2001 war ein schlechtes Jahre für die Bildung in Deutschland. Damals sagte der nette Herr Schleicher von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit, der OECD, den Deutschen ein paar sehr unangenehme und wahre Dinge über das deutsche Schulsystem: dass deutsche Schüler international gesehen nicht einmal Mittelmaß sind und dass in keinem anderen Industriestaat die Bildungschancen so stark von der sozialen Herkunft abhängen wie in Deutschland. Es war der PISA-Schock.
2001 war aber auch ein gutes Jahr für die Bildung in Deutschland. Nach der Veröffentlichung des "Program for International Student Assessment", dafür steht die Abkürzung PISA, wird kräftig reformiert. Bildung ist einer der wichtigsten Faktoren für die Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft, zumal für ein an natürlichen Ressourcen armes Land. Bildung war einmal ein Aushängeschild des Wirtschaftsstandorts, vom weltweit bestaunten System der dualen Berufsausbildung in Unternehmen und Berufsschule bis hin zur Universität humboldtscher Prägung. Das hatte zu Selbstzufriedenheit geführt. Doch jetzt ist die Krise erkannt. Obwohl für die PISA-Studie nur die Leistungen 15-jähriger Schüler getestet wurden, ist das gesamte Bildungssystem unter Generalverdacht geraten. Im Kindergarten wird zu viel gespielt und zu wenig gelernt; die Erzieherinnen sind zu schlecht ausgebildet; Kinder mit Sprachschwierigkeiten werden zu wenig unterstützt; es gibt zu viele unqualifizierte Schulabgänger und zu wenig Abiturienten; trotzdem ist es an den Hochschulen zu voll - die Liste der Kritikpunkte scheint endlos. Deutschland muss sich auf seine alten Stärken besinnen. Der Kindergarten beispielsweise ist eine deutsche Erfindung, Friedrich Fröbel gründete die ersten Einrichtungen Anfang des 19. Jahrhunderts. Der Name der pädagogischen Einrichtung für die Kleinsten wurde sogar in den englischen Wortschatz aufgenommen. Von diesem Aufbruch war in den letzten drei Jahrzehnten in den Verwahranstalten mit Sing- und Spielangebot nicht mehr viel zu spüren.
Auch das deutsche Schulsystem gilt mittlerweile international als Anachronismus; in kaum einem anderen Industriestaat werden Kinder so früh auf verschiedene Schulformen verteilt, werden ihre Bildungschancen zementiert, weil das System so undurchlässig ist - und so ungerecht. Ein Arztsohn bei gleicher Leistung eine 3,6 Mal so hohe Chance aufs Gymnasium zu wechseln wie das Kind eines Arbeiters. Dennoch halten konservative Kultusminister und Gymnasiallehrer an dem dreigliedrigen System fest. Dabei fordern längst nicht nur sozialromantische Pädagogen ein längeres gemeinsames Lernen, wie es im erfolgreichen Skandinavien üblich ist. Auch Handwerkskammern und Industrieverbände setzen sich für eine Gemeinschaftsschule ein, in der Kinder bis zur zehnten Klasse zusammenbleiben. Ein Argument gegen das dreigliedrige Schulsystem ist nicht nur die soziale Ungerechtigkeit, die es offenbar produziert, sondern auch die mangelnde Förderung des Einzelnen. Es ist einfacher, schwache Schüler nach unten durchzureichen, als sie oben mitzuziehen. Die Folge: zu viele Schüler werden zu spät eingeschult, zu viele Schüler müssen eine Klasse wiederholen, jeder zehnte Schüler verlässt die Schule ohne Abschluss. Die Betriebe klagen seit Jahren über die mangelnde Ausbildungsfähigkeit der Lehrlinge, immer weniger Absolventen finden eine Lehrstelle. Dabei galt das duale Ausbildungssystem, die Kombination aus Lehre und Berufschule, lange als Garant für eine fundierte Berufsausbildung. Wenn allerdings Betriebe ihre Lehrlinge aufwändig nachschulen müssen, lohnt sich die Investition für sie immer weniger.
