Die Zeit des Studiums war ein Lebensabschnitt, in dem die zukünftige Elite des Landes sich auch weitab vom eigenen Fächerkanon ausprobieren durfte. Wer nicht gerade zum politisch radikalen Verfassungsfeind mutierte, verbaute sich durch diese intensive Selbsterforschung trotzdem nicht die Zukunft: Am Ende stand der Abschluss und dann, mit großer Wahrscheinlichkeit, der Eintritt ins Berufsleben. Wenn alles gut ging arbeitete man sich "hoch", blieb vielleicht ein Leben lang einem Unternehmen oder einer Behörde treu.
Das sind Geschichten aus der Vergangenheit. Die Zukunft sieht anders aus. Geistige und räumliche Mobilität werden die wichtigsten Posten im Lebenslauf sein. Der Präsident der Freien Universität Berlin, Dieter Lenzen, sagt voraus, dass sich künftig jeder Akademiker im Laufe seines Lebens in fünf Berufen probieren müsse - wenn auch in artverwandten Tätigkeiten. Und das bis zum Alter von immerhin 70 Jahren. Eine solche Prognose hätte den Hochschülern vor 20 Jahren den Atem stocken lassen.
Die Studenten von Morgen werden anders als frühere Generationen nicht mehr auf einen Arbeitsmarkt treffen, der für sie im Vergleich zu ihrer Elterngeneration einen Aufstieg verheißt. Oft ist das Gegenteil der Fall: Die meisten Hochschüler müssen schon jetzt während des Studiums jobben, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Wer einen Universitätsabschluss macht, kann kaum damit rechnen, danach schnell eine gut dotierte Festanstellung zu bekommen.
Oft verläuft der Berufsteinstieg mühselig und zäh, ein Praktikum folgt auf das andere, es gibt höchstens Zeitverträge, Assistenzen, Projektstellen. "Der Student der Zukunft muss mehr ein Manager seiner selbst werden", sagt Ulrich Teichler, Geschäftsführender Direktor des Wissenschaftlichen Zentrums für Berufs- und Hochschulforschung in Kassel. Er werde sich innerhalb des Studiums darum bemühen müssen, seine eigene Qualifizierung "zusammenzustellen". Der künftige Student könne sich nicht nur in vorgegebenen Bahnen bewegen, sondern müsse nach einer eigenen Profilierung suchen, so Teichler. Ähnliches prognostiziert auch der Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, Peter Gaehtgens.
Globalisierung ist in Zukunft nicht mehr ein Terminus Technicus, der lediglich als Fachbegriff in Wirtschaftsteilen von Zeitungen benutzt wird. Für die Studenten findet die Globalisierung im Seminar statt. Dort werden Kommilitonen aus aller Welt sitzen. Es wird selbstverständlich erwartet werden, dass man mit ihnen kommunizieren kann, nicht nur auf Deutsch, Englisch oder Französisch, sondern nötigenfalls auch auf Chinesisch, Polnisch oder Russisch. "Studierende müssen sich einen weltweiten Horizont aneignen und mit anderen Kulturen sehr viel vertrauter umgehen als bislang", sagt Gaehtgens. Außerdem müsse der Hochschüler von Morgen verstehen, dass das, was er während seiner Ausbildung lernt, nur eine erste Etappe ist. Gaehtgens: "Neben der mobilen Beweglichkeit benötigen die Studierenden eine stärkere geistige Beweglichkeit."
Philipp Ther hat in den USA studiert, ist Osteuropaexperte und spricht fließend Polnisch. Der Juniorprofessor an der Viadrina in Frankfurt/Oder erlebt die Veränderungen schon jetzt in der Praxis: "Ich sehe bei meinen Studenten ein viel größeres Verständnis für andere Kulturen. Die haben ihren Urlaub nicht nur in England und Italien verbracht, so wie meine Studentengeneration noch." Auslandssemester sind heute normal. Doch sei es auf der anderen Seite auch wichtig, für die Hochschüler Anreize zu schaffen. Wie in der Diskussion dieses Winters immer öfter von politischer Seite gefordert, plädiert auch der Juniorprofessor für die Einführung von Studiengebühren. Über die Höhe streiten sich die Fachleute. Manche nennen 100 Euro im Semester, andere wollen es bei 500 Euro bewenden lassen. Ther kann sich durchaus 1.000 Euro Studiengebühren im Semester vorstellen, "wenn sie sozial gestaffelt sind". Seine Begründung: "Denn nur dann verstehen die Studenten, dass die Lehre auch etwas wert ist. Dass Bildung Geld kostet." Wobei der Gedanke der Elitenbildung kein Tabu mehr ist: "Die besten 15 Prozent eines Jahrgangs sollen nichts zahlen müssen. Das schafft einen Anreiz."
