Jan Peter Balkenende, christdemokratischer Minis-terpräsident der Niederlande, mag es wohl als ein Deja-vu empfunden haben, als am 29. Juni sein gesamtes Kabinett aus christdemokratischer CDA, rechtsliberaler VVD und linksliberaler D'66 gesprengt wurde und das Land nun unversehens ohne Regierung dasteht. Bereits im Oktober 2002 ereilte Balkenende ein ähnliches Schicksal, als die aus CDA, VVD und Lis-te Pim Fortuyn bestehende Regierung an innerparteilichen Querelen der LPF-Minister zerbrach. Schon damals wurde Balkenende heftig kritisiert, weil es ihm an Tatkraft gefehlt und er die Krise nicht durch ein Machtwort gemeistert habe, sondern den Dingen ihren Lauf ließ. Ähnlich urteilen auch jetzt die politischen Kommentatoren im Lande.
Entzündet hatte sich der Streit an der Person der Somalia stammenden Islamkritikerin Ayan Ali Hirsi, seit Ende 2002 Mandatsträgerin in der Zweiten Kammer für die rechtsliberale VVD. Die zuständige Minis-terin für Ausländerfragen, Rita Verdonk, die ebenfalls der VVD angehört und die seit ihrem Amtsantritt im Mai 2003 einen restriktiven Kurs im Ausländerrecht steuert, meinte, Fehler im Einbürgerungsprozess der Ali Hirsi ausgemacht zu haben. Daher wollte sie kur-zerhand die Staatsbürgerschaft der Parlamentarierin "stornieren". Ein einmaliger Vorgang, insbesondere, wenn man den prinzipiell ausgeprägten Dualismus von Exekutive und Legislative in den Niederlanden berücksichtigt.
Letztlich ließ sich Verdonk auf einen Handel ein, in dem sie zwar Ali Hirsi die Staatsbürgerschaft beließ, sie aber zur Abgabe einer Verpflichtungserklärung nötigte, in der Ali Hirsi die Schuld "für die entstandene Verwirrung" auf sich nehmen musste. Obwohl juristisch nicht erforderlich, verlangte Verdonk diese Erklärung zur eigenen Gesichtswahrung - und erreichte damit prompt das Gegenteil. Grün-Links-Fraktionsvorsitzende Femke Helsema sprach von Machtsmissbrauch und das NRC-Handelsblatt textete: "Ablass für Verdonk". Die parlamentarische Strafe folgte auf dem Fuße: Die unter anderem aus Sozialdemokraten (PvdA) und Sozialisten (SP) bestehende Opposition reichte einen Misstrauensantrag gegen Verdonk ein, der zwar mit 79:64 Stimmen abgelehnt, pikanterweise aber auch von der Regierungsfraktion D'66 unterstützt wurde. Staatsrechtlich war die Sache mit der Ablehnung des Misstrauensantrages zwar vom Tisch und Verdonk hätte bleiben können. Politisch brannte das Feuer aber weiter: Denn die linksliberale Fraktion unter Lousewijs van der Laan gab sich mit diesem Ergebnis nicht zufrieden. Sie stellte Balkenende das Ultimatum: Entweder eine Koalition mit Verdonk oder mit D'66. Beides zusammen sei politisch nicht mehr möglich. Nachdem sich die Regierung geschlossen hinter die zwar stets umstrittene, dennoch aber äußerst beliebte Ministerin stellte, zog van der Laan die Konsequenz. Sie entsagte dem Kabinett die Unterstützung der D'66-Fraktion und stürzte die Regierung Balkenende II. Mangels parlamentarischer Mehrheit mussten die liberalen Minister Jan Brink-horst und Alexander Pechtold ihren Rücktritt einreichen. Ihre Kollegen von der CDA und der VVD folgten dem Beispiel umgehend.
