Tauschen möchte Anette Fischer nicht. Die vielen Sitzungen, die Sachargumente von dieser und jener Seite, die unterschiedlichen Meinungen, gegenläufige Interessen, die abgewogen werden müssen: Nein, es dauert der Jungunternehmerin aus Bielefeld einfach zu lange, bis im Bundestag Beschlüsse zustandekommen. Die Betreiberin einer Abfallentsorgungsfirma mit 20 Beschäftigten sagt: "Wir müssen Entscheidungen schon mal von Jetzt auf Gleich treffen." Eines aber weiß sie inzwischen: "Die Abgeordneten leisten harte Arbeit, die Bilder im Fernsehen mit leeren Sitzen im Plenarsaal vermitteln ein falsches Bild."
"Abends", erzählt Anette Fischer, "ist man nach einem Sitzungstag im Parlament ziemlich erschöpft, eine gute Kondition ist schon erforderlich." Als "Praktikantin" des Abgeordneten Michael Kauch hat die Ostwestfälin den FDP-Politiker aus Dortmund den ganzen Tag über begleitet. Um acht Uhr in der Frühe ging es in dessen Büro los, bis zum Mittag diskutierten drei Arbeitskreise der Fraktion über Umwelt und Energiefragen, nachmittags debattierte dann die Fraktion der Liberalen. Abends war noch eine Lehrstunde in Sachen Lobbyismus angesagt: Vertreter der Wasserstoffwirtschaft hatten FDP-Politiker zu einem "Parlamentarischen Abend" eingeladen. Die Geschäftsfrau erfuhr dabei nicht nur einiges über die Bedeutung von Brennstoffzellen, sondern auch dies: "Bei solchen Treffen lernt man sich kennen, und die Abgeordneten laden dann schon mal einen solchen Experten zur Diskussion in einen Ausschuss ein."
Auch Michael Meister wechselt nicht die Seiten, Banker ist der hessische CDU-Parlamentarier nach einem zweitägigen "Praktikum" bei der Volksbank in Wiesbaden nicht geworden. Nützlich findet der Abgeordnete aus Bensheim an der Bergstraße diese Visite gleichwohl: "Nach solchen Erlebnissen im betrieblichen Alltag sieht man die Dinge doch mit anderen Augen." Er nennt ein Beispiel: "Manchmal beschwert sich ein Unternehmer, dass ihm die Bank plötzlich die Kreditlinie runterfährt. Aber wenn man weiß, nach welchen Kriterien Kredite vergeben werden, kann man das ganz anders einschätzen."
Sich hinter den Kulissen umtun: Das ist der Sinn der Aktion, die sich in bestem Neuhochdeutsch "Know-how-Transfer" nennt und den persönlichen Kontakt zwischen Volksvertretern und Nachwuchswirtschaftlern vermittelt. "Ein paar Tage vom Arbeitsfrühstück bis zum Fraktionsabend eng beieinander sein und einmal über die Schultern schauen." So beschreibt Bert Christmann, Bundesvorsitzender der Wirtschaftsjunioren Deutschlands (WJD) diese "Praktika". Seit zehn Jahren veranstalten die WJD den "Know-how-Transfer", und dieses Jahr meldet Christmann einen neuen Teilnahmerekord: 240 Abgeordnete aus allen Parteien ließen sich von 240 Jungunternehmern drei Tage lang von früh bis spät begleiten. Katrin Schütz aus Karlsruhe, die als WJD-Vorstandsmitglied das aufwendige Programm organisiert hat: "Es ist kein Problem, Parlamentarier für diese Aktion zu gewinnen, die machen inzwischen gern mit." Im Gegenzug sollen die Abgeordneten sich auch mal in den Betrieben umschauen, das geschieht aber nicht so häufig.
