Genau so sieht es aus, wo die 16-jährige Manu sitzt. Von der Tischtennisplatte, auf der sie hockt, hat sie freien Blick auf eine ganze Batterie Berliner Plattenbauten, die sich durch nichts als die Farbe der Balkone unterscheiden. Sie sitzt auf dem Hof einer ehemaligen Schule, der fest in der Hand der ortsansässigen Jugend ist. Die Scheiben sind eingeschlagen, die Türen demoliert. Unter den Büschen lagern leere Flaschen, Kippen, Feuerzeuge, Taschentücher.
Manu sitzt inmitten von 15 Jugendlichen und ist nicht zu übersehen. Mit ihren schwarzen lockigen Haaren und ihrer dunklen Haut ist sie im Osten Berlins immer noch eine echte Ausnahme. Und wenn sie irgendetwas um keinen Preis möchte, dann so sein, wie alle anderen: Weiß. "Nigger", sagt sie, "dit is dit Allercoolste." Warum? "Na, guck dir mal nen Schwarzen und nen Weißen auf nem Werbefoto an. Wer sieht besser aus? Der Nigger - na also."
Nun könnte man meinen, dass die 16-Jährige sich inmitten all der anders Aussehenden nicht wohl fühlt. Das ist aber nicht so. Sie motzt über angeblich rassistische Polizisten, Lehrer, Nachbarn. Auf ihre Gang, in der sie sich eine unübersehbare Anführerinnenrolle erobert hat, lässt sie nichts kommen. Über Freunde, sagt sie, gehe gar nix. "Wie ne Family" sei das, immer hätten alle was zu erzählen, jeden Tag was Neues: "Das ist Zuhause", nie im Leben wolle sie woanders hin. Nicht zu ihrem südamerikanischen Vater nach Kreuzberg - "kein Bock auf die ganzen Türken". Aus Berlin weg schon gar nicht. "Das hat man ja schon mal versucht - hat aber nicht geklappt."
Manus Einzugsbereich reicht bis zum Supermarkt zwei Ecken weiter. Dahin geht sie, wenn sie Geld braucht. Mit ihrer Freundin Cara oder mit ein paar Jungs im Schlepp. Und auf der Suche nach Menschen, die ihr den Eindruck machen, sie hätten Geld in der Tasche. Notfalls, prahlt sie, würde sie aber auch allein "wen abziehn", und: "Glaub bloß nich', dass ich Schiss hab."
Wenn Manu, die höchstens 1,60 Meter groß ist, jemanden abzieht, sucht sie sich allein reisende Passanten, am liebsten ältere Frauen. Sie zückt ein Messer, stellt sich in den Weg, schon bekommt sie ein Portmonee. "Easy", sagt sie - wenn da nicht die Polizei wäre, die sie dauernd auf dem Kieker habe. Zuletzt, beschwert sie sich, habe sie wegen "lachhafter" 30 Euro vor Gericht gestanden. "Woher soll ich denn wissen, dass die Alte mit so wenig einkaufen geht."
Wenn Manu die Geschichte ihrer kriminellen Karriere herunterbetet, kommt man erstens schnell durcheinander und weiß zweitens nicht genau, ob sie die Wahrheit sagt oder sich gerade vor ihren Freunden mächtig wichtig macht. Doch selbst wenn nur die Hälfte stimmt, hat sie mit ihren 16 ein erstaunliches Register an Anzeigen gesammelt. Gefährliche Körperverletzung war angeblich schon dabei, auch Raub und räuberische Erpressung. Meist konnte man ihr nicht viel anhaben, weil man ihr nicht wirklich etwas nachweisen konnte.
Will man sich mit Manu über die Frage unterhalten, ob es nicht irgendwie unmoralisch sei, Menschen Gewalt zuzufügen um an ihr Geld zu kommen, verläuft das Gespräch schnell im Sande. "Ja", "nein", "irgendwie". "Aber", und jetzt wird sie richtig ungehalten, irgendwie müsse ja auch sie zu ihrem Recht kommen. Ihre Mutter gäbe ihr zwar Geld, aber, natürlich, nicht genug. Und da sie gewohnt ist sich durchzusetzen - "ich krieg immer, was ich will" ist wohl der Satz, den sie an diesem Nachmittag am häufigsten sagt - nimmt sie sich, was sie braucht.
Ihre eigene Familie zu bestehlen hat sie sich vor zwei Jahren abgewöhnt. Nachdem sie dem Freund ihrer Mutter 150 Euro geklaut hatte, setzte die sie kur-zerhand vor die Tür. Ein Taxifahrer brachte sie zum Jugendnotdienst. Vorübergehend zog sie in eine betreute Wohngemeinschaft. Irgendwann stand sie wieder bettelnd zu Hause vor der Tür. "Die können mich doch nicht einfach rausschmeißen." Ihre Mutter, sagt sie, solle sich doch freuen, dass sie wieder da sei.
Ob das so ist, ist nicht bekannt - schließlich hatte die Mutter schon mehrfach versucht, die Erziehung ihrer Tochter anderen zu überantworten. Aus Manus Sicht - oder aus jenem Teil davon, den sie preisgibt - fing alles an, als sie 14 war. Da wurde sie beim Dealen mit Marihuana auf dem Schulhof erwischt und flog von der Schule. Auf der neuen habe sie sich nicht zurecht gefunden: "Da hab ich noch mehr Scheiße gemacht als vorher." Sie kiffte und klaute, was das Zeug hielt - bis ihre Mutter sie in ein Heim kurz vor der dänischen Grenze steckte. Nach ein paar Wochen flüchtete sie zurück nach Berlin. "Ich lass mich doch nicht einfach so verschicken." Auch damals nahm ihre Mutter sie wieder auf - bis zu dem Tag mit den 150 Euro. Habe sie das verletzt, dass ihre Mutter nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte? Oder habe sie Verständnis? Manu antwortet nicht. Das Gespräch sei beendet, sagt sie völlig unvermittelt. Warum? "Kein Bock mehr."
