Gegen Mittag legt sich die Stille wie eine Haube über das Gebäude. Die Flure werden von Neonröhren in mattes Licht getaucht, die Klassenzimmer liegen verwaist hinter verschlossenen Türen. Dort wo eben noch eine Handvoll Schüler Bas- ketball spielte, weht jetzt ein Hauch von Kuhdung über den Hof. 41 Schüler haben heute in der Mittelschule Priestewitz ihren Abschluss gemacht. Nach der Englischprüfung sind sie gegangen, und mit ihnen die letzten, die diese Schule mit einem Zeugnis in der Tasche verlassen. Die letzten drei Klassen, ein Häuflein von 60 Schülern, werden im neuen Schuljahr auf eine andere Schule geschickt. Ebenso die Lehrer. Klar ist: Am 21. Juli wird diese Schule geschlossen. Endgültig.
Für Ernst-Georg Rendke ist das eine Katastrophe. Er ist seit 15 Jahren Bürgermeister der 3.600-Einwohner-Gemeinde bei Riesa, ein sportlicher Typ in Poloshirt und Blue Jeans, der sich mit unzähligen Widersprüchen und flammenden Protestbriefen seit Jahren gegen die Schließung der Schule gewehrt hat. In Priestewitz, sagt der 63-Jährige, die Arme vor der Brust verschränkt, habe man doch seit der Wende so vieles aufgebaut: eine moderne Abwasserversorgung, eine neue Grundschule, den Bahnhof mit dem großem Parkplatz. Auch die Straßen, die die 22 über fruchtbare Wiesen und Felder versprengten Ortsteile miteinander verbinden, seien in einwandfreiem Zustand, es gebe sogar Kitas und Kindergärten. "Wir haben versucht, den Ort lukrativ zu gestalten, durch Vereine, Dorfgemeinschaftshäuser und Jugendclubs, durch Möglichkeiten, sich zu treffen", sagt Rendke. Was nun aber durch die Schulschließung kaputt gemacht werde, empört er sich, "kann man überhaupt niemandem erzählen. Das hinterlässt ganz sicher eine Narbe."
Ein Zurück gibt es nicht. Auf Rendkes Schreibtisch liegt der jüngste und sehr wahrscheinlich letzte Bescheid des sächsischen Kultusministeriums. In dem teilt die Behörde ihm mit, dass für den Erhalt der Mittelschule Priestewitz kein "öffentliches Bedürfnis" mehr bestehe. Das bedeutet Schließung, und zwar schnell - angeordnet wird "sofortiger Vollzug". Das Land hat Gründe für seine Entscheidung: Drei Jahre lang hat die Schule der kleinen Gemeinde im Norden Sachsens keine 5. Klasse mehr zusammen bekommen. Statt 40 Schülern, die mindestens nötig sind, um zwei Klassen zu bilden, waren es in Priestewitz in einem Jahr gerade noch 16. Damit, meint das Ministerium, sei ein entsprechendes Bildungsangebot nicht mehr zu garantieren. Es gehe um die Qualität der Lehre, erklärt man, nicht darum, Geld zu sparen. Zusammen mit rund 900 weiteren Schulen kam Priestewitz auf die rote Liste.
Die Probleme sind überall die gleichen: Weil die Geburten seit der Wende so eklatant zurückgegangen sind, kämpft inzwischen fast jedes Dorf im Osten um seine Schule - und zur Not auch gegen die Nachbargemeinde. Im Landkreis Riesa-Großenhain etwa warben umliegende Schulen die Kinder sogar mit Briefen ab, nachdem Priestewitz in den Fokus der "Schulnetzreform" geraten war. Zudem meldeten viele Eltern ihre Kinder lieber gleich woanders an, weil sie unsicher waren, ob sie in Priestewitz die Schule würden beenden können. Die Folgen waren verheerend: In dem Maße, in dem die Schülerzahlen sanken, bekräftigten sie die Argumente der Reformbefürworter. Die Schließung der Schule wurde immer wahrscheinlicher.
Ärgern will sich Andreas Oelmann, seit 1990 Direktor der Mittelschule Priestewitz, darüber jetzt nicht mehr. Seine Wut ist der Resignation gewichen, aber auch dem Blick nach vorn. Mit Schuldzuweisungen ist er vorsichtig. Er sagt, er finde es sogar "nachvollziehbar", dass Schulen geschlossen werden müssen. Schließlich, meint der 54-Jährige voller Verständnis, sei es an einer solchen "Zwergenschule" eben schwierig, genug Fachlehrer einzusetzen. Trotzdem: Der engagierte Direktor hat über all die Jahre zusammen mit Eltern, Lehrern und Schülern für den Standort Priestewitz gekämpft - "als Gemeinderat und Bürger, nicht als Beamter", wie er betont. Bis heute ist er überzeugt: "Hier vor Ort hätte man es anders machen können. Dafür gab es viele Argumente."
