Ernsthaft glaubt wohl fast niemand, dass der Kompromiss, den die Staats- und Regierungschefs im Dezember über die finanzielle Ausstat-tung der Europäischen Union bis 2013 erzielt haben, am Einspruch des Europäischen Parlamentes scheitern wird. Trotzdem nimmt Österreichs Bundeskanzler Wolfgang Schüssel den Unmut vieler Parlamentarier ernst. Das Parlament sei keine "Applausmaschine", versichert er und weist den Eindruck zurück, hier gehe es um einen "Machtkampf" zwischen Rat und Parlament. In den nächsten Monaten wollen die Österreicher, die bis Juni den Vorsitz im Ministerrat führen, einen Kompromiss zwischen den Vorstellungen des Parlamentes und den Mitgliedstaaten finden.
Das Parlament will 975 Milliarden Euro für die Zeit von 2007 bis 2013 einplanen. Die Staats- und Regierungschefs haben sich nach nervenaufreibenden Verhandlungen aber lediglich auf 852 Milliarden Euro verständigt. Damit hätten sie eine unerträgliche Kluft aufgerissen zwischen ihrem Anspruch und der europäischen Wirklichkeit, kritisiert der Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten (SPE), der Deutsche Martin Schulz. Die großen Fraktionen wollen die angespannte finanzielle Lage in den Mitgliedsstaaten zwar nicht ignorieren, lehnen ein "Weiter so" auf Sparflamme jedoch ab.
Mit breiter Mehrheit hat das Parlament den Finanzkompromiss vergangene Woche zurückgewiesen. Die EU dürfe ihre Ausgaben nicht auf die traditionellen Politikbereiche Landwirtschaft und Regionalförderung konzentrieren und müsse mehr Geld für neue Herausforderungen bereitstellen, heißt es in der entsprechenden Resolution. Andernfalls würden die Zusagen gegenüber den neuen Mitgliedsstaaten nicht eingelöst werden können, an der Förderung von Wachstum und Beschäftigung würde gespart.
Schüssel konnte dem Parlament zwar keine Hoffnung machen, dass die Mitgliedstaaten beim Gesamtvolumen der Finanzplanung noch etwas drauflegen, aber über alle Regeln, die beim Geldausgeben beachtet werden müssen, könne man aber reden, so der amtierende EU-Ratspräsident. Eine Möglichkeit hat der Rat bereits aufgezeigt. So sollen die Mitgliedstaaten drei - statt wie bisher zwei - Jahre Zeit haben, um die Fördermittel aus den Struktur- und Kohäsisonsfonds auszugeben. Geld, das nicht rechtzeitig ausgegeben wurde, fließt bislang an die Finanzminister der Mitgliedsstaaten zurück. Er könne sich vorstellen, dass nicht verbrauchte Haushaltsmittel an anderer Stelle eingesetzt würden, meint Schüssel. Beide Seiten sind sich auch darüber einig, dass eine Lösung im Finanzstreit durch "mehr Flexibilität" gefunden werden kann. Das Parlament erwartet beispielsweise, dass die Haushaltsreserve für die Außenpolitik der EU von bisher 200 Millionen Euro pro Jahr auf 500 Millionen Euro angehoben werden soll. Schüssel hat bereits Zustimmung signalisiert. Er ist nicht glücklich darüber, dass Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner oder der Außenpolitische Beauftragte des Rates Javier Solana bei außenpolitischen Aktionen "mit dem Hut herumgehen müssen".
Spielraum für eine Annäherung zwischen Rat und Parlament gibt es auch in der Frage der Haushaltsreform. Der Rat hatte sich im Dezember darauf geeinigt, ab 2008 über eine grundlegende Neuverteilung der Mittel zu beraten. Das Parlament will sich schon jetzt zusichern lassen, dass es dabei mitreden kann. Die Österreicher wollen diese Gelegenheit auch nutzen, um die Finanzierung der EU auf eine neue Grundlage zu stellen. Wenn 2013 erneut hinter verschlossenen Türen darüber gefeilscht werden müsse, wie viel Geld die Mitgliedstaaten für Europa bereitstellen müssen, "werden wir uns zerfleischen", sagt Schüssel. Die Union müsse aus der Logik der Verhandlungen herausgeführt werden, bei der es Gewinner und Verlierer gebe. Brüssel brauche eine eigene Einnahmequelle, betont er und vermeidet dabei bewusst das Wort "Steuer". Der Konservative aus Österreich hat auch schon eine Idee. So sei es keineswegs normal, dass der Kapitalverkehr oder die Luftfahrt in Europa nicht besteuert würden. Ansonsten haben sich die Österreicher allerdings weniger Steuern und weniger Bürokratie auf die Fahnen geschrieben. Darüber soll auf dem Frühjahrsgipfel diskutiert werden, der traditionell wirtschaftspolitischen Themen gewidmet ist.
