Ein lauer Vorfrühlingsabend in Bonn, vom Redner, dem Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse, als angenehm vermerkt. Die Bonner SPD-Bundestagsabgeordneten hatten zur Debatte mit ihm geladen. Schnörkellos und leidenschaftlich zugleich seine Diagnose gleich zu Beginn. Man habe mit einem schwer überwindbaren Dilemma zu kämpfen: Die Bevölkerung wolle einerseits mit großer Mehrheit Reformen, beklage aber andererseits mangelnde Handlungsfähigkeit der Regierung, die doch gerade ernsthaft mit Reformen begonnen habe.
Hierfür Verständnis einzuwerben, sei deshalb so schwierig, weil man sich zunächst einmal, so Thierses Appell, auf die veränderten Realitäten einlassen müsse. Es gehe nicht nur darum, die eingeleiteten Reformen samt Konsequenzen nur besser zu erklären. Gefordert ist jetzt auch die Einsicht, dass Politik und Gesellschaft am Anfang eines tiefgreifenden Umbruches stehen, wie ihn Deutschland nach dem Krieg noch nicht erlebt hat.
Vorläufig gebe es, so Thierse, keine Wohlstandszuwächse mehr zu verteilen. Das stelle naturgemäß hauptsächlich die Gewerkschaften vor Begründungsprobleme und neue Handlungsalternativen. Während der ökonomisch-technologische Wandel ein enormes Tempo erreicht habe, seien die Entscheidungsprozeduren der parlamentarischen Demokratie von Natur aus und gewollt langsam und hinkten dem hinterher. Hinzu kämen die noch immer milliardenschweren, aber notwendigen und von niemandem infrage gestellten Transferleistungen für die neuen Länder, der Alterungsprozess in der Bevölkerung mit seinen unausbleiblichen und teuren Folgen für die sozialen Sicherungssysteme und der Umstand, dass nachholende Reformen, die die SPD jetzt wegen der Versäumnisse der letzten 20 Jahre vornehmen müsse, immer sehr viel teurer als rechtzeitige seien. Heute lebe man - Thierse weiß es aus eigener Erfahrung - in einer Medienlandschaft, die sich, von Ausnahmen abgesehen, "ständig an Dramatisierungen" versuche und nicht mehr zwischen einem Diskussionsbeitrag, einem Denkanstoß, einem Referentenentwurf, einer Gesetzesvorlage und einem Gesetz unterscheiden könne - oder wolle.
Auf die Überwindung der Massenarbeitslosigkeit als größte aller sozialen Ungerechtigkeiten richteten sich alle eingeleiteten Maßnahmen. Was man in den 70er-Jahren unter sozialer Gerechtigkeit verstanden habe, müsse heute, unter den Bedingungen eines brutalen globalen Wettbewerbs, mit neuem Inhalt gefüllt werden. Es sei bedauerlich, dass sich offenbar keine Zeitung dafür interessiere, dass sechs Vorstandsmitglieder der Deutschen Bank mehr als alle 600 Bundestagsabgeordneten zusammen verdienten, dass aber die leidige Praxisgebühr, die zudem noch die Union in das Gesundheitsreformpaket hineingezwungen habe, der SPD "an die Backe geklebt" werde.
Thierses Forderung, ohne Verzicht auf sozialdemokratische Grundpositionen die Balance zwischen Gleichheit und Freiheit neu auszutarieren, zielt mitten hinein in die alte sozialdemokratische Seele. Die Debatte zeigte, dass Umdenkungsprozesse in der SPD nur langsam in Gang kommen. Johannes L. Kuppe