Fast 300 Jahre sind vergangen, seit Montesquieu 1721 in seinen "Lettres persanes" über die politischen und gesellschaftlichen Zustände in seinem Heimatland Frankreich räsonierte. Mit ähnlich ambitioniertem Anspruch diskutieren im gemeinsamen Essayband der spanische Schriftsteller Jorge Semprún und der französische Politiker Dominique de Villepin die Frage, "Was es heißt, Europäer zu sein". Angesichts des vorläufigen Scheiterns des EU-Verfassungsvertrags am Nein der Franzosen und der Niederländer unterziehen die beiden Autoren sich und Europa einer Selbstvergewisserung. Was sind die Wurzeln und Identitäten der Europäer? Welche Grundlagen braucht der Kontinent für eine gemeinsame Zukunft?
Nur auf den ersten Blick haben die beiden Autoren nicht viel gemeinsam: hier der spanische Schriftsteller, ein linker Intellektueller, dort der französische Premierminister, ein "glühender Gaullist". Jedoch, der mittlerweile 82-jährige Semprún hat bekanntlich einen starken politischen Hintergrund: Aktiv in der französischen Résistance, wurde er 1943 als Mitglied der spanischen KP ins Konzentrationslager Buchenwald verschleppt. Später Schriftsteller und Drehbuchautor von Politthrillern, war Semprún von 1988 bis 1991 parteiloser Kulturminister in der Regierung von Felipe González und im Jahr 1994 Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels. Der eine Generation jüngere de Villepin wiederum versteht sich, dies ganz in französischer Tradition, als "Homme de lettre", der unter anderem eine Napoleon-Biografie verfasst hat.
Insofern sind die beiden Autoren vom Ansatz her sich gut ergänzende Partner, auch wenn sie manchmal etwas aneinander vorbeischreiben. Letztlich verfasst jeder der beiden zu den neun Kapiteln des Buchs jeweils einen etwa zehnseitigen Essay: anspruchsvoll, belesen, klug reflektierend, nicht ohne Pirouetten und oftmals in grandios-pathetischer Sprache. Semprún und de Villepin kommentieren Schlüsselereignisse, Orte und Begriffe der europäischen Geschichte, sie rufen historische Personen und ihre Werke in Erinnerung.
De Villepin macht das rhetorisch vibrierend, inhaltlich mit stark französisch getönter Brille, so dass man manchmal nur staunen kann: Zum Beispiel über sein ungebrochenes Verständnis einer geradezu schicksalhaften Mission Frankreichs gegenüber Europa: "Seinen Genius bezieht Europa von jedem seiner Kinder, jeder seiner Nationen. (...) Dabei fällt Frankreich eine besondere Rolle zu." Ach?! Die EU-Verfassung scheitert in Frankreich und gleichwohl kräht auf dem europäischen Bauernhof der gaullistische Hahn wieder mal am lautesten!
Jorge Semprún hingegen hat einen deutlich europäischeren Blick. Nicht zuletzt aufgrund eigener Erfahrungen in rechten und linken Diktaturen erkennt Semprún das Ursprungsmoment des heutigen politischen Europas in der prophetischen Rede Edmund Husserls über "Die Krisis des europäischen Daseins", gehalten 1935 im Wiener Exil. Damals wie heute gilt: "Europas größte Gefahr ist die Müdigkeit." Damals bedrohten Europa Diktaturen, heute sind die Gegner einerseits elitäre, abgeklärte Euroskeptiker oder andererseits demagogische, populistische Souveränitätsverteidiger. Semprún sieht mit Sorge, wie nicht nur in Frankreich von rechts wie von links gegen die Europäische Union und ihr Verfassungsprojekt agitiert wird. Dass die EU aus der Verfassungskrise herauskommt, das ist beiden Autoren ein wichtiges Anliegen.
Europäer zu sein heißt, offen für das Andersartige zu sein und bereit, Unterschiede kennenzulernen. Es heißt, andere Sprachen zu lernen und andere Traditionen zu akzeptieren. De Villepin und Semprún sind davon überzeugt, dass über all diese Unterschiede hinweg die gemeinsamen demokratischen Werte verbinden. Ungeachtet aller innerstaatlichen Probleme und Krisen steht deshalb für die Autoren fest: "Die Lösung ist Europa."
Jorge Semprún, Dominique de Villepin: Was es heißt, Europäer zu sein. Übersetzt von Michael Hein. Murmann Verlag, Hamburg 2006; 216 S., 24,90 Euro.