Wohl kaum ein anderer Begriff hat unser Bemühen um das Verstehen der Welt am Ende des alten und am Beginn des neuen Jahrtausends so dominiert wie jener der Globalisierung. Was Popularität und inflationäre Verwendung betrifft, so hat der Globalisierungsbegriff als geflügeltesWort mittlerweile der Postmoderne den Rang abgelaufen. Während die 90er-Jahre den Aufstieg von "Globalisierung" zum Modewort erlebten, begann eine zweite Runde der Globalisierungsdebatte, die der US-amerikanische Soziologe Roland Robertson als Ringen um eine "reflexive Theorie von Globalisierung" bezeichnet.
Diese wissenschaftlichen Bemühungen zielen vor allem darauf, mit einem eindimensionalen Verständnis von Globalisierung aufzuräumen, das den realen Facettenreichtum der weltweiten Zusammenhänge in Wirtschaft, Politik, Kultur und Alltag mit einer ökonomischen "Dampfwalze" gleichsetzt, welche die gesellschaftliche Vielfalt und die kulturellen Unterschiede radikal auslöscht. Bei diesen Forschungsarbeiten werden begriffliche Klarheit und analytische Unterscheidung immer wichtiger.
So ist nicht jede Form grenzübergreifender Mobilität und Aktivität erdumspannend. Es ist deshalb zum Beispiel durchaus angebracht, bei neuen Formen von Migration von "Transnationalisierung" statt von Globalisierung zu sprechen. Zum anderen ist eine präzisere Unterscheidung zwischen "Globalität", "Globalisierung" und "Globalismus" mehr als eine bloße Begriffsspielerei. Immer noch wird "Globalisierung" vordergründig mit der weltumgreifenden Vernetzung von Nationalstaatsgesellschaften gleichgesetzt.
Natürlich wohnt dieser Vernetzung eine gewisse Eigendynamik inne. Doch die "Globalität", also die planetare Endlichkeit und zugleich Ganzheit, prägt ganz wesentlich den Prozess der Globalisierung. Verkürzt gesagt: Solange die Aussiedlung auf andere Himmelskörper irreal ist, müssen wir uns in den Grenzen und Möglichkeiten dieses Planeten miteinander arrangieren - die Rede ist bewusst von "müssen" und nicht von "wollen". Eine nicht unerhebliche Rolle spielt bei der Globalisierung auch der "Globalismus", nämlich das Bewusstsein über planetare Ganzheit und Endlichkeit. Vor diesem Hintergrund kann das "Wie" des Charakters der Globalisierung sehr wohl gestaltet werden, wenn auch in gewissen Grenzen.
Die heutige Gesellschaft wird sich, um ein zentrales Beispiel zu nennen, in absehbarer Zeit nicht aus der Logik kapitalistischen Wirtschaftens befreien können oder wollen. Aber es ist und bleibt entscheidend eine Frage politischer Macht, ob und inwieweit eine globale kapitalistische Weltökonomie auch ökologisch und sozial "sustainable", also nachhaltig gemacht wird: Das hängt vom Kräfteverhältnis zwischen den USA und Europa ab, und auch das zivilgesellschaftlich-basisdemokratische Engagement wirkt sich aus, Namen wie etwa Greenpeace, Attac oder die Zapatisten stehen für diesen Kampf.
Im Windschatten der Ausbreitung der sogenannten neuen Technologien hat sich erstmals eine Weltwirtschaft von tatsächlich globaler Reichweite herausgebildet, die durch eine "komplexe Dualität" gekennzeichnet ist. Mit diesem Begriff beschreiben der Soziologe Manuel Castells und die Stadtsoziologin Saskia Sassen die auffallende Tendenz zur Gleichzeitigkeit: die räumlich-zeitliche Flexibilisierung von Produktionsprozessen und -kreisläufen einerseits und andererseits die Konzentration von globaler Organisation und Steuerung ebendieser Entwicklungen an bestimmten Orten. Metropolenstädte stehen immer mehr im Zentrum dieser sich entfaltenden "neuen industriellen Räume", während sich anderswo industrielle und lebensweltliche Brachlandschaften auftun - wie wir sie etwa im deutsch-polnischen Grenzraum beobachten. Die Weltökonomie präsentiert sich zusehends als durchwachsenes Gebilde, in dem es kein klares Zentrum und keine klare Peripherie mehr gibt: Die neuen Gegensätze zwischen Arm und Reich - zwischen denen, die von der globalen Wirtschaft profitieren, und denen, die an deren Rändern zunehmend ins Abseits geraten - finden sich innerhalb desselben Landes, derselben Stadt, oftmals gar derselben Nachbarschaft.
