Das Parlament: Euer Buch trägt den Untertitel: "Die digitale Bohème oder: Intelligentes Leben jenseits der Festanstellung." Was kritisiert Ihr an einer Festanstellung?
Holm Friebe: Das "System Festanstellung" funktioniert heute auf zwei Ebenen nicht mehr. Zum einen gesellschaftlich, weil Vollbeschäftigung nicht mehr möglich ist und Arbeit nicht mehr an alle verteilt werden kann. Zum anderen funktioniert es aber auch nicht mehr für die, die Arbeit und eine Festanstellung haben - zumindest nicht mit den Glücks- und Stabilitätsversprechen, die damit immer einhergingen. Heute müssen sich die Festangestellten ihrem Unternehmen flexibel anpassen. Wenn es den Standort verlagert, müssen sie mitziehen. Wenn das Unternehmen völlig von der Bildfläche verschwindet, stehen sie ohne alles da, weil sie nicht gelernt haben, sich auf eigene Faust durchzuschlagen. Fest angestellt sein bedeutet Routine, Anpassung und Loyalität. Dafür gibt es außer Geld nur sehr wenig zurück.
Das Parlament: Das Gehalt bezeichnet Ihr als Schmerzensgeld...
Sascha Lobo: Richtig. Man wird bezahlt, weil man von Montags um acht bis Freitag 18 Uhr im Unternehmen ist und nicht wegen seiner Produktivität oder weil man etwas leistet. Es machen ja in Konzernen auch nicht die Menschen Karriere, die besonders fähig sind, sondern jene, die am besten Taktieren können und die Unternehmenspolitik beherrschen. Das finden wir äußerst problematisch. Wir halten unser Konzept dagegen und sagen: Wir haben keine Lust, 80 Prozent unserer Arbeitszeit mit politischem Gedöns, Mobbing und internen Geschichten zu verbringen. Wir wollen produktiv arbeiten und zwar in Bereichen, auf die wir richtig Lust haben.
Holm Friebe: Unsere Erfahrung ist auch, dass man in zwei, drei Stunden am Tag sehr viel produktiver sein kann, wenn man sich die Zeit selbst einteilt und in der Stimmung ist, etwas zu machen. Es ist einfach unglaublich, was passiert, wenn man Zeit und Ort vergisst und ganz mit seiner Aufgabe verschmilzt. Nur werden solche Momente systematisch abgeschaltet durch die korsettartigen Strukturen einer Festanstellung - da ist ein ganzer Tag weg, ohne dass man etwas geschafft hat, weil die ganze Zeit mit Meetings und Abstimmungen drauf geht.
Das Parlament: Euer Gegenmodell zur Festanstellung ist die "digitale Bohème". Was versteht Ihr darunter?
Holm Friebe: Mit der Bohème meinen wir nicht eine Lebensform in der Art, was man anzieht, in welche Konzerte man geht oder welche Drogen man nimmt. Wir meinen damit eine bestimmte Form des Zusammenarbeitens, das in Kollektiven stattfindet und an unterschiedlichen Orten. Charakteristisch dafür ist eine Arbeits- und Kreativkraft, die sehr wenig kapitalintensiv ist. Durch das Digitale hat das heute eine völlig neue Dimension bekommen: Das Internet ist für die Bohème zur Schlüsseltechnologie geworden, zur gemeinsamen Plattform und Basis. Vieles, wofür man früher einen mittelständischen Betrieb gebraucht hätte, kann man jetzt ganz einfach mit dem Laptop machen.
Sascha Lobo: Früher haben Kommunikation und Vertrieb wahnsinnig viel Geld gekostet. Deshalb hat es die analoge Bohème im Gegensatz zur digitalen auch nie geschafft, ihre vorhandenen PS auf die Straße zu bringen. Sie hat Produkte hergestellt zwischen Gitarre, Leinwand und Papier, auf das sie mit Stiften geschrieben hat. Nur haben ihre Ideen nicht genug Verbreitung gefunden und daher keinen Gewinn gebracht.
Das Parlament: Was ist Eure Alternative?
Sascha Lobo: Wir beschreiben neue Produktions- und Arbeitsweisen, die mit dem Internet auch zu gewinnbringenden Arbeitsweisen werden. Blogs und Onlineshops sind heute extrem preisgünstig zu machen, man kann also nicht nur schöne Produkte herstellen, sondern sie auch für Geld verkaufen.
Das Parlament: Könnt Ihr Beispiele dafür nennen?
Holm Friebe: Grundsätzlich verkauft die digitale Bohème im Internet eine unglaubliche Vielfalt an Produkten, die früher einfach keinen Gewinn eingebracht haben, weil Anbieter und Nachfrager nicht zusammen kamen. Das Netz stößt Türen auf und macht es möglich, dass Nischen-Konsumenten und Nischen-Produzenten zueinander finden. Damit werden ganz neue Geschäftsmodelle möglich.