Deutschland investiert weniger in Bildung als die meisten anderen Industrieländer. Obwohl die Summen in den letzten Jahren gestiegen sind, lag der Anteil aller Bildungsausgaben am Bruttosozialprodukt im Jahr 2004 nur bei 5,3 Prozent und damit unter dem OECD-Durchschnitt von 5,9 Prozent. Das Geld wird zudem falsch verteilt. Gerade an den Schulen, an denen es besonders nötig wäre, an den Grundschulen und im Sekundarbereich bis Klasse 10, wird pro Schüler weniger ausgegeben als in anderen Staaten. Trotzdem nehmen zu wenig junge Menschen ein Studium auf und schließen es auch ab: 2004 hatten nur 20,6 Prozent eines Jahrgangs einen Hochschulabschluss, im OECD-Schnitt erwerben 34,8 Prozent einen akademischen Abschluss. Doch der Wirtschaftsstandort Deutschland ist auf eine hohe Zahl hoch qualifizierter Arbeitskräfte angewiesen. In den nächsten Jahren rücken die letzten geburtenstarken Jahrgänge an die Hochschulen - vielleicht die letzte Chance, noch aufzuholen. Aber die Hochschulen gelten als chronisch unterfinanziert. Rechnerisch teilen sich zwei Studenten einen Studienplatz, ein Professor betreut im Schnitt 60 Studierende. Ein Hochschulpakt zwischen Bund und Ländern soll den erwarteten Zulauf finanziell abfedern, doch der droht am föderalistischen Gerangel um die Mittelzuweisung zu scheitern.
Dennoch: Es tut sich was, sogar viel. Eine Tendenz ist dabei unverkennbar: Bildungseinrichtungen bekommen mehr Eigenverantwortung - und sollen mehr leisten. Ob Modellversuche zur "selbstständigen Schule" oder zur Hochschulautonomie: Sie zielen darauf ab, Bildungsinstitutionen aus bürokratischen Zwängen zu befreien, ihnen mehr Verantwortung für Personal und Finanzen zu geben, sie im Gegenzug aber auf Leistungsstandards und Zielvorgaben zu verpflichten. In Kindergärten gibt es nun Bildungspläne, in denen steht, was die Kleinen außer Spielen und sozialem Verhalten noch können sollten, wenn sie zur Grundschule wechseln. Für die Schulen werden Bildungsstandards erarbeitet, die mehr auf die Vermittlung von Kompetenzen abzielen als auf eine Anhäufung von abfragbarem Wissen. Hochschulen werden zunehmend in die Freiheit entlassen, mancherorts wacht ein auch mit externen Fachleuten besetzter Hochschulrat über die Geschicke der Hochschule und nicht mehr der Wissenschaftsminister.
Die Hochschulen schließen mit dem Wissenschaftsminister alle paar Jahre Leistungsvereinbarungen, sie bekommen Zielvorgaben und die Möglichkeit, sich Professoren und einen Großteil ihrer Studenten selbst auszusuchen und zu entscheiden, welche Fachbereiche wie viel Geld bekommen. Um zugleich die hohen Studienabbrecherquoten zu senken und das Studium insgesamt praxisnäher zu gestalten, werden die neuen europäischen Studienabschlüsse Bachelor und Master eingeführt. In den eher berufsorientierten Bachelor-Studiengängen sollen Studenten innerhalb von drei Jahren in einem straff organisierten und gut betreuten Studium fit für die Praxis gemacht werden. Für höher qualifizierte Aufgaben in Wirtschaft und Wissenschaft werden Master angeboten. Das kann aber nur funktionieren, wenn die Wirtschaft mitzieht und die neuen Absolventen einstellt - sonst wären all die Forderungen der Wirtschaft nach Reformen im Bildungssystem unglaubwürdig. So wäre auch 2010 kein gutes Jahr für die Bildung - dann nämlich sollen alle Studien- gänge auf das neue System umgestellt sein.