Viele Hochschüler nebst ihren organisierten Interessenvertretungen engagieren sich indes nach wie vor gegen Studiengebühren. Sie befürchten, dass sich dann zahlreiche junge Leute das Studium nicht mehr leisten können. Aber Philipp Ther erwartet Veränderungen nicht allein von den Studenten. Auch die Hochschulen müssten sich neuen Bedingungen anpassen. "Die Uni muss stärker als Dienstleister wahrgenommen werden", glaubt der Wissenschaftler, der auch für Rankings von Professoren eintritt - denen nach seiner Ansicht durchaus Sanktionsmöglichkeiten folgen müssten, wenn ein Hochschullehrer nicht die nötige Punktzahl erreiche. Auf diese Weise solle sich innerhalb der Universitäten im Interesse von Lehre und Forschung der Wettbewerb erhöhen.
Auch Peter Gaehtgens sieht in der Veränderung der Hochschulen und der Studenten einen beidseitigen Prozess. Das Verhältnis der angehenden Akademiker zu ihrer Universität müsse sich grundsätzlich erneuern und umgekehrt: Die Beziehung der Hochschüler zur Institution müsse enger werden, auch emotionaler. "Dann werden die Studierenden die Universität stärker gestalten, und zwar über ihren Abschluss hinaus", hofft der Präsident der Rektorenkonferenz. Als Beispiel verweist er auf die Hochschulen in den USA, an denen Studenten und Absolventen meist eine enge emotionale Bindung zur "eigenen" Universität hätten und pflegten. Gaehtgens hält es deshalb auch für sinnvoll, wieder mehr zeremonielle Feiern zu inszenieren, die den Wert und die Wertschätzung der Ausbildung emotional verdeutlichen und erfahrbar machen sollen.
In gewisser Weise hat dieses stärkere emotionale Verhältnis mit dem Streik in diesem Winter schon begonnen. Es zeigt sich ein neues Selbstverständnis der Studierenden, das über das Ende des Streiks hinausweist. "Der Protest richtet sich von vornherein nach außen und nicht in die Universität hinein", sagt Marcus Llanque, Politologe an der Berliner Humboldt-Universität: "Das ist völlig neu." Die Studenten bedienen sich ungewöhnlicher und witziger Formen, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu erlangen: Sie übernachten bei Ikea, sitzen auf dem Boden und flicken mit Nadel und Faden "löchrige Sparstrümpfe", um "Haushaltslöcher zu stopfen".
Während des Streiks bleiben - wie beispielsweise an der Berliner Humboldt-Uni - die Bibliotheken geöffnet. Wenn Seminare abgehalten werden, dann wird gleichzeitig sichergestellt, dass Hochschüler, die aufgrund des Streiks nicht an Veranstaltungen teilnehmen, trotzdem einen Schein bekommen können. Sie sollen kein Semester verlieren müssen. Anders als früher ist der Protest nicht ideologisch motiviert. Die Studenten versuchen vor allem, ihre Interessen zu vertreten. "Die demonstrieren wie die Polizei", sagt Llanque und meint das nicht abwertend.
Den Hochschülern geht es vor allem um ihre Zukunft als Bildungselite. "Was für ein Selbstverständnis drückt sich darin aus, wenn man in sein Institut geht, das nur noch eine Rostlaube ist, und in einem Gebäude arbeiten soll, das so abgeblättert und kaputt ist, dass alles von den Wänden bröckelt? Sind wir eigentlich noch die zukünftige Elite? Und wie geht man mit Eliten um?", fragte eine Berliner Studentin bei einer Diskussion. Das System Universität, so scheint es, ist bedroht. Dozenten und Professoren stellen sich an die Seite ihrer Hochschüler. Das ist neu.
Den Scheinerwerb trotz Streiks zu gewährleisten, zeigt einen neuen Willen zur Effizienz des Studiums. Alle wissen: Sie müssen später irgendwie auf dem schweren Arbeitsmarkt bestehen. Mit Praktika und Jobs versuchen viele, nicht nur das nötige Geld zu verdienen, sondern darüberhinaus in Nischen zu gelangen. "Lernen wird künftig zwangsläufig stärker am Tätigkeitsfeld orientiert sein", sagt Gerd Walter, Dozent für Stadt- und Regionalentwicklung an der Technischen Universität Berlin: "Die Studenten denken stärker als früher lösungsorientiert."
