Das liebe Geld oder das liebe Rindvieh - wenn sich die Europapolitiker in Brüssel, Straßburg oder Luxemburg wieder einmal die Köpfe heiß reden, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass es um die Finanz-, die Agrarpolitik oder beides geht. So auch Ende Juni 1965, als in Brüssel der Ministerrat der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zusammenkam. Auf der Tagesordnung stand die zukünftige Finanzierung der Agrarpolitik der aus den sechs Mitgliedsländern Frankreich, Italien, Belgien, Niederlande, Luxemburg und Deutschland bestehenden Gemeinschaft.
Drei Tage stritt der Rat über die von der Kommission gemachten Vorschläge über die Finanz- und Agrarpolitik. Dann kam es zum Eklat: Die französische Delegation unter Außenminister Maurice Couve - zugleich Vorsitzender des Ministerrates - verließ in der Nacht zum 1. Juli unter Protest die Sitzung. Am nächsten Tag gab Informationsminister Alain Peyrefitte die offizielle Begründung der Regierung von Staatspräsident Charles de Gaulle in Paris bekannt: "Nach dem Scheitern der in Brüssel geführten Verhandlungen nahm der Ministerrat mit Bedauern von der Tatsache Kenntnis, dass eine vor dreieinhalb Jahren eingegangene Verpflichtung, vor dem 30. Juni 1965 eine finanzielle Regelung zu treffen, nicht eingehalten worden ist. Er stellte fest, dass sich die EWG damit in einer Krise befindet, die deshalb besonders ernst ist, weil die französische Regierung in Erwartung dieser finanziellen Regelung im Januar 1962 die Inangriffnahme der zweiten Etappe des Vertrages von Rom zugestimmt hatte (...)." Die Konsequenz: Frankreich verweigerte schlichtweg weitere Tagungen des Ministerrates - die EWG war an einem toten Punkt angelangt.
Diese Krise sollte die Gemeinschaft über ein halbes Jahr lähmen, denn Paris führte seine "Politik des leeren Stuhls" konsequent fort. Doch der Agrar- und Finanzstreit überlagerte nur die eigentliche Ursache für die Krise. Die "Neue Zürcher Zeitung" brachte es in einem Leitartikel auf den Punkt: "Auf der einen Seite steht die von fünf Mitgliedern der EWG und besonders von den Kleinstaaten vertretene Konzeption, wonach Europa auf supranationalem Weg integriert werden soll. (...) Im Gegensatz zu seinen Partnern negiert de Gaulle das im Römischen Vertrag verankerte Prinzip der Supranationalität. Die einzige Autorität (...) geht nach seiner These vom Minis-terrat aus, in dem (...) bisher jedes Land ein Vetorecht besaß." Die Frage, wieviel Kompetenzen die nationalen Regierungen an die supranationalen Institutionen Europas abtreten sollen und wollen, erhitzt die Gemüter bis heute.
Im Januar kommt schließlich Bewegung in den festgefahrenen Streit. Frankreich legt auf einer außerordentlichen Sitzung des Ministerrates am 17. und 18. Januar 1966 in Luxemburg seine Vorstellungen und einen Zeitplan zur Überwindung der Krise vor - ohne Ergebnis. Die Konferenz vertagt sich bis zum 28. Januar.
Einen Tag vor Wiederaufnahme der Verhandlungen setzt der Deutsche Bundestag in Bonn die Krise zum wiederholten Mal auf die Tagesordnung. Außenminis-ter Gerhard Schröder (CDU) legt den Standpunkt der Bundesregierung unmissverständlich dar: "In der Frage der Mehrheitsabstimmung ist Artikel 148 des EWG-Vertrages maßgebend: ,Soweit es in diesem Vertrag nicht anders bestimmt ist, beschließt der Rat mit der Mehrheit seiner Mitglieder.' Ein allgemeines Vetorecht ist mit dieser klaren Bestimmung unvereinbar." Das Prinzip der Mehrheitsentscheidung, so argumentierte Schröder, sichere die Funktionsfähigkeit des Rates gegen Obstruktion und fördere zugleich die Bereitschaft zur Verständigung. Unterstützung für seinen Kurs findet Schröder in allen drei Bundestagsfraktionen - auch in der Opposition. Ganz gleich, was seine Fraktion ansonsten von der Regierung halte, sichert Herbert Wehner ihr die Unterstützung der SPD-Fraktion für die Verhandlungen in Luxemburg zu.
Doch Deutschland und die vier anderen EWG-Mitglieder können sich nicht konsequent gegen Frankreich durchsetzen. Der schließlich bei den Verhandlungen am 28. und 29. Januar gefundene Kompromiss wird wegweisend für die weitere Entwicklung Europas. Zwar einigt man sich, dass in allen strittigen Fragen ein Konsens gefunden werden soll, aber de facto wird das Vetorecht für jene Fälle festgeschrieben, in denen "vitale Interessen" eines Landes betroffen sind. Dieses selbstauferlegte Einstimmigkeitsprinzip blockiert den Ministerrat bis 1982, als dieser erstmals mit qualifizierter Mehrheit die Position Großbritanniens, ebenfalls in einem Agrarstreit, überstimmt - übrigens mit ausdrücklicher Billigung Frankreichs.