Kaiser Qianlong, Herrscher der Himmelssöhne, hatte die mit kostbaren Geschenken beladene Delegation - es war im Jahr 1793 - wohlwollend empfangen. Aber dann erteilte er den Gesandten des britischen Weltreichs eine Abfuhr: Man habe "keinen Bedarf" an Englands Produkten. Diesem Hinweis folgte der Satz: "Du, König (gemeint war Georg III.), sollst nur in Übereinstimmung mit unseren Wünschen handeln, indem Du Deine Loyalität zum Ausdruck bringst und ewigen Gehorsam schwörst." Der Kaiser aus der Qing-Dynastie schloss mit der Formel, die seinen Vasallen galt: "Gehorche zitternd!"
Nur wenige des schon damals 300 Millionen Köpfe zählenden chinesischen Volkes wussten, wo Europa lag und welche Mächte dort herrschten. China war der Mittelpunkt der Welt - jenseits der Reichsgrenzen lagen die Länder der Barbaren, die vom Handel lebten. Je weniger das himmlische Reich mit den "fremden Teufeln" zu tun hatte, um so besser. Der Kaiser - im übrigen ein klassisch erzogener, hochgebildeter Mann - wusste es auch nicht besser. Von wenigen Missionaren abgesehen wurden keine Fremden ins Land gelassen, die das nötige Wissen hätten vermitteln können.
Nun, England gehorchte nicht - schon gar nicht zitternd. Mit nicht enden wollenden gewaltsamen Demütigungen wurde es im Ersten Opiumkrieg zum Motor einer zweifelhaften Modernisierung des Reichs der Mitte, deren Folgen bis in Chinas jüngste Gegenwart reichen und das kollektive Bewusstsein der Chinesen gegenüber dem Westen prägen.
Weil das fernöstliche Riesenreich trotz der zahllosen Umbrüche, der Revolutionen und des damit einhergehenden gesellschaftlichen Chaos innerlich abgeschlossen blieb, besteht heute ein enormer Informationsbedarf - nicht nur unter China-Kennern. Diesem Bedarf folgend haben sich unter Leitung von Brunhild Staiger, Stefan Friedrich und Hans-Wilm Schütte vom Hamburger Institut für Asienkunde Wissenschaftler an die große Aufgabe gewagt, Chinas alte und neue Politik, seine Wirtschaft, das Rechtsverständnis und nicht zuletzt den besonderen Charakter und gleichzeitig die Kontinuität der chinesischen Kultur in einem großen Lexikon zu vermitteln.
Das Ergebnis ist außerordentlich: Auf fast 1000 Seiten haben mit mehr als 400 Beiträgen die besten Kenner Chinas aus dem In- und Ausland ein umfassendes Portrait geliefert, das uns - bei allem Respekt vor der reinen Fachliteratur - ein immer noch weitgehend unbekanntes Land, dem die Zukunft zu gehören scheint, in einzigartiger Weise nahebringt.
Zwischen "Afrika" und "Zweiter Weltkrieg" ist das Schicksal Chinas eingebettet - zwei wirklich schicksalhafte Begriffe für die Entwicklung des Landes. Die in der Ming-Zeit gewonnenen Erfahrungen, die chinesische See-Delegationen über "das Ausland" mitbrachten und zu einer freiwilligen Öffnung des Landes hätten führen können, wurden von späteren Herrschern vernachlässigt und dann vergessen. Und im Zweiten. Weltkrieg musste China begreifen, dass es sich selbst verteidigen musste - mit verheerenden Folgen für das Land: Erst das Ende der furchtbaren japanischen Vergewaltigung ermöglichte den Männern des langen Marsches, das ausgeblutete Land zu stabilisieren - nun unter kommunistischem Vorzeichen.
Zwischen diesen Stichwörtern mit zahlreichen Querverweisen werden wichtige historische Ereignisse und ihre bestimmenden geistigen und kulturellen Grundlagen behandelt - Religionen, Philosophien, Literatur, Kunst, Sprachentwicklung, Wissenschaft; allein unter die Wissenschaftsgeschichte fallen nicht weniger als 24 Beiträge zu einzelnen Fachgebieten - von der Archäologie bis zur Informatik.
China hat sich der Zukunft zugewandt, und so ist das Anliegen des Lexikons vor allem die Darstellung der Gegenwart: Wie und ob der Spagat zwischen Marktwirtschaft und Sozialismus gelingt, wird sich erweisen. Nach der Kulturrevolution und dem Tod des "großen Steuermanns", der ein völlig verwirrtes Staatswesen hinterlassen hatte, begann die Entwicklung einer vorsichtigen "Liberalisierung", die durch die Ereignisse am Platz des Himmlischen Friedens um Jahre zurückgeworfen wurde.
Auch dieses für die politische Einordnung des gegenwärtigen Chinas so wichtige Ereignis wird ausführlich behandelt. Denn wenn die Kaufleute des Westens darüber frohlocken, dass sie aufgeschlossene Handelspartner finden und nicht wie zu Zeiten der Qing-Dynastie zurückgeschickt werden: Die Angst, dass der Riesentanker China vom Kurs abweichen und in für die Herrschaft der KPCH gefährliche Gewässer geraten könnte, prägt nach wie vor Chinas Innenpolitik.
Eine freie Presse hat das Land nicht, Dissidenten werden ebenso wie der Ruf nach Demokratie brutal unterdrückt. In den berüchtigten Laogai-Lagern sitzen Zehntausende von politischen Gefangenen, während korrupte Funktionäre und ihre Kinder ein Leben in Saus und Braus führen. Auch das gehört zum Bild des heutigen China.
Das Kapitel Taiwan ist auch im übertragenen Sinne ein besonderes Kapitel in der jüngeren Geschichte Chinas: Der kleine Inselstaat, nach der Flucht Tschiang-Kai-Tscheks autoritär regiert, hat es aus eigener Kraft zu beträchtlichem Wohlstand gebracht. Viel wichtiger: Er wurde zu einer Demokratie, die diesen Namen auch verdient.
Der große Nachbar duldet Taiwan höchst unwillig vor seiner Tür, und trotz enormer Investitionen auf dem Festland muss Taipeh mit den in unschöner Folge aus Peking eintreffenden Drohungen irgendwie zurecht kommen, weil eine offene Unterstützung des Westens in Anerkennung seiner demokratischen Kultur weitgehend ausbleibt.
China, ein Land mit unendlich vielen Facetten, ein Land, dessen Geschichte und Kultur in der Welt einzigartig ist und neugierig macht, mehr darüber zu erfahren, wohin sein Weg führen könnte. Die Volkswagen-Stiftung hat diese großartige lexikalische Landeskunde gefördert, um sie erschwinglicher zu machen. Diese Edition sollte für Interessierte nicht nur in Bibliotheken zu finden sein. Gerd Renken
Institut für Asienkunde
Das große China-Lexikon.
Geschichte, Geographie, Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Bildung, Wissenschaft, Kultur.
Primus-Verlag, Darmstadt 2003;
994 S., 128,- Euro