuropa zu beobachten.
Das Parlament: Wanderungsbewegungen sind kein friedliches Idyll, das ist häufig mit Auseinandersetzungen, ja mit Gewalttätigkeiten verbunden. Bringt die Migration ganz neue Konflikte mit sich, zwischen "reaktionären Fundamentalisten" und "progressiven Weltbürgern"?
Straubhaar: Eine Entwicklung in diese Richtung sehe ich durchaus. Es kann ja nicht folgenlos bleiben, wenn die Menschen eines Landes auf der Straße zunehmend Schwarze oder Frauen mit Kopftüchern sehen. Automatisch beginnt dann etwas, was sonst gar nicht stattgefunden hätte, nämlich eine Selbstreflexion, man fragt nach sich selbst, nach den eigenen Wurzeln, nach der angestammten Identität. Hinzu kommt die Furcht vor dem Kampf um wirtschaftliche und soziale Töpfe, die Sorge vor einem Wandel der gewohnten Verhältnisse, der politischen und kulturellen Werte. Man kann eine solche Herausforderung konstruktiv-offensiv angehen und die Zuwanderung als Chance für Neues, für Innovatives begreifen. Man kann aber auch abwehrend-defensiv reagieren, sich in nationale Traditionen flüchten, sich abschotten. Das Problem ist, dass diejenigen, die im erstgenannten Sinne denken, oft ihrerseits in die Ferne streben und dann der zweiten Gruppe das Terrain überlassen.
Das Parlament: Wann sind die Tage der bislang bekannten Völker wie Deutsche, Russen oder Franzosen gezählt? Entstehen als Folge der Migrations-Melange neue Völker, kulturell, auch biologisch?
Straubhaar: Das glaube ich nicht. Die jetzigen Völker werden nicht verschwinden. Zuweilen ist es ja so, dass Zuwanderer sogar die besseren Staatsbürger werden. In den USA schwenken nicht wenige Einwanderer die Nationalflagge besonders häufig. Erkennbar ist indes etwas anderes: Über die traditionelle Identität hinaus werden sich weitere Identifikationsmuster herausbilden. Deutsche, Franzosen und Italiener bleiben Deutsche, Franzosen und Italiener, sie werden sich aber zusehends gemeinsam als Europäer verstehen. Ein anderes Beispiel ist die Rückbesinnung auf das Regionale. Man kann auch an international vernetzte soziale Bewegungen wie Attac oder die Grauen Panther denken. All das ist aber etwas Zusätzliches, keine Alternative zur Nation.
Das Parlament: Und Sie selbst?
Straubhaar: Ich fühle mich als Hamburger, finde das Leben dort sehr schön. Meine Heimat aber bleibt die Schweiz. Ich wäre glücklich, die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen zu können, aber dazu müsste ich meine eidgenössische aufgeben. Und das will ich nicht.
Das Parlament: Was heißt eigentlich "Integration"? Anpassung der Zuzügler an die einheimische Identität?
Straubhaar: Ursprünglich war das so einmal gedacht. In der Realität ist freilich unter dem Druck des Faktischen eine Tendenz zur Transnationalität zu registrieren. Das ist ein offener Prozess ohne vorgegebenes Ziel. Eine kluge Integrationspolitik sieht in der sinnvollen Gestaltung dieses Prozesses, der offen bleiben muss, ihre Aufgabe. Da ist auch die Migrationsforschung gefordert.
Das Parlament: Themen über Themen für Ihre Zunft. Aber scheitert der Ausbau dieser wissenschaftlichen Disziplin nicht einfach am Geld, bei den Universitäten wird doch hart gespart?
Straubhaar: Da bin ich guten Mutes. Natürlich wird der Konkurrenzkampf um die kleiner werdenden Töpfe schärfer. Ich weiß jedoch auch aus eigener Erfahrung, dass man sehr wohl öffentliche und private Mittel zur Finanzierung neuer Forschungsprojekte im Bereich der Migration akquirieren kann. Wanderungsbewegungen prägen zusehends das gesellschaftliche Leben, und das puscht auch unseren Wissenschaftszweig.