Gewohnte Machtverhältnisse und Hierarchien werden in Frage gestellt. So prognostizieren Experten, dass die boomende Ökonomie Chinas die USA als stärkste Wirtschaftsnation innerhalb der nächsten zehn bis 15 Jahre überholen wird. Die neue Flexibilität der Produktionskreisläufe bringt zudem eine intensivere Mobilität der Menschen mit sich. Allerdings drücken sich auch in dieser neuen Form von Mobilität die Ungleichheiten und Chancenungerechtigkeiten der Globalisierung aus.
Der polnisch-britische Sozialphilosoph Zygmunt Bauman hat für diese polarisierende Tendenz treffende Worte gefunden: Er spricht von "Touristen" als denjenigen, denen sich durch Mobilität neue Möglichkeiten eröffnen, und von "Vagabunden" als jenen, die sich aus der Not der Situation heraus auf transnationale Wanderschaft begeben müssen. Im Übrigen macht auch die moderne globale Elite zwiespältige Erfahrungen: War früher die Mobilitätsbereitschaft ein Garant für sozialen Aufstieg, so zwingt der hyperflexible weltumspannende Kapitalismus auch den Eliten das Gefühl der Unsicherheit auf.
Auch das verstärkte Nachdenken über die Konsequenzen der sinkenden Bedeutung der Nationalstaaten markiert eine Herausforderung für die Globalisierungsforschung. Angesichts translokaler und transregionaler Abhängigkeiten im weltweiten Rahmen und auf allen Ebenen können menschliche Schicksalsgemeinschaften kaum mehr auf einem klar abgegrenzten nationalstaatlichen Territorium verortet werden. Stattdessen ist in wachsendem Maße eine Dezentralisierung von Politik zu registrieren.
Der Nationalstaat sieht sich in der globalen Arena zusehends gleich von mehreren Seiten herausgefordert: Einfluss nehmen wollen supranationale Institutionen wie die UNO oder die EU, eine Vielzahl von Nichtregierungsorganisationen und nicht zuletzt die neuen sozialen Bewegungen, die "von unten" mitmischen wollen. Nun steht der Nationalstaat noch keineswegs vor dem Untergang. Das zunehmende zivilgesellschaftliche Engagement über Grenzen hinweg wurzelt jedoch im Unbehagen über die Unflexibilität und die lähmende Hierarchisierung nationalstaatlicher Politik. Angesichts der fortschreitenden Globalisierung werden sich in diesem Jahrhundert zwangsläufig neue Formen politischer Willensbildung oberhalb und unterhalb des Nationalstaats sowie parallel zu diesem traditionellen Gebilde entwickeln. Ein erster praktischer Schritt hin zu einer solchen "multi-level-governance" ist im Rahmen der EU das Konzept vom "Europa der Regionen".
Der britische Politiksoziologe David Held hat die Vision von politischer Steuerung, die von transnationalen Vernetzungen geprägt ist, als "cosmopolitan project" beschrieben. Kern dieser Idee ist die demokratische Selbstverwaltung auf der Basis von realen Problemen, die vor Grenzen nicht halt machen. Indes stellt sich bei diesem Modell die Frage, wie auf globaler Ebene beispielsweise Umweltstandards oder die Wahrung der Menschenrechte verbindlich durchgesetzt werden soll. Die UNO und ihre Institutionen, die ja als Ansatz für eine Weltregierung gelten können, haben jedenfalls noch zu wenig Macht. Dieses latente Vakuum eröffnet natürlich den USA auch in Zukunft viel Spielraum für hegemoniale Bestrebungen.
