Im Spätsommer 1966 führte der Publizist Günter Gaus drei lange Gespräche mit Herbert Wehner auf dessen schwedischem Feriendomizil Öland. Wenige Monate später wurde in der Bundesrepublik die erste Große Koalition aus CDU/CSU und SPD unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger gebildet. In ihren langen, ausführlichen Bögen sind diese Interviews, sicher ohne es direkt beabsichtigt zu haben, eine programmatische Vorwegnahme des gemeinsamen Regierungshandelns. Sie beschreiben die innen- und außenpolitischen Häutungen der Sozialdemokratie zwischen 1945 und 1965.
Unter der energischen Vorarbeit des "Zuchtmeisters" der SPD war 1959 ihr Godesberger Programm in Kraft getreten, das sich modernisierend den Gegebenheiten der Bundesrepublik stellte. Nach Meinung des Fragestellers Gaus hatte die SPD "sozusagen ihren Frieden mit der Bundesrepublik" gemacht. Wehner widersprach heftig. Das Programm sei kein Zugeständnis gewesen, "ohne die Sozialdemokratie gäbe es nicht die Bundesrepublik Deutschland".
Das Interviewbuch erschien Ende 1966 bei Rowohlt, jetzt hat es der Verlag Edition Ost in einer um einen Text von Gaus über Wehner von 1968 und einem zweiten über ihn aus seiner 2005 erschienenen Autobiografie erweiterten Ausgabe gedruckt. Sämtliche Beiträge sind Dokumente der schwierigen Ankunft der Sozialdemokratie und ihres Protagonisten Herbert Wehner im westlichen Nachkriegsdeutschland.
Der einstige Kommunist, der in den 30er-Jahren Stalins Verfolgungsdruck ausgesetzt war und später in Schweden die Partei verließ, stand Zeit seines Lebens unter Generalverdacht. Die einen sahen in ihm einen Zuträger der sowjetischen Geheimpolizei, für die Machthaber im Osten war er ein Verräter an der Sache. Günter Gaus lässt die unbewiesenen Vorwürfe beiseite, ihn beschäftigt der Weg der Erkenntnis des Dresdner Schustersohns, der in seinem gewundenen, verwundeten Lebenslauf ein Zeuge des blutigen 20. Jahrhunderts war. In seiner Zerrissenheit steht er für das gespaltene Deutschland, dem er in den 60er-Jahren als Minister für gesamtdeutsche Fragen diente.
"An Herbert Wehner hat die deutsche Politik wahrhaftig Maß genommen: das Maß für die Kraft, mit der ein Mann sich engagieren kann", schrieb Gaus. Kennen gelernt hatten sich die beiden 1964 bei einem Besuch Wehners von oberbayerischen Kreisverbänden. Als der Journalist sich dabei kritisch über die Bundesrepublik äußerte, fauchte ihn der SPD-Mann über den Tisch an: "Mein Herr, wir lassen uns diesen Staat nicht vermiesen. Wir lassen uns nicht wieder von diesem Staat trennen, mein Herr. Es ist auch unser Staat."
Später entstand so etwas wie eine Freundschaft zwischen beiden. Wehner vertraute Gaus, was die nötige Grundlage für die Gespräche war. Schade, dass der Verlag sie schlecht redigierte, so dass viele Druckfehler entstanden. Das hätte wohl dem Choleriker Wehner wie dem journalistischen Pedanten Gaus nicht gefallen.
Günter Gaus
Staatserhaltende Opposition oder hat die SPD kapituliert?
Gespräche mit Herbert Wehner.
Edition Ost, Berlin 2006, 156 S., 12,90 Euro.