Sascha Lobo: Ein Beispiel ist etwa die Internetplattform "innocentive.com". Dort stellen pharmazeutische Firmen biochemische Probleme ins Netz und loben dafür Preisgelder von bis zu 100.000 Dollar aus. Wissenschaftler, wo auch immer sie sitzen, können diese Probleme dann lösen und damit Geld verdienen. Die Vermittlung hat schon über 100 Mal geklappt. Es gibt in England auch eine Internetbank, "zopa.co.uk", wo Nutzer anderen Nutzern Geld leihen und damit Geld verdienen. Und das funktioniert irrsinnig gut! Eines der abgedrehtesten Geschäftsmodelle, die wir gefunden haben, ist aber sicher der "Dead Body Guy", ein Amerikaner, der gerne bewegungslos herumliegt und deshalb Fotos von sich als Leiche ins Internet gestellt hat, so mit Schraubenzieher im Kopf und Ketchup beschmiert auf dem Boden. Er hat das so geschickt gemacht, dass Filmproduktionsfirmen auf ihn aufmerksam wurden und er heute zur gefragtesten Filmleiche in Amerika geworden ist.
Das Parlament: Bei Euch klingt das alles ganz wunderbar und einfach. Aber ist Euer Bild der digitalen Bohème nicht ein sehr idealisiertes?
Sascha Lobo: Zum Teil ja. Wir sagen schon, dass dieses Leben extrem schön ist, wir wollen aber auch nicht verschweigen, dass es schwer ist. Es gibt Durststrecken, es gibt Momente der Unsicherheit, und es ist auch ganz klar, dass die digitale Bohème nicht für jeden funktioniert. Leute, die es einfach nicht aushalten, nicht zu wissen, wovon sie in drei Monaten die Miete bezahlen können, sollen um Gottes Willen in ihrer Festanstellung bleiben.
Das Parlament: Und was sollten die anderen machen?
Holm Friebe: Den empfehlen wir, klein anzufangen und auszuprobieren, was funktioniert und was nicht. Was nicht funktioniert, muss man unsentimental in die Tonne treten. Das ist natürlich ein anspruchsvolles Programm, aber unserer Erfahrung nach lohnt es sich am Ende. Wenn man sich quersubventioniert durch verschiedene Brotjobs, wird man irgendwann festen Boden unter den Füßen finden.
Sascha Lobo: Außerdem haben doch die Festangestellten heute auch nicht mehr die Sicherheit, die sie vor Jahren noch hatten. Es gibt Leute, die haben 20 Jahre lang bei Siemens gearbeitet und wurden dann von BenQ aufgekauft. Heute wissen sie nicht mehr, ob sie Weihnachten noch Geld bekommen. Das sind oft Menschen, die nicht mal ihren eigenen Rechner updaten können, weil es dafür immer einen Sys-temadministrator gab. Die wissen gar nicht, was sie machen sollen ab Januar! Die digitale Bohème ist nicht im Ansatz so aufgeschmissen, wenn sie einen oder zwei Auftraggeber verliert.
Das Parlament: Was empfehlt Ihr den vielen jungen Leuten, die Schwierigkeiten haben, einen festen Job zu finden und auf dem Weg dahin ein unbezahltes Praktikum nach dem anderen machen?
Sascha Lobo: Wir sagen ganz deutlich: Überlegt Euch, ob das vierte unbezahlte Praktikum tatsächlich das richtige Mittel ist. Die Realität sieht doch so aus, dass die normalen Angestellten mit ihren politischen Techtelmechteln oft so beschäftigt sind, dass die tatsächliche Arbeit von Praktikanten, Volontären und Zeitarbeitskräften gemacht wird, die verzweifelt versuchen, sich zu beweisen. Wir empfinden das als Zumutung. In dieser Zeit kann ich in jedwedem selbständigen Bereich mehr als nichts verdienen und bessere Aufträge erarbeiten als keine!
Holm Friebe: Die Leute sollten vor allem endlich diesen Zwang ablegen, immer schon im Kopf jeden Eintrag im Lebenslauf vor dem Personalchef zu rechtfertigen. Viele haben unheimlich viel Angst davor, etwas auszuprobieren, weil es schief gehen und sie in Erklärungsnot geraten könnten wegen eines "verpfuschten" Jahres im Lebenslauf. Wir wollen die Menschen motivieren, Fakten zu schaffen und etwas zu machen, was sie vielleicht irgendwann in die Situation bringt, nie wieder eine Bewerbung schreiben zu müssen. Das ist ein sehr erstrebenswerter Zustand.
Das Parlament: Klingt ermutigend…
Sascha Lobo: Ja, aber wir wollen nicht nur Mut machen, sondern den Leuten auch eine neue Perspektive zeigen. Wir zeigen, dass man irgendwann in einem Bereich so gut sein kann und so interessante Sachen machen kann, dass man damit sogar Geld verdient. Dann kann man sagen: Lieber Konzern, Du hast vielleicht "tolle" Jobs am Start, aber ich habe keine Lust auf den ganzen Quatsch! Statt nach dem Abteilungsleiterjob bei Siemens zu streben, sollten die Leute lieber tun, was sie gut können und was ihnen Freude macht.
Das Gespräch führte Johanna Metz
Holm Friebe / Sascha Lobo: Wir nennen es Arbeit. Die digitale Bohème oder: Intelligentes Leben jenseits der Festanstellung. Heyne Verlag, München 2006; 304 S., 18,50 Euro.