Nach Umfragen in Johannesburg und Kapstadt betrachten schon 14-jährige Schülerinnen Vergewaltigung als unabdingbares Übel. In punkto Vergewaltigung und häuslicher Gewalt ist Südafrika trauriger Spitzenreiter in der Welt, ebenso, als Folge davon, bei der Zahl der HIV-Infektionen, insbesondere unter jungen schwangeren Frauen. Vordergründig scheint es, dass der politische Wille und die entsprechende Unterstützung durch Polizei und Justiz bei der Umsetzung von Frauenrechten und einem wirksamen Opferschutz fehlen. Dass die Gründe für dieses Dilemma durchaus tiefer liegen, beleuchtet die Ethnologin und Sozialanthropologin Rita Schäfer in ihrer Studie "Im Schatten der Apartheid".
Auf rund 500 Seiten stellt die Autorin in historisch-systematischer Perspektive und auf breiter empirischer Basis dar, wie geschlechtsspezifische Gewaltformen, beginnend mit der Kolonialisierung und den damit verbundenen Geschlechterhierarchien über soziale, ökonomische und politische Umbruchprozesse während der Industrialisierung bis hin zum repressiven System der Apartheid, sich als patriarchale Grundmuster in die südafrikanische Gesellschaft eingeschrieben haben.
Mit Blick auf das heutige Ausmaß der strukturellen sexuellen Gewalt innerhalb und außerhalb von Ehe und Familie, werden aus dieser Perspektive die bitteren Kontinuitäten eines Gesellschaftssystems sichtbar, das die Trennung der Lebensbereiche zwischen Schwarzen und Weißen jahrzehntelang total organisierte. In ihrer detailreichen Analyse zeigt Schäfer, wie stark die Apartheids-Regierung und ihr Repressionsapparat geschlechtsspezifische Gewaltformen förderte, in dem sie zum Beispiel massiv in das sozio-ökonomische Gefüge der nicht-weißen Bevölkerung, in ihre Familienstrukturen und Wohnformen eingriff und diese durch systematische Vertreibung in die "Homelands" oder Ghettoisierung in den "Townships" zerstörte.
Tiefenschärfe gewinnt ihre Analyse dadurch, dass sie die kulturellen Legitimationen geschlechtsspezifischer Gewaltformen und deren Interdependenzen innerhalb der verschiedenen Lebenswelten mit in den Blick nimmt. So kann sie zeigen, wie Gewaltbereitschaft und Gesundheitsrisiken in einander greifen, beispielsweise bei männlichen Jugendlichen in den ehemaligen Townships, die Vergewaltigung oder "rough sex" als Teil ihrer Männlichkeit interpretieren und dadurch ökonomische und berufliche Perspektivlosigkeit kompensieren. Oder, wie traditionelle Geschlechternormen in Zeiten starker sozialer und ökonomischer Transformationen als vermeintlich stabilisierender Faktor erneut an Bedeutung gewinnen; wie etwa der Mythos, Geschlechtsverkehr mit einer Jungfrau könne zur Aids-Prävention beitragen.
Obwohl Frauenrechtsorganisationen als Forschungsthema in der deutschen und englischsprachigen Ethnologie und Sozialanthropologie noch weitgehend unbeachtet sind, gelingt es Schäfer, zahlreiche der Organisationen vorzustellen und ihre durchaus gegen- sätzlichen Gender-Konzepte überzeugend darzustellen. Auch wenn derzeit aus Südafrika wenig Positives in punkto Frauenrechte zu berichten ist, eines haben Organisationen wie "Rape Crisis", "Black Sash" oder "Ilitha Labantu" erreicht: Sexuelle Gewalt wird nicht länger als privates Problem tabuisiert, sondern in der Öffentlichkeit diskutiert, allen Anfeindungen wie zuletzt im Umfeld des spektakulären Vergewaltigungsprozesses gegen den stellvertretenden Präsidenten des Landes, Jacob Zuma, zum Trotz.
Während Rita Schäfer als engagierte Ethnologin und Sozialanthropologin mit einem scharfen Blick von außen die Spätfolgen der Apartheid analysiert, reflektiert die schwarze Psychologin Pumla Gobodo-Madikizela das schwierige Erbe der Apartheid aus dem Inneren der Verhältnisse.