Anstelle der Geschichte von Manu könnte man auch die ihrer Freundin Cara erzählen. Oder die von Hunderten anderen Mädchen in Berlin. Wenn man eine Geschichte über Mädchen erzählen will. Will man das nicht, bieten sich mehrere tausend Jungs an. Wirft man einen Blick in die Statistik, sind Mädchen an der Kriminalität unter Jugendlichen immer noch mit unter zehn Prozent beteiligt, bei langsam steigender Tendenz. Auch ein weiteres gern verbreitetes Klischee widerlegt der Blick auf die Zahlen: Der Jugendliche an sich wird nicht seit Jahren immer krimineller. Allerdings: Die Zahl der Gewalttaten steigt seit ein paar Jahren wieder, nachdem sie Mitte der 90er-Jahre eine Zeit lang gesunken sind.
Unübersehbar ist allerdings eines: Ein erschreckend hoher Prozentsatz der Jugendkriminalität geht auf das Konto von ausländischen Jugendlichen. Laut der offiziellen Berliner Kriminalitätsstatistik wurde 2003 jeder fünfte ausländische Berliner zwischen 14 und 18 einer Straftat verdächtigt - bei den Deutschen war es "nur" jeder Zehnte. Drastischer noch der Unterschied bei Gewalttaten: Ausländische Jugendliche sind - statistisch, also nicht absolut - drei bis vier mal so häufig an Gewalttaten, Raub oder Straßenraub beteiligt. Nimmt man die eingebürgerten Jugendlichen nicht-deutscher Herkunft dazu, liegt ihr Anteil an der Jugendgruppengewalt bei über 50 Prozent. All das ist zwar erschreckend, aber nicht neu. In Berlin wie anderswo warnen einige Kriminologen wie Sozialwissenschaftler seit Jahren davor, die Folgen der Desintegration zu unterschätzen.
"In den 90er-Jahren ist viel versäumt worden", sagt Stephan Voß, Leiter der Berliner Landeskommission gegen Gewalt. "Vor lauter Furcht, rassistisch zu argumentieren", habe man häufig darauf verzichtet, Erklärungen dafür zu suchen, dass ausländische Jugendliche sich immer öfter in abgeschlossenen Gruppen organisieren und kriminell werden. Dabei ist das Gruppenphänomen schon Teil der Erklärung: Wer sich in der Gesellschaft ausgegrenzt fühlt, neigt stärker zum Rückzug in eine Gruppe. Aus Gruppen heraus aber wird viel mehr Gewalt verübt als von Einzelkämpfern.
Dazu gesellen sich eine Reihe weiterer Erklärungsansätze, nachzulesen unter anderem in Studien des niedersächsischen Kriminologen Christian Pfeiffer oder des Bielefelder Sozialforschers Wilhelm Heitmeyer. Danach gesellen sich zu aus Fremdheit resultierender Selbstabschottung faktische Perspektivlosigkeit, oder, einfacher gesagt: Arbeitslosigkeit, schlechte Ausbildung, Armut. Und, nicht immer, aber häufig, ein anderes Verständnis von so etwas, was für Ehre und Männlichkeit gehalten wird. Vor allem Jungen wird häufig vermittelt, sie dürften keinerlei Schwäche zeigen - müssten aber, notfalls mit fragwürdigen Mitteln, irgendwelche Stärken an den Tag legen. Ebenso legen wissenschaftliche Erkenntnisse beredtes Zeugnis darüber ab, dass Gewalt in ausländischen Familien noch häufiger an der Tagesordnung ist als in deutschen. Und die meisten Menschen, die Gewalt ausüben, haben Gewalt selbst erlebt.
Seit dem massenhaften Auftauchen von Streetgangs Anfang der 90er-Jahre ist viel passiert. Zu den türkischen und arabischen Jugendlichen der zweiten Generation sind Tausende schlecht integrierte Aussiedlerkinder gekommen, die erst ihr erstes Jahrzehnt in Deutschland erleben. Und Mädchen wie Manu. Die in vieler Hinsicht kaum deutscher sein könnte, multikulturelle Orte wie Kreuzberg ablehnt und dennoch hart daran arbeitet, sich trotz ihrer weißen Mutter eine möglichst geschlossene Identität als Schwarze zu schaffen. Mindestens im Fünf-Minuten-Rhythmus weist sie darauf hin, dass sie anders, nämlich schwarz, also "Nigger" ist - und damit viel cooler als die Weißen. Wenn sie einmal Mutter werde, sagt sie dann auch noch, dann nur von "kleinen Schokokindern". Und: "Wir werden immer mehr - aber wir sind immer noch viel zu wenige."
Für's Erste konzentriert sie sich auf etwas Anderes: Seit vergangenem Sommer rafft sie sich - meistens - morgens auf, einen Kurs für Schulverweigerer zu besuchen. Wenn sie durchhält, hat sie am Ende einen Hauptschulabschluss. Und dann? Am liebsten, sagt sie, würde sie etwas mit Heimkindern machen, mit Kindern aus kaputten Familien. Wieso sie sich denn ausgerechnet mit Kindern, von denen viele schwierig seien, beschäftigen wolle? "Wieso?" fragt sie zurück, und für einen ganz kurzen Moment sieht sie gar nicht mehr so cool aus wie vorher: "Ich bin doch selbst ein schwieriges Kind."