Einige sind offenkundig. Nicht nur, dass die Schule mit ihren Projekten, Workshops und Schnupperkursen, von Aquaristik bis zu japanischem Kampfsport, den Schülern durchaus etwas anzubieten hatte. Und auch nicht nur, weil es sich lohnt, im Rahmen der Pisa-Debatte einmal über den Nutzen kleinerer Klassen nachzudenken. Darüber hinaus fragen sich hier viele, warum eine Dorfschule wie Priestewitz schließen muss, wenn gleichzeitig in der fünf Kilometer entfernten Kreisstadt Großenhain zwei Mittelschulen erhalten bleiben. "Wir haben einen Plan für den Erhalt einer Mittelschule in Großenhain und den unserer Schule vorgelegt", sagt Oelmann. "Aber die Kreisräte haben dagegen gestimmt." Die Vermutung liegt nahe: Als es darum ging, entweder die Stadt oder das Land zu fördern, haben sich die Verantwortlichen für die Stadt entschieden.
Eine Menge Fragen bleiben offen. Zum Beispiel jene, warum es eigentlich besser sein soll, dass die Kinder nun jeden Morgen ab sechs Uhr mit dem Schulbus abgeholt werden, damit sie zwei Stunden später in Großenhain im Klassenzimmer sitzen. Oder warum man eine über die Gemeindegrenzen hinaus beliebte Landschule schließt, die, wie die Sportlehrerin Martina Stolle erzählt, von den "engen Beziehungen zu den Eltern" gelebt hat, von der Zusammenarbeit mit den vielen Vereinen des Ortes, der Gemeinde und der Kirche und der intensiven, persönlichen Betreuung. "Hier liefen alle Fäden zusammen", sagt sie. "Für den Ort ist das jetzt verloren."
Mehr noch: Mehrere Millionen Euro wurden seit 1990 in der Schule verbaut, zu 70 Prozent kamen sie aus den Fördertöpfen des Landes. 2001 bekam sie neue Toiletten und eine hochmoderne Solaranlage, 1993 für annähernd 5 Millionen D-Mark eine voll ausgestattete Mehrzwecksporthalle nebst Fußballplatz. Viel Aufwand für eine Landschule, allein: "Über Geld wurde hier gar nicht geredet", sagt der Bürgermeister. "Die haben nur die reinen Schülerzahlen gesehen, nicht aber, was wir hier in den vergangenen Jahren alles aufgebaut haben."
Rendke redet sich in Rage. Ungehalten spricht er von den "herrschenden Mehrheiten im Kreistag", als wären sie Boten des drohenden Untergangs. Der Bürgermeister ahnt, dass die sächsische "Schulnetzanpassung" die mühsam errichtete Infrastruktur des Ortes wieder kaputt machen könnte. Läden gibt es ja ohnehin kaum noch, und die einzige Dönerbude des Dorfes, befürchtet ihr Besitzer Hayri Yildiz, wird es ohne die Schule in der Nähe schwer haben. Schuldirektor Oelmann sieht harte Zeiten auf die Kommune zukommen: "Natürlich geht mit der Schule ein Stück Identität verloren", sagt er, "Heimat und Kultur. Vor allem aber ist es doch ein Teufelskreis. Die Leute schauen ja nicht nur, ob sie hier schön wohnen können oder gut an die Stadt angebunden sind, sondern auch in welchem Umfeld ihre Kinder aufwachsen." Und ohne Schule, das ist den meisten hier klar, wird die Gemeinde Mühe haben, junge Familien im Ort zu halten. Für Bürgermeister Rendke der Anfang vom Ende: "Wenn die Kinder gehen, geht die Zukunft des Dorfes letztlich mit", sagt er verbittert. Und man ahnt: So manche Kommune im Osten wird auf diese Weise wohl endgültig zur Wüstung.
Die Konsequenzen dieser Entwicklung hat Rendke längst ins Auge gefasst. Noch ist zwar nicht klar, wer das Gebäude einmal nutzen wird, wenn die Schule im Juli schließt. Wahrscheinlich steht sie erst mal ein bis zwei Jahre leer. Für die Zeit danach aber hat er eine Idee: Aus dem Plattenbau, idyllisch gelegen am Rande der Ortschaft, überlegt er, könnte man doch ein Haus für altersgerechtes Wohnen machen. Er hält kurz inne, blickt fragend über seinen Schreibtisch und stellt dann nüchtern fest: "Dafür gibt es doch eigentlich immer Bedarf."