Gibt es eine Chance für Versöhnung nach Massenverbrechen? Diese Frage hält Pumla Gobodo-Madikizela, Mitglied der Wahrheits- und Versöhnungskommission (TRC), in Gesellschaften, in deren Vergangenheit schwere Verbrechen gegen die Menschenrechte verübt worden sind, für elementar und führt so die Leser ihres Buches "Das Erbe der Apartheid. Trauma, Erinnerung und Versöhnung" direkt hinein in den komplexen Prozess südafrikanischer Vergangenheitsbewältigung. Ihre Begründung: Wenn Menschen ge- zwungen sind, mit ihren früheren Feinden in einer Gesellschaft zusammenzuleben, wenn ihr Leben mit dem ihrer ehemaligen Peiniger eng verbunden ist, dann müssen beide Seiten Wege finden, menschliche Beziehungen so zu verändern, dass demokratische Strukturen und ziviles Zusammenleben entstehen können.
Wie ein solcher Weg aussehen kann, davon berichtet die Autorin anhand der Geschichte ihrer Begegnung mit Eugene de Kock, der als Kommandant der Todesschwadronen im Apartheidsstaat unzählige Morde an Aktivisten der Befreiungsbewegung zu verantworten hat. Als Gobodo-Madikizela erfährt, dass de Kock sich nach seiner Zeugenaussage vor der TRC bei den Witwen der Opfer eines von ihm durchgeführten Bombenattentates für seine Tat entschuldigt, führen Erstaunen und Neugier über diesen Akt der Reue sie in den Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses von Pretoria. In ihrer Geschichte begegnen sich zwei Menschen, deren Erinnerungen an die Vergangenheit sich diametral unterscheiden: Der eine weiß, die andere schwarz, ein Mann, eine Frau. Er, mörderischer Repräsentant des Apartheids-Regimes. Sie, die die Diskriminierungen der Apartheid schmerzhaft am eigenen Leib erfuhr. Im Verlauf der Gespräche erlebt sie, wie bei de Kock ein Gewissen für seine Taten entsteht und er das repressive System zu analysieren beginnt, für das er gearbeitet hat. Kritisch reflektierend macht Gobodo-Madikizela die Gedankengänge des Täters nachvollziehbar und gelangt über die Analyse der seelischen Vorgänge des Abscheus und Grauens gegenüber seinen Verbrechen zu einem Akt des Verzeihens.
Für eine neue politische Gemeinschaft, die die Transformation zu einer funktionierenden Demokratie zu bewältigen hat, kann, so der Historiker Jörn Rüsen im Nachwort, ein derartiger Akt der Vergangenheitsbearbeitung zweierlei leisten: "Den Tätern wird grundsätzlich der Menschlichkeitsstatus nicht abgesprochen, sondern zugebilligt - in vollem Bewusstsein der begangenen (...) Taten. Zugleich befreien sich die Opfer von der Last ihres Opferstatus und gewinnen die ihnen geraubte Menschlichkeit im Akt des Verzeihens für sich zurück." Ohne Frage ist Gobodo-Madikizelas Konzept des Verzeihens und Versöhnens durch den spezifisch südafrikanischen Kontext geprägt, da hier die Paradigmen "Wahrheit" und "Versöhnung" nach dem Ende der Apartheid das neue Selbstverständnis Südafrikas als Demokratie begründeten. Ihr Verdienst ist es, über diesen Kontext hinaus, entlang grundsätzlicher Überlegungen zum Umgang mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Perspektiven für kollektive Verarbeitungsprozesse gewalttätiger Vergangenheiten zu entwerfen, die die juristische Ebene der Strafverfolgung sinnvoll ergänzen. Kein leichter Weg, möglicherweise aber einer, der einen demokratischen Willensbildungsprozess von unten tragfähig macht.
Pumla Gobodo-Madikizela: Das Erbe der Aparthei. Trauma, Erinnerung, Versöhnung. Mit einem Vorwort von Nelson Mandela. Verlag Barbara Budrich, Opladen 2006; 224 S., 14,90 Euro.
Rita Schäfer: Im Schatten der Apartheid. Frauen-Rechtsorganisationen und geschlechtsspezifische Gewalt in Südafrika. Lit Verlag, Münster 2005; 480 S., 29,90 Euro.