Noch mehr diplomatisches Fingerspitzengefühl wird der Bundeskanzler aus Wien auf dem Gipfel brauchen, um einen Kompromiss über die Dienstleistungsrichtlinie zu erreichen. Die Österreicher halten an dem Ziel fest, die nationalen Märkte für Dienstleistungsfirmen aus anderen EU-Staaten zu öffnen. Das "europäische Sozialmodell" soll dadurch aber nicht beeinträchtigt werden. Über die richtige "Balance zwischen Marktöffnung und einem wirksamen Schutz vor Dumping" hat Schüssel schon mit den Spitzenverbänden der Gewerkschaften und der Arbeitgeber gesprochen.
Die nächste Herausforderung für die Österreicher ist die Verfassungskrise, mit der sich die Staats- und Regierungschefs auf dem Gipfel im Juni 2006 befassen wollen. Dann ist die einjährige Denkpause vorbei, die sie sich nach dem Nein der Holländer und Franzosen zum Verfassungsvertrag verordnet hatten. Die Diskussion, die bis dahin geführt werden müsse, dürfe keine elitäre Veranstaltung sein, sagt Schüssel. Das "Europa für alle" müsse das europäische Lebensmodell offensiv vertreten und die Frage nach den Grenzen der Union beantworten. Das sei "kein Problem für die Landvermesser, sondern für die Politiker".
In der entscheidenden Frage, ob die Ratifizierung des Verfassungsvertrages fortgesetzt werden soll oder nicht, halten sich die Österreicher bedeckt. Die von der deutschen Kanzlerin vorgeschlagene zusätzliche Sozialerklärung sei aber ein "interessanter Gedanke".
Man müsse jedenfalls "etwas Neues anbieten", sagt der Ratspräsident, der bis Juni seine Ideen in einem Bericht zu Papier bringen soll. Offenbar erst unter der deutschen Ratspräsidentschaft in der ersten Hälfte 2007 soll entschieden werden, ob und wie die Ratifizierung des Vertrages fortgesetzt wird. In Brüssel hoffen viele, dass die Holländer und die Franzosen bis dahin dafür gewonnen werden können. "Wir müssen den politischen Kontext ändern und nicht den Text", sagt die Vizepräsidentin der EU-Kommission Margot Wallström. Dazu neigen auch die meisten Abgeordneten im Europäischen Parlament. In einer Entschließung haben sie letzte Woche erneut unterstrichen, dass der "Vertrag von Nizza keine Grundlage für die Fortsetzung der europäischen Integration" sein könne.
Ausdrücklich spricht sich das Parlament gegen das von Frankreich erneut ins Spiel gebrachte Kerneuropa aus. Auch die Umsetzung einzelner Bestimmungen aus dem Verfassungsvertrag lehnt das Parlament ab. Das "Rosinenpicken" gefährde das dort gefundene, institutionelle Gleichgewicht. Bis 2009 soll die Verfassung nach Ansicht des Europäischen Parlaments in Kraft treten. Bis dahin wollen die Abgeordneten in Straßburg auf verschiedenen Ebenen über die Verfassung diskutieren - auch mit ihren Kollegen aus den Mitgliedstaaten.
Die Idee, die Diskussion in parlamentarischen Foren mit den nationalen Parlamenten zu führen, ist dort allerdings erst einmal verhalten aufgenommen worden. In einem gemeinsam verfassten Brief haben die Parlamentspräsidenten aus Österreich, Finnland und Deutschland darauf hingewiesen, dass sie die nationalen Parlamente nicht zu einer Reihe von Foren oder Konferenzen verpflichten können. "Da 13 Länder den Verfassungsvertrag bereits ratifiziert haben, zwölf aber nicht, haben die nationalen Parlamente sehr unterschiedliche Haltungen zur Debatte über die Zukunft Europas ...", heißt es in dem Schreiben. Außerdem verfügten nationale Parlamente nicht über die Ressourcen, sich in einen so breit geführten und langen Prozess einzubringen, wie ihn eine Serie von Konferenzen und Parlamentsforen darstellt. Auf jeden Fall soll es aber am 8. und 9. Mai zu einem ersten Treffen zwischen dem Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten kommen. Das haben die Absender des Briefes, Paavo Lipponen, Andreas Khol und Norbert Lammert, in ihrem Schreiben zugesagt. Dazu Norbert Lammert zum "Parlament: "Für mich zählt vor allem eines: der konstruktive Dialog auch und gerade in den Parlamenten".