Entsprechend finden sich immer mehr Hochschüler, die ihre eigene Zukunft konkret und professionell planen. Oft reicht ihnen der Gang zur traditionellen Studienberatung nicht mehr aus. Sie lassen sich von Finanzdienstleistern professionell beraten und wechseln dann nicht selten zu Privatuniversitäten, die oft eine bessere Betreuung und effizientere Ausbildung anbieten - aber eben auch Geld kosten.
Wenn sich Studenten an Privatunis einschreiben wollten, gehöre es auch dazu, sich zu fragen, ob man es sich leisten könne, mit 80.000 Euro Schulden den Berufseinstig zu wagen, sagt ein Berater des Finanzdienstleisters MLP, der namentlich nicht genannt werden möchte. In seinen Beratungen säßen immer wieder junge Leute, die beispielsweise an die Europäische Wirtschaftshochschule Berlin gehen möchten. Das Besondere dieser Bildungseinrichtung: Sie hat weitere Standorte in Madrid, Oxford und Paris.
Das Studium selbst findet Jahr für Jahr an einem anderen Sitz statt. Den Absolventen winkt am Ende ein Dreifachdiplom: das französische "Diplome der Grande École", den britischen "Master of Science" sowie den deutschen Titel "Diplom-Kaufmann/-Kauffrau". "Immer häufiger erlebe ich in den Beratungen sogenannte Vertreter der ‚Generation der Erben'. Aber anders als manche glauben, ruhen sich die nicht darauf aus. Die wollen schnell durchs Studium kommen und schauen, dass sie gut aufgestellt sind", sagt der MLPer.
Mehr Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit sollen auch die Umstrukturierung des staatlichen Hochschulwesens prägen. Das deutsche System gilt als überaltert, die Studienzeiten sind vielfach zu lang. Um der Internationalisierung der Universitäten gerecht zu werden, führen immer mehr Hochschulen in der Bundesrepublik den Bachelor und den Masterstudiengang ein. Von 2010 an sollen die alten deutschen Studienabschlüsse auslaufen.
Auch eine Habilitation wird es dann nach derzeitiger Beschlusslage der Kultusministerkonferenz nicht mehr geben. Das wird wiederum den Doktor aufwerten, der an den Universitäten gleichbedeutend mit dem Juniorprofessor ist. In Anlehnung an das angelsächsische Modell sind die Studiengänge Master und Bachelor verschulter als das herkömmliche hiesige System. Die Betreuung durch die Dozenten ist intensiver, und nach etwa sechs Semestern kann man beim Bachelor einen Abschluss erreichen. Der Master baut auf diesen Abschluss auf.
Dieter Lenzen prognostiziert als Folge der demografischen Entwicklung ohnehin einen höheren Bedarf an Akademikern. Die müssen aber nicht immer alle exzellent ausgebildete Wissenschaftler sein. Für die Anforderungen am Arbeitsmarkt reicht in vielen Fällen der Bachelor aus. Momentan machen lediglich etwa 20 Prozent der Deutschen eines Jahrgangs ein Hochschulexamen. Im Durchschnitt der Europäischen Union sind es rund 30 Prozent. In Zukunft müssen es nach Ansicht des Präsidenten der FU Berlin 50 Prozent eines Jahrgangs sein, um die Akademikerquote in der Bundesrepublik deutlich zu heben. "Die Anforderungen an Berufe werden immer anspruchsvoller", sagt Lenzen und nennt die Schornsteinfeger als Beispiel: "Früher war das ein einfacher Handwerksberuf. Heute sind vielfach Ingenieure am Werk, die komplizierte Abgasprobleme bewältigen müssen."
Wie wird der Student der Zukunft sein? Er wird mit 17 Jahren Abitur machen, mit 20 Jahren den Universitätsabschluss in der Tasche haben, geistig und räumlich mobil sein, mehrere Sprachen beherrschen und sich ein individuelles Profil zusammenbasteln. Alles, was er nicht an der Uni erworben hat, meint Dieter Lenzen, wird er "on the job" lernen. "Noch vor wenigen Jahren waren mehrere Wechsel im Lebenslauf suspekt, heute drückt sich darin Kompetenz aus", so der Uni-Präsident über die neue Sicht der Unternehmen. Die Hochschule werde nur noch eine Station unter vielen Ausbildungsstätten sein. Lenzen: "Über den Erfolg im Leben entscheidet das Leben und nicht die Universität."
Annette Rollmann arbeitet als freie Journalistin in Berlin.