Wenn in Science-Fiction-Filmen düstere Hintergrundmusik einsetzt, Bordcomputerlichter flackern und der Raumschiffkapitän sorgenvoll von einer "Störung des Raum-Zeit-Kontinuums" spricht, dann weiß man verlässlich: Hier geht etwas schief. Ohne Hintergrundmusik und Bordcomputer merkt man es im realen Leben dagegen nicht ganz so schnell, wenn die Zeit aus den Fugen gerät und nicht mehr zum gewohnten Leben passen will. "Geschichten für eine immer schneller werdende Kultur" nannte der kanadische Autor Douglas Coupland schon Anfang der 90er-Jahre seinen Zeitgeistroman "Generation X". Seither hat unser Alltag noch einen Zahn zugelegt.
Zumindest haben viele Menschen das Gefühl, alles passiere irgendwie schneller. Tatsächlich sind es aber vor allem immer mehr Eindrücke und Umweltreize, die wir verarbeiten müssen. Schnellere Schnitte im Fernsehen, viel mehr Bilder in viel kürzerer Zeit, ein wilder Reigen von Trends und Moden, die sich in immer kürzeren Abständen abwechseln - selbst der Weg zum Superstar dauert da nur noch ein paar Wochen. Der Tag hat immer noch 24 Stunden, doch in denen passiert viel mehr als früher.
Das macht die Menschen müde - und ist doch erst der Anfang. Die Lebensrhythmen werden sich in unserer Informationsgesellschaft in den kommenden Jahren weiter drastisch verändern. Die Turbulenzen und Zeitstrudel, welche die Menschen im Übergang von der agrarischen zur industriellen Gesellschaft durcheinanderschüttelten, als man sich plötzlich sehr schnell an die völlig neue Zeitwelt der Fabrik anpassen musste, werden dagegen geradezu behaglich erscheinen - so sagen es jedenfalls die Zeitforscher.
Zeitforscher sind eine Berufsgruppe, die eigentlich gar nicht existiert, erklärt einer ihrer prominenten Vertreter, der Münchner Wirtschaftspädagogik-Professor Karlheinz Geißler: "Zeitforschung ist keine eigene wissenschaftliche Disziplin, und deshalb gibt es eigentlich auch keine Zeitforscher". Zwar spezialisieren sich manche Wissenschaftler ganz auf den Zeitaspekt ihrer Disziplin - etwa die Chrono-Biologen, die sich beispielsweise der Erforschung der "inneren Uhr" widmen, oder die Chrono-Pharmakologen, welche die Zeitrhythmen bei der Vergabe von Arzneimitteln untersuchen. Doch eigentlich, so Geißler, ist Zeit ein vagabundierendes Thema, das viele Fakultäten betrifft: Physiker, Wirtschaftswissenschaftler, Informatiker, Soziologen, Ethnologen oder auch Pädagogen - schließlich täten letztere ja nichts anderes, als über die Zeit von Schülern und Lehrern zu verfügen.
Obwohl Zeitforschung also die meisten Wissenschaften berührt, finde keine enge Vernetzung zwischen den Fachbereichen statt, sagt Geißler: "Es gibt zwar eine Internationale Vereinigung für Zeitforschung, die alle zwei, drei Jahre tagt, doch das ist eher eine Art Altherrengesellschaft." Dabei hat die Zeit- und Zukunftsforschung in der vergangenen Jahren stark an Bedeutung gewonnen. Der Wirtschaftspädagoge: "Unser Forschungsgegenstand verändert sich ja nicht, weisich die Zeit verändern würde, sondern weil sich die Gesellschaft und mit ihr die alltäglichen Problemstellungen verändern."
In den 70er-Jahren hielt man Zeitforscher noch für eine exotische Erscheinung. Anfang der 80er-Jahre war das Interesse an diesen Ideen plötzlich riesengroß - vor allem in Zusammenhang mit der Debatte um die Arbeitszeitverkürzung. "Da hat dann auch die IG Metall bei uns angerufen und Fragen gestellt", erinnert sich Geißler. Denn die Thesen der Zeitforscher sind mehr als kuriose Gedankenspiele im Elfenbeinturm. Der Münchner Wissenschaftler, dessen Arbeitsschwerpunkt das Zusammenspiel von Zeit und Ökologie ist, nennt konkrete Beispiele: "Wenn der Mensch die natürlichen Rhythmen beschleunigt, können ökologische Schäden entstehen. BSE etwa ist letztlich ein Zeitphänomen: Es entstand, als man versuchte, über das Futter die Rindermast zu beschleunigen. Und auch das Hochwasser an der Elbe wurde durch die Beschleunigung der Flussläufe ausgelöst."
