Die Fußballweltmeisterschaft ist vorbei. Wir haben in den vergangenen Wochen das größte Fest gefeiert, das es in Deutschland seit dem Fall der Berliner Mauer gegeben hat. Dass Deutschland nicht Weltmeister geworden ist, hat die Begeisterung nicht ernsthaft getrübt. Nach meiner Wahrnehmung war es aber weit mehr als ein Fest. Diese Weltmeisterschaft war auch ein Beitrag zur Völkerverständigung, der länger nachwirken wird als die Freude über manch spektakulären Sieg oder die Enttäuschung über unglücklich verlorene Spiele. Getreu dem Motto "Die Welt zu Gast bei Freunden" hat sich Deutschland als weltoffenes und gastfreundliches Land gezeigt. Besonders beeindruckt haben mich die gemeinsamen Feiern der Fans gegnerischer Nationalmannschaften in den Fußballstadien ebenso wie auf Straßen und Plätzen - ein bei Fußballspielen beileibe nicht alltägliches Bild.
Das offensive und begeisternde Spiel unserer Mannschaft hat manchen, der am Anfang skeptisch war, positiv überrascht. Was aber wir selbst und viele im Ausland uns gar nicht zugetraut haben, war die fröhliche Gelassenheit, mit der sich dieses Land präsentiert hat. Die Menschen in Deutschland haben sich auf eine ganz natürliche, lockere Art zu diesem Land bekannt. Mit übersteigertem Nationalismus oder Ausgrenzung hatte dieser aufgeklärte Patriotismus nichts zu tun.
Wolfgang Schäuble hat gesagt, die Feiern auf der Straße seien die integrationsfreudigsten Veranstaltungen, die es in Deutschland seit langem gegeben habe. Damit hat er zweifellos Recht. Ich kann mich nicht an ein anderes Ereignis erinnern, bei dem sich Deutsche und Ausländer in diesem Land so nahe waren wie bei dieser Fußballweltmeisterschaft. Nur eine Beobachtung: An hunderttausenden Autos flatterten während der WM Fähnchen, und an ganz vielen davon nicht nur die Flagge einer Nation. Gibt es eine schönere Geste für ein unverkrampftes, selbstverständliches Miteinander? Vieles spricht dafür, dass dies auf beiden Seiten nachhaltige Wirkungen haben wird. Hier hat sich eine erstaunliche Entwicklung vollzogen, von der ich überzeugt bin, dass sie sich zwar nach Abschluss dieser großen Party ein wenig beruhigen, keineswegs aber völlig in Luft auflösen wird.
Die Fußball-WM ging natürlich auch am Deutschen Bundestag nicht spurlos vorüber. Viele Parlamentarier haben sich von der Euphorie, die sie in unmittelbarer Nähe zu ihren Büros erlebt haben, anstecken lassen. Das Parlamentsviertel war während der WM noch stärker als sonst ein Publikumsmagnet. Vor dem Eingang zum Reichstagsgebäude warteten täglich Tausende darauf, die Reichstagskuppel zu besichtigen. Aber nicht nur für die Architektur, auch für die Arbeit des Deutschen Bundestages - übrigens das meistbesuchte Parlament der Welt - interessierten sich mehr Menschen, als man hätte Einlass gewähren können. Der Bundestag hat auf dieses große Interesse mit einer besonderen Maßnahme reagiert: In der Bundestags-Arena vor dem Paul-Löbe-Haus konnten sich weit über 100.000 in- und ausländische Gäste nicht nur über die Arbeit des Parlaments informieren, sondern sogar als "Abgeordnete" an einer nachgespielten Plenarsitzung teilnehmen. Die Bundestags-Arena war ein großer Erfolg: Noch nie hatte der Bundestag die Möglichkeit, in so kurzer Zeit so vielen Menschen Einblick in die Arbeitsweise des Parlamentes zu ermöglichen.
Diese WM war für Deutschland auch ohne den Titel ein großer Gewinn. Wir haben uns als guter Gastgeber gezeigt und dabei unsere oft nachgesagte Neigung zum Selbstmitleid überwunden. Mir scheint, wir trauen uns jetzt selbst wieder mehr zu. Hoffentlich nicht nur für vier Wochen. Wenn wir Glück haben, könnte unser Land in diesem Jahr einen nicht nur atmosphärisch weiten Sprung gemacht haben: Die Begründung eines neuen Gefühls von Zusammengehörigkeit, von gemeinsamer Zukunft, unbeschadet unterschiedlicher Herkunft und Vergangenheit. Und Weltmeister werden können wir immer noch: Die nächste Chance heißt Südafrika 2010!