Die Ausführung von Balkenendes "Masterplan" wurde so jäh gestoppt. Noch am 23. Juni konstatierte der Premier in einem Brief an seine Kabinettskollegen, dass "bereits viel erreicht wurde". "Holland funktioniert" sollte der Leitsatz für das im September einzubringende Budget werden. Nicht zu Unrecht: Denn gerade im Sozialbereich und im Gesundheitswesen hat die Regierung Balkenende ihren Reformwillen bekundet und konkrete Ergebnisse erzielt. Tatsächlich wird die Regierungsbilanz der vergangenen drei Jahre überwiegend positiv bewertet. Diese Einschätzung deckt sich auch mit der Stimmungslage im Land. Erst am 27. Juni hatte das Statistische Zentralamt (Centraal Bureau voor de Statistiek) vermeldet, dass das Vertrauen der niederländischen Konsumenten erstmals seit 2001 wieder im positiven Bereich liegt. Die wirtschaftlichen Fundamentaldaten haben sich deutlich verbessert: 2005 sank etwa die Zahl der Arbeitslosengeldempfänger von 322.000 auf 307.000. Die Arbeitslosenquote liegt bei 3,8 Prozent. Das Haushaltsbilanzdefizit wird für das laufende Jahr auf 1,8 Prozent veranschlagt und liegt damit deutlich unter der Maastricht-Grenze. Trotz dieser grundsätzlich erfreulichen Bilanz konnte die Regierung allerdings einige ihrer Vorhaben bislang nicht durchsetzen, so etwa im Energiesektor (Trennung von Netzbetreibern und Produzenten/Lieferanten), auf dem Gebiet des Arbeitsmarktes (Zulassung von polnischen Arbeitskräften), im Verkehr (Bau der Autobahnen A6 und A9) oder beim neuen Einbürgerungsgesetz, das Bewerbern ein Einbürgerungsexamen auferlegen soll.
Trotz der Regierungskrise müssen die Niederlande nicht befürchten, politisch handlungsunfähig zu werden. Wie bei jedem Regierungsbildungsprozess in den Niederlanden obliegt der Königin die Aufgabe, Sondierungsgespräche mit den Fraktionsvorsitzenden zu führen und dann einen "Informateur" zu benennen, der als Krisenmanager fungiert. Mit dem ehemaligen Ministerpräsidenten Ruud Lubbers hat sie ein politisches Schwergewicht mit großem Ansehen bei allen Parteien gewählt. Lubbers ist nach den Konsultationen mit dem Präsidenten des Staatsrates sowie den Vorsitzenden der Ersten und der Zweiten Kammer und Fraktionsvorsitzenden aller Parteien zu dem Ergebnis gekommen, dass ein Minderheitskabinett gebildet werden kann, das sich den anstehenden Aufgaben - etwa dem Budgetentwurf für 2007 - widmen soll. Bereits innerhalb einer Woche könnte ein Regierungsprogramm vorliegen. Diese Lösung entsprach vor allem den Wünschen der Fraktionsvorsitzenden der verbleibenden Regierungsparteien CDA und VVD, Maxime Verhagen und Mark Rutte.
Augenscheinlich kann sich die neue Regierung Balkenende trotz numerischer Unterlegenheit in der Kammer (71:79) auf eine parlamentarische Unterstützung berufen. In den Sondierungsgesprächen mit Lubbers haben die Fraktionsvorsitzenden von LPF und der kleineren christlichen SGP anklingen lassen, die Politik des Kabinetts wenigstens in Grundzügen mitzutragen. Selbst von D'66 ist Unterstützung in wesentlichen Wirtschaftsfragen in Aussicht gestellt.
Der Opposition von PvdA, SP und Grün-Links wäre es lieber gewesen, wenn es schnellstmöglich zu Neuwahlen gekommen wäre. Sowohl Wouter Bos (PvdA) als auch Jan Marijnissen (SP) halten diese Variante unter demokratischen Gesichtspunkten für die beste Lösung. Zudem befürchtet die Linke, dass die Regierung vor den Neuwahlen noch einige umstrittene Vorhaben durch das Parlament schleusen möchte.
Das zeigt, dass der Wahlkampf in den Niederlanden bereits begonnen hat. Die Opposition will der Regierung keine Chance geben, Punkte zu machen, die Regierung hingegen möchte ihren Amtsbonus im Wahlkampf ausspielen. Trotz bestehender Differenzen dürfte eines feststehen: Gewählt wird am 22. November. In Anbetracht der aktuellen Meinungsumfragen ist der Ausgang dieser Wahl völlig offen.