Das nun zum dritten Mal erschienene "Jahrbuch für Kulturpolitik" ist bereits zu einem unentbehrlichen "Zentralorgan" der Reflexion geworden. Die Ziele, die bei der Einrichtung des Kompendiums formuliert wurden - unter anderem jeweils ein bemerkenswertes Thema der kulturpolitischen Diskussion als Schwerpunkt aufzugreifen, fundierte Politikberatung vorzunehmen, wichtige Daten und Ereignisse der Kulturpolitik des abgelaufenen Jahres zu dokumentieren sowie relevante Veröffentlichungen aufzulisten -, wurden Jahr um Jahr auf hervorragende Weise erreicht.
Die "Bibliographie kulturpolitischer Neuerscheinungen 2002" etwa umfasst 43 eng bedruckte Seiten, was deutlich macht, dass der Diskurs in Blüte steht. Die gewonnenen Erkenntnisse können freilich, vor allem wegen der sehr knapp gewordenen kommunalen Ressourcen, immer weniger vom Kopf auf die Füße gestellt werden.
Der diesjährige Schwerpunkt "Interkultur" fasst schon im Begriff zusammen, welche große Aufgabe uns gestellt ist: nämlich zu einer Integration pluraler Identitäten zu gelangen, ohne Verleugnung oder Verdrängung der jeweils eigenen angestammten Identität. Das bedeutet eine Auseinandersetzung mit Heimat, Fremdsein und Nationalstaat und die Suche nach einem eigenen realistischen (realisierbaren) Standort innerhalb einer globalisierten Welt. Immer rücksichtloser werden die "Territorien für Seinsgewissheit" in ihrer Selbstständigkeit (eben die "Heimaten") vor allem mit Hilfe der Amerikanisierung eingeebnet und damit die Vielheit und Vielfalt der Kulturen reduziert.
In der Bundesrepublik sieht sich das "Bürgerrecht Kultur" - "Kultur für alle" konfrontiert mit einer Gesellschaft, in der rund sieben Millionen Menschen nichtdeutscher Herkunft leben. Hoffnung auf Heimat bedeutet, Babylon als Heimat zu begreifen. Damit jedoch Diffusion und Konfusion nicht den Zerfall eines friedlichen Miteinander bewirken, bedarf es großer kulturpolitischer Anstrengungen, im Besonderen eines kommunikativen Denkens und Handelns, um einen für alle verbindlichen Wertekanon zu erreichen. Fundamentalismus, ganz gleich welcher Provenienz, stellt die größte Gefährdung einer auf der Verinnerlichung von Grundwerten, Grundrechten und Grundpflichten beruhenden, vom Prinzip Verantwortung und Solidarität getragenen Bürgergesellschaft dar.
Wie sich im "Jahrbuch" Philosophen und Politiker, Parteivertreter und Angehörige unterschiedlicher Ethnien, Generationen, Disziplinen und Arbeitsbereiche unter der geschickten Moderation der Herausgeber zu einem inspirierenden Workshop zusammenfinden, macht in Zeiten, da man allenthalben antizipatorische Vernunft und die Vernunft der Synthesis vermisst, große Hoffnung. Zugleich werden die Widerstände benannt, die den vernünftigen Weg zur interkulturellen Gesellschaft blockieren.
In Deutschland, so Wolfgang Thierse, gehe es um die kulturelle Auseinandersetzung zwischen dem durch die Personalisierung der Massenmedien begünstigten Gestus autoritärer Führung und den Werten einer demokratischen, offenen und toleranten Gesellschaft. Kulturelle Stichworte unserer Politik müssten sein: Die Akzeptanz des Andersseins, das Eintreten gegen jede Form von Rassismus, die Begründung nationalen Bewusstseins im europäischen Kontext sowie die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts auch dadurch, dass sich Minderheiten mehr als bislang in Kunst und Alltagskultur wiederfinden können.
Außerhalb des dokumentarischen und (ebenfalls wichtigen) statistischen Teils - etwa "Wie hat sich die öffentliche Kulturfinanzierung weiterentwickelt?" - enthält das Handbuch viele gute Sonntagsworte. Die Werktage warten darauf, dass sie in diesen endlich Geltung erlangen. Hermann Glaser
Jahrbuch für Kulturpolitik 2002/03.
Thema: Interkultur.
Hrsg. für das Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft von Thomas Röbke und
Bernd Wagner.
Klartext Verlag,Essen 2003;
491 S., 19.90 Euro