Menschen mit Beinen ungleicher Länge müssen bislang einiges erdulden: Ein Chirurg zersägt den zu kurz geratenen Knochen in der Mitte und fixiert die beiden Hälften von außen mit einem wuchtigen Schraubgestell. Die Stäbe werden durch das Beinfleisch gebohrt und verursachen starke Schmerzen. Die Knochenhälften werden jeden Tag einen Millimeter auseinander gezwängt; im Spalt wächst das Knochengewebe nach.
Diese Quälerei ist nun zu Ende: Der Maschinenbauer Thomas Bayer und sein Team von der Wittenstein AG haben sich etwas Schonenderes ausgedacht. Sie verlagerten den Knochenstrecker ins Innere. Ein Teleskopstab wird in den Schenkelknochen eingeführt und über einen integrierten Minimotor mit Getriebe regelmäßig ein Stück verlängert. So werden die Knochenhälften langsam auseinander geschoben. Der sanfte Knochenstrecker gehört zu den Patenten der Wittenstein AG, einer Technologie-Firma im fränkischen Igersheim mit 1.000 Mitarbeitern - darunter Forschungsleiter Bayer. Das neue Produkt ist ein Musterbeispiel für das, was Politiker und Wirtschaftsbosse als Basis für Deutschlands Zukunft ansehen: eine Innovation. Über Innovationen redet jeder. Bundeskanzlerin Angela Merkel machte sie zur Chefsache und rief im Frühjahr den "Rat für Innovation und Wachstum" ins Leben. Innovationen sind Deutschlands Hoffnung. Im Zeitalter der Globalisierung sollen sie die Konkurrenzfähigkeit des Landes erhalten und Jobs schaffen. Vor Merkel drückte es 2004 der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder so aus: "Wir als Land ohne Rohstoffe und mit einem hohen Lohnniveau haben nur eine Perspektive: Vorsprung durch Innovation." Aber wie kann Deutschland innovativer werden?
Studien des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) sowie des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung (ISI) zeigen, dass es noch viel zu tun gibt. Im aktuellen DIW-Vergleich der Innovationsfähigkeit der 17 weltweit führenden Industrienationen landete Deutschland auf Rang 7, mit deutlichem Abstand hinter den USA, Finnland, Schweden, Schweiz, Dänemark und Japan. Deutsche Unternehmen belegen weltweit den Spitzenplatz bei klassischen Produkten der Hochtechnologie, vor allem aus der Automobilindustrie. Und als Stärke gilt die Umsetzung von Innovationen auf dem Markt. Bei einigen Faktoren aber, die für die Chancen des Wirtschaftsstandorts in der Zukunft entscheidend sein können, treten Defizite zutage.
Wo es um Technologie mit großen Wachstumsperspektiven geht, etwa in der pharmazeutischen oder der Medientechnik, hinkt Deutschland den führenden Nationen hinterher. Schwächen sind laut der DIW-Studie zudem der Mangel an Risikokapital und die geringe Menge an Unternehmensneugründungen im High-Tech-Sektor in Deutschland. Frauen werden hierzulande viel zu wenig in Innovationsprozesse eingebunden, mahnen die Wirtschaftsforscher. Damit werde ein wichtiges Potenzial an Qualifikation und Intelligenz nicht genutzt. Und ganz lapidar heißt es in der Studie: "Größte Schwachstelle ist das Bildungssystem." Hier zumindest ist der Staat gefragt.
Auch die deutschen Unternehmen müssen mehr in ihre Innovationsfähigkeit investieren, so stellt die ISI-Studie zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands fest. "Ohne deutliches Wachstum von Forschung und Entwicklung in der Wirtschaft werden wir unseren Platz in der internationalen Spitzenliga nicht wieder erreichen", sagt Thomas Reiß, der stellvertretende Leiter des Forschungsinstituts. Erfindergeist ist allerdings nicht nur eine Frage des Geldes. Innovationen sind so komplex, dass Forscher wie Reiß ihre Steuerbarkeit bezweifeln. Dennoch sollten deutsche Firmen verstärkt nach der Organisation von Innovationsprozessen fragen. Die Frage lautet: Wie gelingt es, aus einer Idee ein profitables Produkt zu machen, das außerdem noch gesellschaftlich akzeptiert wird?
Es kommt dabei nicht nur auf gute Tüftler an, sondern auf die gesamte Innovationskultur - genau da weisen deutsche Unternehmen laut der DIW-Studie Mängel auf. Die Wittenstein AG ist in dieser Hinsicht vorbildlich: Schülerwettbewerbe, Stipendien für Nachwuchswissenschaftler, interne Fortbildungen, außerdem aber auch Kunstausstellungen und sogar ein botanischer Garten auf dem Werksgelände bilden den Nährboden, auf dem neue Ideen wachsen sollen. Forschungsleiter Bayer veranstaltet regelmäßig Querdenkerseminare. "Das alles trägt zu einem inspirierenden Klima bei", sagt er. Der Keramikhersteller Villeroy & Boch hat Innovationskreise gebildet, in denen Mitarbeiter aller Bereiche über neue Ideen diskutieren.
Forschungen des Fraunhofer-Instituts zeigen, dass Firmen mit solchen gemischten Teams erfolgreicher als andere agieren. Nur wenn schon in der Konzeptionsphase ein enger Kontakt der Entwickler mit der Bedarfsseite existiere, könne vermieden werden, dass an den Wünschen der Kunden vorbei entwickelt wird. Bayer zufolge ist es ein Fehler, dass die Deutschen bei Innovationen immer nur an neue Technologien denken. "Wir brauchen neue Geschäftsmodelle." Dass man damit Erfolg haben kann, zeigt beispielsweise der Fall Apple. Der ursprüngliche PC-Hersteller Apple verkauft über eine Online-Plattform Musikstücke fast ohne Vertriebskosten. Nicht die Technik ist innovativ, sondern das Gesamtkonzept, die Benutzeroberfläche, das Design und das Marketing. Und sogar das Weglassen, die Reduktion kann Innovation sein. Der deutsche Automobilzulieferer Hella hat Rückleuchten entwickelt, die so aussehen, als strahlten in ihnen die von den Kunden gewünschten hübschen Leuchtdioden. Tatsächlich sind aber viel günstigere Glühlampen eingebaut, was zu einem gleichfalls vom Kunden gewünschten niedrigen Preis führt. So stimmt die Optik. Und die Kasse.
Der Autor ist freier Journalist in Hamburg.