Doch Zeitforscher brauchen keine Katastrophen, um auf die Bedeutung des Faktors Zeit hinzuweisen, die im alltäglichen Leben noch steigen wird. "Neben Macht, Geld und Aufmerksamkeit wird Zeit zur neuen Leitwährung werden", so Managementberater Reinhard K. Sprenger. Zeit als neues Statussymbol also. Und als Kriterium, das die Gesellschaft neu in Schichten einteilen wird, so der Medienphilosoph Norbert Bolz: in die Gewinner, die genug Geld haben und es dafür ausgeben, um Zeit zu sparen, und in die Verlierer, die viel Zeit investieren müssen, um etwas Geld zu gewinnen.
Während also die Wohlbegüterten etwa ihre Flugtickets im letzten Moment buchen, um möglichst lange flexibel zu sein, surfen die weniger Wohlhabenden auf der Suche nach Billigflügen stundenlang im Internet, legen sich Wochen im voraus auf einen Termin fest und schränken so ihre zeitliche Flexibilität ein.
Karlheinz Geißler zweifelt, ob das Tauschgeschäft Zeit gegen Geld in der Praxis reibungslos klappt: "Wirtschaftlich gesehen ist das durchaus logisch und produktiv. Wenn aber die Gesetze der Ökonomie auf den Alltag übergreifen, wird es oft problematisch." Aus seiner Sicht ist Zeit auch keine Währung: "Man kann sie nicht sparen." Wer heute seine Arbeit eine Stunde schneller erledige, habe morgen nicht 25 Stunden zur Verfügung. Und Zeit ist kein knappes Gut: "Es kommt andauernd neue nach, und zwar genügend."
Warum aber ist die Zeit, die doch immer schon da war, plötzlich so wertvoll geworden, dass Menschen dafür bezahlen wollen? Weil sich die Ordnungsstrukturen des Alltags verändert haben. Früher waren die Tage durch die beiden Phasen Arbeit und Freizeit bestimmt. Heute haben diese festen Blöcke als Folge der zunehmenden Individualisierung unseres Lebens längst zu bröckeln begonnen. Es gibt keine klar definierte Arbeits-, keine festgeschriebene, garantierte Freizeit mehr. Beide Bereiche überlappen sich zusehends - nicht nur, wenn man sich Arbeit ganz konkret und greifbar in Form von Akten oder Unterlagen mit nach Hause nimmt, sondern auch, wenn man abends bei Nüssen und Bier immer noch über das laufende Projekt nachdenkt statt sich zu entspannen.
Angesichts dieser Tendenzen teilen Soziologen den Alltag in Weltzeit und Eigenzeit ein. Die Weltzeit umfasst dabei all die festen Termine, die den Menschen von außen verordnet werden: feste Arbeitszeiten, Flugpläne, Fernsehprogramme, alles nötige Festlegungen, damit die Welt funktioniert. Eigenzeit nennt man dagegen jene Zeit, über die man völlig frei verfügen kann - was längst nicht dasselbe ist wie die altbekannte Freizeit, die durch Vergnügungsaktionismus und Ausgehzwang längst von ebenso vielenterminlichen Verpflichtungen durchzogen ist wie die Arbeitszeit.
Weil Welt- und Eigenzeit im Gegensatz zu Arbeits- und Freizeit keine klar festgelegten Sphären sind, müssen die Menschen aus Sicht der Zeitforscher zunehmend flexibel mit beiden Bereichen umgehen. Karlheinz Geißler sieht die Lösung im Gebrauch unterschiedlicher Zeitformen: "Das Prinzip Schnelligkeit ist inzwischen ausgereizt, jetzt werden Zeitformen wie Warten, Pause, Langsamkeit die Konkurrenz bestimmen."
Ganz wie in der Whisky-Werbung, in der die Uhren anders ticken, in der "alles eben ein bisschen langsamer" läuft: Die Qualität von Waren wird sich, so Geißler, in Zukunft vermehrt daraus ermessen lassen, wieviel Zeit für die Produktion aufgewandt wurde. Auch die Arbeitskultur werde sich entsprechend verändern: "Es ist effektiver, täglich acht Stunden mit Pausen zu arbeiten als sechs Stunden hochverdichtet."
Vorher allerdings müssen sich die Menschen von der Illusion verabschieden, durch immer mehr Beschleunigung Zeit zur freien Verfügung gewinnen zu können. Schließlich habe das bei der Entwicklung immer schnellerer Autos schon nicht funktioniert, meint Geißler: "Wir sind ja jetzt nicht schneller an einem Ort, sondern bereisen mehr Orte in gleicher Zeit." Die Menschen haben nach seiner Auffassung nicht zu wenig Zeit, sondern zu viele Möglichkeiten: "Die Leute wollen immer Zeit sparen, sie sollten einfach weniger tun, dann ist die Sache erledigt."
Die Zeit mal ungenutzt verstreichen zu lassen: Wäre das also die Lösung? "Wirtschaftlich gesehen, eine Katastrophe,persönlich gesehen ein voller Erfolg."
Anja Rützel ist Wissenschaftsredakteurin bei der "Stuttgarter Zeitung".