Die von der Kreis- über die Landes- bis zur Bundesebene bei den Industrie- und Handelskammern angesiedelten WJD, mit 11.000 Mitgliedern der größte deutsche Verband junger Unternehmer, verbinden mit dem "Know-how-Transfer" die Hoffnung auf eine besseres gegenseitiges Verständnis. Leute aus der Wirtschaft und Leute aus der Politik wüssten zuwenig über die konkrete Arbeit der Gegenseite. Der Alltag des Anderen bleibe meist "schemenhaft und abstrakt", heißt es in einer Stellungnahme zum diesjährigen Treffen in Berlin. Im besten Fall flössen die gewonnenen Erkenntnisse über unternehmerische Realitäten sehr bewusst in politische Entscheidungsprozesse ein. Und "umgekehrt sind die Unternehmer nach ihrem Besuch geduldiger mit der Politik - und entwickeln ein Verständnis dafür, wie ihre politischen Vorstellungen Eingang in den parlamentarischen Betrieb finden können".
Michael Meister macht schon seit mehreren Jahren beim "Know-how-Transfer" mit. Anette Fischer ist jetzt das zweite Mal dabei. Katrin Schütz, verantwortlich für ein Sportgeschäft, absolviert bereits ihr drittes "Praktikum" und hat sich dieses Mal an die Fersen der Stuttgarter SPD-Abgeordneten Ute Kumpf geheftet. "Die Entscheidungsmechanismen", sagt Schütz, "sind in Politik und Wirtschaft schon sehr unterschiedlich."
Auch wenn der enorme Diskussionsaufwand Anette Fischers Sache nicht ist, so bekundet sie doch Respekt vor der Tätigkeit der Abgeordneten. Ob in Arbeitskreisen der Fraktion oder in Parlamentsausschüssen: "Da wird natürlich politisch gestritten, aber etwa über Umweltbelastungen und Energiekonzepte auch weithin fachlich argumentiert", berichtet die Bielefelderin. Was sie auch gelernt hat: Die Volksvertreter können sich nicht als Experten auf wenige Politikfelder konzentrieren, man muss schon bei einem größeren Themenspektrum mithalten können.
Zum "Know-how-Transfer" gehört nicht nur das hektische Tingeln von Sitzung zu Sitzung, sondern auch ein Begleitprogramm. So fand der SPD-Fraktionsvorsitzende Franz Müntefering eine Stunde Zeit für die Junioren, kontrovers debattiert wurde dabei auch über die Ausbildungsplatzabgabe. Und an einem Abend diskutierten Michael Meister von der CDU und Jochaim Poß von der SPD mit den Besuchern aus allen Teilen der Republik.
Bei dieser Runde steht eine Unternehmerin auf und lässt mal richtig Dampf ab: Zwar könne man in den Ausschüssen auch kompetente Leute beobachten, andererseits aber säßen da Abgeordnete, die würden nur polemisieren, und da müsse man sich doch fragen, was die im Bundestag eigentlich machen. Ein Kollege ergänzt: "Bei den zahlreichen Sitzungen wird so viel geredet, und letztlich geschieht so wenig." Da sind die Kritiker bei Joachim Poß aus Gelsenkirchen an den Richtigen geraten, der altgediente SPD-Parlamentarier gibt kräftig Contra: Die allermeisten Abgeordneten bewältigten ein riesiges Pensum, "der Arbeitsaufwand ist enorm".
Dieses Aufeinandertreffen wird auch eine Lehrstunde über die Mühsal der Politik als Kompromissgeschäft. Die Wirtschaftsjunioren pochen mit Nachdruck auf niedrigere Steuern für Unternehmen, und das möglichst rasch. Doch selbst Michael Meister spricht vom Konzept der CDU als einer "Vision", deren Umsetzung schon ein paar Jahre dauern werde. Und der SPD-Politiker Poß dekliniert im Detail die Fallstricke des allseits beschworenen Subventionsabbaus durch: "Eine Steuervereinfachung ist nicht so schnell zu machen, wie sich das mancher vorstellt, die Lebenssachverhalte sind nun mal kompliziert."
Vertiefen die "Know-how-Transfers" über den Tag hinaus die Beziehungen zwischen Politik und Wirtschaft? Katrin Schütz: "Das ist öfters dann der Fall, wenn der Unternehmer und der Abgeordnete aus der gleichen Region stammen." Die Visite im Bundestag kann den Zugang erleichtern, "man kennt dann die Wege, um mal ein Anliegen vorzubringen". Karl-Otto Sattler