So geschehen Ende November 2005 in Khayelitsha, einer von mehreren Schwarzensiedlungen südlich von Kapstadt. Sogar das südafrikanische Fernsehen berichtete darüber.
Die Deutschen hatten Pech, denn in der Regel erfahren Besucher von der erschreckend hohen Kriminalität in Khayelitsha nur aus Erzählungen oder aus den Medien. Ende März verlieh die Tageszeitung Cape Times Khayelitsha den Titel "Vergewaltigungshauptstadt" der Westkap-Provinz. Kurz zuvor hatte die in Johannesburg erscheinende Wochenzeitung "Mail & Guardian" den Hilferuf einer jungen Frau aus Khayelitsha gedruckt, deren Mutter innerhalb von nur sechs Wochen zwei Mal am hellichten Tage ausgeraubt wurde. Khayelitsha sei "die Hölle auf Erden" und niemanden kümmere das, klagte die Frau. Manche Reiseführer beschreiben die Stadt als "gefährlichstes Wohngebiet der Welt". Laut einer Studie vom Simelela Centre for Rape Survivors in Khayelitsha würden an keinem anderen Ort mehr Mädchen und Frauen vergewaltigt als hier.
Khayelitsha ist die jüngste der Kapstädter Schwarzensiedlungen, aber mit rund einer Million Einwohnern auch die größte. Anfang der 80er-Jahre machte die Regierung das Land frei und siedelte Bewohner aus überfüllten Townships dorthin um. Seitdem zieht Khayelitsha täglich Zuwanderer vor allem aus ländlichen Gebieten an, die in der Stadt ihr Glück suchen. Die meisten sind arbeitslos oder schlagen sich als Tagelöhner durch und wohnen in kleinen Wellblech- oder Holzbaracken, andere in komfortableren Steinhäusern. Eine kleine Oberschicht leistet sich hoch umzäunte und bewachte Villen, die man sonst in Südafrika nur aus den Wohngebieten der Weißen kennt.
Die Ursachen der hohen Kriminalität und der Gewalt in Südafrika sind vielfältig. Dazu zählen Armut und Perspektivlosigkeit, unter der die meisten Schwarzen auch zwölf Jahre nach Ende der Apartheid leiden, und ein gestörtes Selbstverständnis, das die jahrelange Demütigung durch die Weißen bei vielen männlichen Schwarzen hinterlassen hat.
In den Townships hat der Staat zudem auch im demokratischen Südafrika nicht das Gewaltmonopol. Die Polizei ist schwach und konkurriert mit nichtstaatlichen Institutionen aus der Apartheidzeit, den so genannten Straßenkomitees. Das sind Ausschüsse von respektierten Personen, die bis heute als Streitschlichter und Ordnungshüter für jeweils 50 bis 250 Haushalte auftreten - Selbsthilfeorganisationen aus einer Zeit, in der der Staat den Schwarzen gegenüber vor allem als Unterdrücker auftrat. Doch auch die Straßenkomitees sind längst nicht mehr so mächtig wie früher.
Tembele Ernest kommt aus einem Dorf am Ostkap und lebt seit 1997 in einer der Bretterbuden von Khayelitsha. Seine Frau und seine kleine Tochter hält er durch den Verkauf von Süßigkeiten und Haushaltswaren über Wasser. Das Warenangebot seines kleinen Ladens passt in den Einkaufswagen eines Supermarkts, der in seiner Hütte steht. Mehrmals schon hätten Jugendliche die Tür eingetreten und ihn beklaut. Auf die Polizei sei kein Verlass. "Im Gegenteil", schimpft Ernest und zeigt auf eine notdürftig reparierte Stelle an der Türfassung. "Neulich haben sie hier einen Räuber verfolgt und mit einem Polizeiwagen mein Haus gerammt. Ich war sogar auf der Wache deswegen, aber niemand interessiert sich dafür. In Khayelitsha musst du dir schon selbst helfen."
Khayelitsha hat drei Polizeistationen mit ingesamt 600 Beamten. Zu Spitzenzeiten sind 100 Polizisten auf Streife. Zum Vergleich: In Frankfurt am Main mit knapp 700.000 Einwohnern gibt es mehr als 3.000 Polizeibeamte. Vor allem die unteren Dienstgrade der südafrikanischen Polizei sind schlecht ausgerüstet, unterbezahlt und wenig motiviert. Ein informelles Versetzungsverfahren sorgt zudem dafür, dass die unfähigsten Polizisten in die schwierigsten Einsatzgebiete kommen: Beamte, die sich im Dienst etwas zu Schulden kommen lassen, droht die Versetzung in so genannte "Bestrafungsstationen", und die liegen vor allem in den Townships. Nicht die besten Voraussetzungen für die Polizei, die Folgen der Apartheid zu überwinden und in Khayelitsha Fuß zu fassen.
Dabei hat sich die Situation seit der Wende 1994 schon deutlich verbessert. "In der ersten Hälfte der 90er-Jahre war Khayelitsha für die Polizei praktisch eine No-Go-Area", erinnert sich Gerrit Nieuwoudt. Der stämmige 49-Jährige ist seit fast 30 Jahren Polizist, von 1996 bis 2004 war er in Khayelitsha stationiert. "Als ich dort anfing, nutzten die Bewohner ihre neue Freiheit für Demonstrationen und Proteste. Und als sichtbare Vertreter des Staates kriegten die Polizisten den ganzen Zorn ab."
