In seiner Religionssoziologie unterscheidet Weber Religionen danach, ob sie eine aktive oder eine passive, ob sie eine innerweltliche oder eine außerweltliche Haltung des Menschen begünstigen. Diese Einstellung führt wiederum zu vier unterschiedlichen Weltbildern, die man als Weltbeherrschung, Weltüberwindung, Weltanpassung und Weltflucht bezeichnen kann. Wo lässt sich vor diesem Hintergrund das antike Judentum in Webers Religionssoziologie verorten?
Max Weber hat das antike Judentum nicht explizit den fünf Weltreligionen (konfuzianisch, hinduistisch, buddhistisch, christlich, islamisch) zugeordnet. Doch wegen entscheidender geschichtlicher Voraussetzungen für Christentum und Islam und wegen einer gewissen Eigenbedeutung für die Entfaltung der modernen europäischen Wirtschaftsethik, hat er dem Judentum eine quasi weltreligiöse Bedeutung letztlich nicht verwehren wollen.
Am antiken Judentum interessierte ihn vor allem die Verwandtschaft zum asketischen Protestantismus, also die nüchterne hebräische Lebensweisheit, aber auch das mächtige Pathos der Propheten. Daneben analysiert er die Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen der altisraelitischen religiösen Ethik.
Der altisraelischen Gotteskonzeption liegt die Idee eines Himmelskönigs zugrunde, der zwei spezifische Probleme der Israelis lösen sollte: Wie in Ägypten oder in Mesopotamien war das Leben der Menschen in Israel in der Wüste vor allem vom Wasser abhängig und zweitens war Altisrael als Kleinstaat inmitten feindlicher Weltreiche auch machtpolitisch höchst gefährdet.
Der Gott Jahwe war zunächst ein Naturgott, ein Naturkatastrophen-Gott, mit dem die Altisraelis einen Bund schlossen im Versprechen, dass Altisrael den Bund halten und der Gott ihm dafür nach der Befreiung aus ägyptischer Knechtschaft die Herrschaft über Kanaan schenkt. Jahwe war also "nur" ein Gott, noch kein Alleinherrscher. Der universalistische Monotheismus entstand später.
Weber rekonstruierte die israelitisch-jüdische Religionsentwicklung historisch periodisierend: Bundeszeit, Zeit des Königtums in seinen verschiedenen Varianten, Exilszeit und Nachexilszeit. In diese historische Periodisierung bettet er drei soziologische Konstellationen ein: Die des kriegerischen Bauern- und Hirtenbundes mit ländlichem Schwerpunkt, dann die Konkurrenz von Magiern, Orakelpriestern und Kriegspropheten und schließlich die Konstellation der Hierokratie mit dem Lebensschwerpunkt in der Stadt.
Weber interpretiert die Religionsgeschichte des antiken Judentums anhand von vier Leithypothesen: Spiritualisierung der Gottesvorstellung, Rationalisierung der religiösen Ethik, Theologisierung des Rechts und Theokratisierung der Sozialverfassung. Damit sucht er vor allem folgende Fragen zu klären: Warum bildet das antike Judentum den Angelpunkt für die gesamte Kulturentwicklung des Okzidents und warum ist das antike Judentum zu einem Pariastatus von höchst spezifischer Art gelangt?
Die gewaltige Kulturbedeutung der altisraelitischen religiösen Ethik liegt für Weber in der Kombination vorexilischer levitischer Thoralehrer und vorexilischer Unheilspropheten, die auf höchst widersprüchlichem sozialem Terrain agieren. Weber betont die Bedeutung dieser großen Heterogenität der religiösen Lebensordnung: Land gegen Stadt, plebejisch gegen patrizisch, Kult gegen Lehre, Erbcharisma und Amtscharisma gegen persönliche charismatische Qualifikationen und nicht zuletzt die Gegensätze der Teilung des Königreiches in Nord und Süd politisch und religiös.
Diese widersprüchliche interne Konstellation erschwerte eine umfassende religiöse Sinngebung. Gleichzeitig bereitete sie den Boden für eine vitale intellektuelle Kultur und innovative religiöse Sinngebung. Weber sieht in der altisraelischen Ethik also einen Angelpunkt für mehrere Entwicklungsmöglichkeiten, wobei ihn insbesondere das Festhalten der Juden an einer Doppelmoral des wirtschaftlichen Handelns interessiert, die sich seit dem Exil zu einem Pariavolk entwickelt haben. Unter Pariavolk versteht Weber ein rituell, formell oder faktisch von der sozialen Umwelt geschiedenes Gastvolk.
Seine Charakterisierung der Juden als Pariavolk hat zu heftiger Kritik geführt, denn Weber hat mit dieser Charakterisierung manche Vorurteile seiner Zeit gegenüber dem Judentum, wie sie besonders in Deutschland gepflegt wurden, mit übernommen. Das Judentum sei die Nationalreligion eines uns ursprünglich fremden Stammes, hatte Heinrich von Treitschke seinerzeit missverständlich festgestellt.
Welchen Wert haben Webers Schriften über das antike Judentum heute? Die Wissenschaft vom Judentum hat im vergangenen knappen Jahrhundert große Fortschritte gemacht und Webers Texte erscheinen so gesehen vielerorts überholt.
Weber war ein Kenner der alttestamentarischen Literatur seiner Zeit, doch seitdem hat sich viel getan. Fast alle Kernthesen von Weber bedürfen heute der Differenzierung und erscheinen vielfach überholt. Doch umgekehrt bleibt nach der Lektüre daran zu erinnern, was Max Weber in den Vorbemerkungen von 1920 erklärte: "Welches Wertverhältnis zwischen den hier vergleichend behandelten Kulturen besteht, wird hier mit keinem Wort erörtert. Dass der Gang von Menschheitsschicksalen dem, der einen Ausschnitt daraus überblickt, erschütternd an die Brust brandet, ist wahr. Aber er wird gut tun, seine kleinen persönlichen Kommentare für sich zu behalten."
Ohne Zweifel hat Max Weber mit der Studie über das antike Judentum die allgemeine Entwicklungsrichtung der vorderasiatisch-okzidentalen Kulturreligionen aufgezeigt, innerhalb deren alternative, aber gleichrangige Religionen entstanden, wobei hier dem Judentum eine zentrale Bedeutung zukommt. Daran hat sich bis heute nichts geändert.
Max Weber
Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen:
Das antike Judentum.
Max-Weber-Gesamtausgabe I/21, 2 Bände.
Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2005; 910 S., 364,- Euro