Noch zu wenig Aufmerksamkeit hat die Wissenschaft bislang den kulturellen Aspekten der Globalisierung gewidmet. Jüngst ergab eine Umfrage des "Guardian", dass die meisten Londoner die britische Nationalhymne weder singen wollten noch konnten. Andererseits harrt das Hindi-Musical "Kal Ho Naa Ho" (Tomorrow may never come) seit Wochen in den Top Ten der Londoner Kinos aus. Eine solche Momentaufnahme sagt viel über die globale kulturelle Vernetzung aus. Eine wachsende Zahl von Bürgern leitet ihre kulturelle Identität nicht mehr von ihrem herkömmlichen Nationalstaat ab - und dies gilt nicht nur für metropolitane Milieus. Kultur spielt sich immer weniger im nationalstaatlichen Rahmen und stattdessen immer mehr im Zusammenhang translokaler, transregionaler und transkontinentaler Netzwerke ab. Der Versuch, eine nationale "Leitkultur" durchzusetzen, dürfte sich in Zeiten grenzüberschreitender Mobilität kaum verwirklichen lassen.
Allerdings trifft auch dies zu: Selbst wenn McDonalds und Coca Cola praktisch überall auf dem Erdball präsent sind, so kann eben gerade wegen der vielfältig verästelten Vernetzung der globalen Kulturlandschaften nicht von einer "Cocacolonization" (in den Worten des schwedischen Kulturanthropologen Ulf Hannerz) die Rede sein. Die globale Alltagskultur wird keineswegs einheitlich dominiert.
Gebannt ist die Gefahr einer nivellierenden "McWorld"-Kultur freilich keineswegs. Die heutigen Kommunikationsmedien haben zwar im Prinzip eine globale Reichweite, sind aber nicht überall in gleichem Maße für die Menschen zugänglich. Da tun sich neue Ungleichheiten auf: Der Reichtum der weltweiten Kultur kann nicht von allen Menschen genutzt werden. Aber auch bei der Kultur gilt: Wenn der "Norden" für eine weitreichende Teilhabe und der "Süden" eher für Ausgrenzung steht, so ist das nicht geographisch zu werten.
Rücken in einer erdumspannenden Kulturlandschaft die kulturellen Milieus und Lebensstile einander immer näher, dann wird der Fremde zum Nachbarn. Das bereichert das Leben, bringt aber unausweichlich Konflikte mit sich - und dies nicht nur beim alltäglichen Miteinanderauskommen im urbanen multikulturellen Geschehen. Auch nationalistische und fundamentalistische Bewegungen organisieren sich über Grenzen hinweg und zielen auf die politische Ausnutzung kultureller Differenzen. Das Szenario eines "clash of civilizations" entlang der Verwerfungslinien kultureller und ethnischer Zugehörigkeit, wie er von Samuel P. Huntington, Politikwissenschaftler an der Harvard Universität und seinerzeit außenpolitischer Berater von US-Präsident Bill Clinton, bereits Anfang der 90er- Jahre prophezeit wurde, wirkt beim Blick in die Zukunft alles andere als wirklichkeitsfremd. Eine Erschütterung der fragilen Balance der globalen Kulturlandschaften könnte einen Flächenbrand auslösen, der auch vor Europa nicht stehenbleibt.
Für die Sozialwissenschaften ergibt sich angesichts solcher Perspektiven die Notwendigkeit, ihr Analysewerkzeug zu überprüfen. Neue Formen von Mobilität und Vernetzung auf allen Ebenen der Gesellschaft erfordern unter anderem ein neues Verständnis von multilokaler lebensweltlicher Zugehörigkeit, einen weniger territorial definierten Staatsbegriff, einen transnationalen Entwurf staatsbürgerschafticher Rechte und Pflichten sowie ein Begreifen fließender und temporärer Formen von Identität. Vor allem aber müssen wir lernen, "Gesellschaft" wieder jenseits der Kategorie Nationalstaat zu denken. Es gibt keinen Grund, "Gesellschaft" - eine durch Handeln und Normen verbundene Gruppe - von vornherein im Singular und auf ein bestimmtes Territorium begrenzt zu definieren.
So existiert beispielsweise in Großbritannien eine englische Gesellschaft, aber auch eine karibische und eine Gesellschaft der Hindus - die allesamt teilweise ineinander übergehen. Im Kern bedeutet Globalisierung also das Ende der Einheit von Territorium, Staat, Gesellschaft und Nation. Das stellt die Menschen, die Politik, aber auch die Sozialwissenschaft vor neue Herausforderungen.
Jörg Dürrschmidt ist Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Makrosoziologie der Universität Kassel.