Nieuwoudt, der sich selbst einen "progressiven Polizisten" nennt, hat das Community Police Forum von Khayelitsha mit aufgebaut. Hier sitzen Vertreter der Polizei und der Bürger, von Kirchen und anderen nichtstaatlichen Einrichtungen an einem Tisch und beraten über Probleme in ihrer Stadt. Solche Foren entstanden in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre im ganzen Land. Ihr Zweck besteht darin, die Beziehungen zwischen Bürgern und Staatsmacht zu verbessern und der Polizei Zugang zu den Wohngebieten der Schwarzen zu verschaffen. Denn im neuen, demokratischen Südafrika reklamiert der Staat das legitime Gewaltmonopol für sich; für die Selbsthilfe durch die Straßenkomitees ist eigentlich kein Platz. "Die Komitees waren ziemlich sauer, als die Polizei anfing, in ihren Vierteln nach Verdächtigen zu suchen", erinnert sich Gerrit Nieuwoudt an die Zeit in Khayelitsha.
David Hempe macht keinen Hehl daraus, dass dieses Unbehagen bis heute geblieben ist. Der Mann dürfte die 60 weit überschritten haben und ist Vorsitzender eines 15-köpfigen Straßenkomitees in Khayelitsha. "Neulich haben ein paar Jungs aus dem Nachbarviertel eine Frau bei uns überfallen", erzählt er. "Wir haben dem Komitee dort einen Brief geschrieben, und die kümmern sich jetzt darum." Ansonsten aber beschäftigten sich die Komitees fast nur noch mit kleineren Angelegenheiten wie nächtliche Ruhestörung, sagt Hempe - und fügt mit wehmütigem Unterton hinzu: "Früher durften wir Kriminelle noch bestrafen, heute nicht mehr. Heute bestrafen die jungen Leute uns."
Für Hempe steht außer Zweifel, dass die Kriminalität in Khayelitsha seit Ende der 90er-Jahre auch deshalb gestiegen ist, weil die Straßenkomitees nicht mehr so durchgreifen dürfen wie früher. Die Polizei schrecke Straftäter nicht ab - anders als die drakonischen Strafen wie öffentliche Auspeitschungen, die die Komitees früher verhängt haben. Die Zusammenarbeit mit der Polizei im Rahmen des Khayelitsha Community Police Forum beurteilt Hempe skeptisch. Die Foren hätten mal eine gute Zeit gehabt, heute aber seien sie weitgehend eingeschlafen.
Senior Superintendent Johan Ellmann, der eine von drei Polizeistationen in Khayelitsha leitet, sieht es nicht ganz so düster. Das Verhältnis zwischen Bürgern und Polizei habe sich in den vergangenen Jahren verbessert. Er räumt aber ein, dass die Beteiligung am Forum besser sein könnte: "Die Motivation hat deutlich nachgelassen." Für Gerrit Nieuwoudt, seit zwei Jahren Chef einer Polizeiwache außerhalb von Kapstadt, gibt es Versäumnisse auf beiden Seiten: Die Bürgervertreter in den Foren berichteten nicht immer zuverlässig an ihre Basis. Dadurch sei der Kontakt zwischen Gemeinde und Polizei oft nicht gewährleistet. Auf der anderen Seite seien viele Polizeibeamte nach wie vor nicht sensibilisiert für die Nöte der Township-Bewohner. "Auf beiden Seiten ist noch viel Vertrauensarbeit nötig", sagt Nieuwoudt. Er und Ellmann erfahren täglich, dass die Polizei bei der Verbrechensbekämpfung auf die Zusammenarbeit mit den Kommunen angewiesen ist.
Der südafrikanische Staat aber will sich das Heft nicht aus der Hand nehmen lassen und versucht, die erforderlichen Bürgerinitiativen in seinem Sinne zu steuern. In dem Maße, in dem die Straßenkomitees an Einfluss verlieren, erfindet die Regierung immer neue Ansätze für eine bürgernahe Polizeiarbeit, die die Lücke schließen und die Schwächen der Community Police Forums ausgleichen sollen.
Der Erfolg dieser Initiativen hängt maßgeblich davon ab, welche Rolle der Staat gewachsenen zivilgesellschaftlichen Institutionen künftig zugesteht. Romeo de Lange vom Ministerium für kommunale Sicherheit der Westkap-Provinzregierung sagt, seiner Ansicht nach sollten die Straßenkomitees in den Community Police Forums aufgehen. Für andere Experten hingegen haben Versuche, nichtstaatliche Ordnungsstrukturen in den Staat zu integrieren, wenig Aussicht auf Erfolg. Das widerspräche jahrzehntelanger Rechtspraxis in den Townships.
Deren Einwohnern bleibt vorerst die Ungewissheit, wer sich künftig um ihre Sicherheit kümmert: der Staat tut es nur ungenügend und die traditionellen Institutionen dürfen es nicht mehr. Die Gefahr besteht, dass die Lücke dauerhaft von Leuten gefüllt wird, die bei den Begriffen Recht und Ordnung vor allem an ihre eigenen Interessen denken. In Khayelitsha hat sich eine solche Gruppe aus Veteranen des schwarzen Freiheitskampfes und Ex-Soldaten bereits etabliert. Am Taxistand in einem der unsichersten Viertel der Stadt warten sie in einem Bürocontainer auf Kundschaft. Sie treiben Schulden ein, fangen Tatverdächtige, lösen aber auch "andere Probleme", bei denen Männer gefragt sind, die mit Waffen umgehen können und nicht zimperlich sind - alles gegen Bezahlung. Was Recht und Gesetz ist, entscheidet bei dieser Art Ordnungshütern der Geldbeutel.