In ihrer Eröffnungsrede verwies die stellvertretende SPD-Vorsitzende Heidemarie Wieczorek-Zeul darauf, dass der Wind der Partei um die Ohren blase, dass verlorenes Vertrauen zurückgewonnen werden müsse. Die Partei habe es aber in ihrer 140-jährigen Geschichte immer wieder geschafft, aus Krisen einen Neubeginn zu finden. Sie sei eine Mitglieder- und Wertepartei, "die dem gesellschaftlichen Wandel niemals ausgewichen ist".
Dieser notwendige Wandel, hervorgerufen durch eine globalisierte Wirtschaftswelt und deren Herausforderungen, ist es, der die Sozialdemokraten in eine schwierige Lage gebracht hat. Als linke Volkspartei, die ihrer Wählerklientel beim Umbau des Sozialstaates viel, vielleicht allzuviel, zumuten muss, ist sie in einen schwierigen Spagat geraten. Sie hat in den Zeiten des schmerzhaften Umbaus der sozialen Sicherungssysteme und des Gesundheitswesens zahlreiche Mitglieder verloren und einige Wahlen. Die Meinungsumfragen sind schlecht und haben sich erst in den jüngsten Tagen um einige Prozent verbessert.
Dennoch war es eine große Überraschung, als der SPD-Vorsitzende Gerhard Schröder vor einigen Wochen ankündigte, sein Amt in die Hände von Franz Müntefering zu legen und sich nur noch auf das Regieren als Bundeskanzler zu konzentrieren. Dass das kein Ballast abwerfen bedeute, unterstrich Schröder in seiner Abschiedsrede als Parteichef. Die Agenda 2010 werde konsequent zuende geführt, Hauptziele blieben Innovation und Gerechtigkeit. Der deutsche Sozialstaat sei kein Fürsorge-, sondern ein Teilhabestaat, betonte der Redner. Er zog in der Rechtfertigung seines Regierungshandelns die Parallele zur Ostpolitik Willy Brandts, die vor rund 30 Jahren gegen den erbitterten Widerstand der Oppositionsparteien durchgesetzt wurde und erst nach Jahren Früchte trug. Heute musste der Kanzler seinen Politikentwurf allerdings auch gegen die in Teilen widerstrebenden eigenen Parteimitglieder verteidigen. "Die Entscheidungen, die wir heute treffen, werden sie morgen aushalten müssen", verwies Schröder auf nachfolgende Generationen, denen der Umbau gelten sollte. Wer den Sozialstaat umbauen wolle, müsse jedoch den Bauplan kennen. Der scheidende Parteivorsitzende machte dabei auch den Unterschied zu den heutigen Oppositionsparteien klar. So würden die Sozialdemokraten die Tarifautonomie nicht antasten. Deutschland verdanke seine Stärke unter anderem dem konsensorientierten Handeln in den Betrieben. Heute gehe es um die Verteidigung der Mitbestimmung auf europäischer Ebene. In seiner Bilanz rechtfertigte Gerhard Schröder unter starkem Beifall der Delegierten seine außenpolitische Grundsatzentscheidung, sich nicht am Irak-Krieg zu beteiligen. "Hätte Deutschland nicht Nein zu sagen gewagt, dann stünden deutsche Soldaten heute im Irak."
Den alten sozialdemokratischen Satz "Wissen ist Macht" verband der Redner mit zukünftigen Anforderungen an die Wissensgesellschaft. Es gehe nicht nur um den Export von Waren, sondern auch von Wertvorstellungen. "Bei allen notwendigen Auseinandersetzungen über die Notwendigkeiten von Politik, lasst uns nicht vergessen, auch gerecht zu sein zu denen, die morgen im Wohlstand leben wollen. Ich möchte nicht haben, dass unsere Kinder einmal sagen: Ihr habt zu wenig übrig gelassen, und jetzt müssen wir auch noch die Zeche bezahlen für etwas, das wir gar nicht bestellt haben."
Hatte Gerhard Schröder bei anderen Reden im Berliner Estrel-Hotel oft die Delegierten beschworen und unter rhetorischen Druck gesetzt, seinem Weg zu folgen, so schien er in seiner Abschiedsrede gelassen zu sein, aber nicht emotionslos. Er betonte seinen Stolz, in einer Reihe mit August Bebel und Willy Brandt gestanden zu haben und sprach von einer neuen Mannschaftsaufstellung in einem größeren Spielfeld. "Franz ist für dieses Amt der Beste, den wir für unsere Partei bekommen können", gab er den Stab an seinen Nachfolger weiter. Stehender Applaus und vereinzelte Bravorufe waren der Balsam für einen Vorsitzenden, dem häufig mangelnde Einfühlung in die Seele der Partei und allzustarke Konzentration auf das Regierungshandeln vorgeworfen worden war.
