Japanerinnen in Kimonos, die mit mobilen Telefonen hantieren, oder futuristische Großbauten, die traditionelle Tempel oder Holzhäuser schier zu erdrücken scheinen, sind stets willkommene Motive für westliche Fotografen und Touristen in Japan. Staunend stellt man sich die Frage: Wie modern oder wie traditionell ist Japan eigentlich?
Florian Coulmas, Professor für Kultur, Geschichte und Sprache des modernen Japans an der Universität Duisburg-Essen, baut mit dem Untertitel seines Buches über die Kultur Japans zunächst den Eindruck eines scheinbaren Gegensatzes zwischen Tradition und Moderne auf, der durch die ausgeprägte japanische Bereitschaft und Fähigkeit der Adaption fremder kultureller Elemente noch verstärkt wird.
Doch dieser Gegensatz verwischt sich zusehends. In den Mittelpunkt der Betrachtung rückt die Vorstellung der Relativität, die sich wie ein roter Faden auch durch die japanische Geistesgeschichte zieht. Der relativierende Ansatz des Autors negiert sowohl eine vermeintliche kulturelle Sonderstellung Japans als auch die universale Übertragbarkeit von Kulturbegriffen.
Coulmas gliedert sein Buch in vier Teile. Im ersten behandelt er die verschiedenen Lebensphasen eines Japaners, seine Verwandtschaftsverhältnisse sowie soziale Etikette und den Brauch des Austausches von Geschenken zu verschiedenen Anlässen, wobei in Japan die Grenzen zwischen Aufmerksamkeiten und Korruption anders verlaufen dürften als bei uns. Der zweite Teil setzt sich mit den religiösen Prägungen auseinander; es folgt eine umfassende Darstellung der verschiedenen Religionen und Denkrichtungen, die sich nicht gegenseitig verdrängten, sondern meist eine weitgehend harmonische Koexistenz - oft mit starken Interdependenzen - aufweisen.
Der Schintoismus in all seinen Facetten kann über das geistliche Leben hinaus als ein "integraler Bestandteil der japanischen Kultur" bezeichnet werden, trotz des nachhaltigen Einflusses des Buddhismus und der konfuzianischen Moral- und Verhaltenslehre.
Das Verbot des schnell wachsenden Christentums im 17. Jahrhundert erfolgte jedoch nicht nur wegen der von Coulmas festgestellten Unduldsamkeit und des Ausschließlichkeitsanspruches, sondern in erster Linie wegen der sich als falsch erweisenden politischen Parteiergreifung der Missionare in den damaligen Machtkämpfen. Die in religiöser Hinsicht sehr liberale japanische Gesellschaft demonstriert allerdings im Umgang mit der mutmaßlich in kriminelle Handlungen involvierten AUM-Sekte gewisse Schwierigkeiten.
Der dritte Teil erläutert den Jahreszyklus sowie die Institutionen Schule und Firma: Beide nehmen im Leben der meisten Japaner die sehr wichtige Funktion der sozialen Steuerung ein. Das betrifft vor allem die Fähigkeit und Bereitschaft zu Konsens, Kompromissen und hierarchischer Gliederung. Coulmas betont, dass nicht nur die Kultivierung des Familienmodells in den Firmen mit dem System der lebenslangen Beschäftigung, sondern auch viele andere "typisch japanische" Traditionen oft nur gerne gepflegte Mythen sind.
Der letzte Teil erklärt die "materielle Kultur", indem insbesondere die charakteristischen Bereiche Ganzkörpertätowierung, Kleidung und Mode, Architektur und Wohnung, Geschmack und Künste herausgegriffen werden. Der Autor schreibt der Teezeremonie eine besondere Rolle zu: Diese gelte bis heute "vielen Japanern als Schlüssel ihres kulturellen Erbes".
Coulmas deckt in seinem Buch eine Fülle von Themen ab, die er knapp, aber sehr anschaulich behandelt. Leider verengt er seinen Kulturbegriff auf überwiegend ethnologisch-anthropologische Interessen, was zwangsläufig die Vernachlässigung beispielsweise der Literatur und Musik nach sich zieht. Trotz der etwas verwirrenden Epocheneinteilung im Anhang oder eines fehlenden Titels im ausführlichen Literaturverzeichnis (Stephen Vlastos, Mirror of Modernity, 1998) handelt es sich um eine überaus empfehlenswerte Einführung in die Kultur, Sitten und Gebräuche in Japan.
Die japanische Gesellschaft sieht sich anhaltend schnelllebigen Veränderungen ausgesetzt. Dem Autor gelingt es, nicht nur dem an Japan und Asien interessierten Leser die tiefgründigeren Strukturen der japanischen Kultur verständlich zu vermitteln, ohne auf vorgefertigte Standardmodelle zur Lösung des Gegensatzes zwischen Tradition und Moderne zurückzugreifen
Emmeran Weiß
Florian Coulmas
Die Kultur Japans. Tradition und Moderne.
C.H. Beck Verlag, München 2003; 333 S., 24,90 Euro