Der ehemalige SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel lobte Gerhard Schröder für seinen Entschluss, in einer derart schwierigen Situation für die Sozialdemokratie den Platz freizumachen und sich zurückzunehmen. Die Partei dürfe die Regierungsverantwortung nicht preisgeben und müsse mit aller Macht gegen das Entstehen einer linken Splitterpartei vorgehen. Schon ein Prozent bei den nächsten Bundestagswahlen für eine derartige Gruppierung könne den Verlust der Macht bedeuten. Auch Heidemarie Wieczorek-Zeul hatte gewarnt: "Wer links neben der SPD splittert, hilft nur der Opposition."
Und in die Rolle der Opposition will die Partei nicht. Franz Müntefering hat es bei seiner Bewerbungsrede für den Vorsitz klar ausgedrückt:" Die Opposition ist Mist, lasst das die anderen machen. Wir wollen regieren." Dass er kein Theoretiker und Visionär, sondern ein Realist und Pragmatiker ist, fand bei den Delegierten großen Anklang. Allerdings stellte Müntefering zahlreiche Fragen, die nicht rhetorisch gedacht waren. Fragen nach den Aufgaben der Marktwirtschaft, nach den Werten der Gesellschaft, nach dem Weg zu mehr Gerechtigkeit. Als eine der großen Zukunftsaufgaben nannte er die Generationengerechtigkeit und den damit verbundenen Umbau des Sozialstaates. Auch dafür fand er Sätze, die in ihrer Geradlinigkeit und zuweilen Schlichtheit große Zustimmung fanden, wie: "Demographische Entwicklung ist keine Krankheit, sondern großer Fortschritt: Wir leben länger, und das ist schön." Gründe eines derartigen historischen Optimismus sind für Müntefering Begriffe wie Solidarität und Politik für die Menschen. Es werde der Weg zur Bürgerversicherung gegangen, es dürfe kein junger Mensch in Deutschland in die Arbeitslosigkeit geschickt werden. Es gehe um die Erhaltung der Tarifautonomie, die Ausbildungsplatzabgabe, wo sie notwendig werde, um den Schulterschluss mit den Gewerkschaften und die Hilfe für die finanzschwachen Kommunen. Für dieses Angebot zum Tätigwerden erhielt der neue SPD-Vorsitzende ein Traumergebnis von 95,11 Prozent der Delegiertenstimmen. Sein neuer Generalsekretär Klaus-Uwe Benneter, dessen Antrittsrede im zunehmenden Geräuschpegel buchstäblich ertrank und der sich mit 78 Prozent der Stimmen begnügen musste, sprach die Hoffnung aus, dass bei der nächsten Wahl die Bilanz seiner Arbeit bewertet werde und nicht seine rhetorischen Leistung.
Außer der Wahl des SPD-Vorsitzenden und des SPD-Generalsekretärs beschloss der Parteitag, der nur gut vier Stunden dauerte, die in Bochum gefassten Grundsatzentscheidungen zur Agenda 2010 zügig umzusetzen. Mit dem gemeinsamen Gesang des alten Arbeiterliedes "Wann wir schreiten Seit, an Seit" gaben sich die Teilnehmer des Sonderparteitages ihre emotionale Marschrichtung für die schwierige Wegstrecke dieses Jahres, das von der Bundespräsidentenwahl, der Europawahl sowie mehreren Landtags- und Kommunalwahlen geprägt ist. Sie werden die Bewährungsprobe für das neue Personalkonzept sein. Schon am Tag nach der Zusammenkunft in Berlin wurde der Partei von Arbeitgebern, die noch mehr Reformen verlangen, und von Gewerkschaften, die dieser Entwick-lung kritisch gegenüberstehen, der Rucksack für den kommenden Weg gepackt. Dann wird sich zeigen, wie gut die Tandemlösung Schröder-Müntefering funktioniert. In der ersten Präsidiumssitzung am 22. März kündigte der neue SPD-Vorsitzende ein Treffen mit den Spitzenfunktionären der Gewerkschaften an. Er wird sich vielleicht an das Hannah-Arendt-Wort erinnert haben, das er auf dem Parteitag zitierte: "Politik ist angewandte Liebe zum Leben."