Seit die Debatte um Arbeitsplatzabbau in Deutschland tobt, steht dabei die Verlagerung von Produktion vor allem nach Osteuropa ganz vorn. Schon seit Beginn dieser Debatte aber warnen Experten renommierter Bankhäuser genauso wie der mit unabhängigen Ökonomen besetzte Sachverständigenrat der Bundesregierung, dass dieser Schwerpunkt falsch ist - Standortverlagerungen sind eine Ursache für den Verlust von Arbeitsplätzen, aber bei weitem nicht die wichtigste. Als Beweis diese These führen die Experten die so genannten vertikalen Direktinvestitionen deutscher Firmen im Ausland an - Kapitalströme, die gezielt Kostenvorteile anderer Länder als Motiv für die Verlagerung anführen. Sie müssten sich erhöhen, sollte die These einer massenhaften Flucht ins Ausland stimmen.
Aber nach Angaben der renommierten internationalen Investmentbank Goldman Sachs "gibt es keinen steigenden Trend bei den grenzüberschreitenden Investitionen" zu Lasten Deutschlands. Im Gegenteil: Mittlerweile lässt sich ein Nettofluss von Kapital in die Bundesrepublik hinein verzeichnen. So erreichten die deutschen Investitionen im Ausland 2000 einen Höhepunkt von enormen zehn Prozent des Bruttoinlandproduktes. Das war aber nicht deshalb der Fall, weil besonders viele Standorte verlagert wurde, sondern weil - so der Sachverständigenrat - bei dieser Berechnung finanziell die Übernahme von Mannesmann durch Vodafone mitgezählt wurde.
Dennoch stimmt, dass Verlagerungen stattgefunden haben. Diese fanden aber keineswegs parallel zu der schlechten Arbeitsmarktsituation in Deutschland statt, sondern parallel zum Konjunkturzyklus - also dann, als es auch der deutschen Konjunktur gut ging. Eine weitere Fehlwahrnehmung in der öffentlichen Debatte: Deutsche Firmen haben bei Standortverlagerungen durchaus nicht primär Osteuropa im Blick. Nach Angaben des Sachverständigenrates flossen zuletzt 80 Prozent der Direktinvestitionen in Industrieländer, davon die Hälfte in die USA. Der Rat bezeichnet deswegen den gerne angeführten Vergleich des Abbaus von 2,6 Millionen Arbeitsplätzen im verarbeitenden Gewerbe zwischen 1991 und 2002 mit den durch die Investitionen geschaffenen 2 Millionen Arbeitsplätze im Ausland als "ebenso einprägsam wie irreführend".
Hauptmotiv für Auslandsinvestitionen sind auch nicht die niedrigen Löhne in den Nachbarländern. Schätzungen besagen, dass lediglich rund 30 Prozent der Investitionen wegen der Arbeitkosten stattfanden, andererseits aber rund 70 Prozent der Investitionen anderen Zielen dienten. Es geht dabei um Markterschließung: so genannte horizontale Investitionen. Nach Schätzungen von Goldman Sachs wurden in den 90er-Jahren insgesamt 300.000 Jobs aus Kostengründen nach Ostdeutschland verlagert. Zum Vergleich: Durch die Wiedervereinigung gingen in Ostdeutschland 3,2 Millionen Arbeitsplätze verloren, und die Krise in der Baubranche verursachte eine Halbierung der Jobs dort auf 700.000 Stellen.
Die Ostverlagerung ist auch bei weitem nicht so attraktiv wie häufig dargestellt. So sind Ausbildungsqualität und Wissensschatz in Deutschland immer noch weit höher als anderen Ländern. Rechtssystem und Regelungsdichte sind zwar in Deutschland kompliziert, aber besonders kleine und mittlere Firmen scheuen die Auseinandersetzung mit diesen Systemen. So rangieren Polen, Ungarn und Tschechien bei einem Ranking der Weltbank deswegen hinter Deutschland. Auch die Infrastruktur lässt in vielen Nachbarländern zu wünschen übrig; dabei geht es nicht nur um den Transport zum Kunden, sondern auch um Rohstoffe und Zulieferungen. Nicht zuletzt gibt es für deutsche Firmen weit mehr als für englische oder US-amerikanische ein weiteres Hindernis bei Verlagerungen: die Sprachbarriere. Häufiger als aus Deutschland finden deswegen Standortverlagerungen aus angelsächsischen Ländern statt.
Wenn Verlagerungen aus Kostengründen stattfinden, sind es zwar häufig die arbeitsintensiven Bereiche der Produktion. Unter dem Strich jedoch, sagen Wirtschaftsexperten, sind diese Auslandsinvestitionen nicht schädlich für den deutschen Arbeitsmarkt, sondern führten zu einem Aufbau an Beschäftigung - weil die Auslagerung arbeitsintensiver Produktionsbereiche eine höhere Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit der inländischen Niederlassungen verursacht. Die Bundesbank gibt allerdings in ihrem Monatsbericht von August 2006 den Hinweis, was die Verlagerung arbeitsintensiver Prozesse bedeuten kann: Die Produktion im Inland wird kapitalintensiver und "dürfte mit einem höheren Qualifikationsgrad der Mitarbeiter einhergehen". Es gibt mehrere Rechenmodelle von Instituten, Sachverständigenrat und Bundesbank, die versuchen, die Wirkungen der Direktverlagerungen auf den deutschen Arbeitsmarkt messen. Die Experten rechnen dabei immer mit, dass es schließlich zahlreiche ausländische Unternehmen gibt, die sich hier niederlassen und Arbeitsplätze schaffen. Im Fazit sind sich, bei teilweise unterschiedlichen Zwischenergebnissen, die Experten meist einig: Manches Investitionsprojekt, das im Ausland durchgeführt würde, könnte unter besseren Rahmenbedingungen auch hierzulande realisiert werden. In einzelnen Werken und Regionen führt eine Verlagerung zu einem Abbau von Arbeitsplätzen. Aber gesamtwirtschaftlich, so die Bundesbank, "bedeutet der Aufbau von Beschäftigung bei Niederlassungen im Ausland keinen Verlust an Arbeitsplätzen hierzulande".
Allerdings hat die durch die Standortdebatte erzeugte Angst Vorteile. Sie nützt beispielsweise in Tarifrunden, um Druck aufzubauen und Ergebnisse zu erklären. Sie nützt Politikern, um politisch hoch umstrittene Projekte wie etwa Steuerreformen durchzusetzen. Sie nützt auch Einzelunternehmen, die bei einem geplanten Abbau von Jobs mit der Verlagerung nach Osten und Kündigungen drohen. Danach, so Dierk Hirschel, Experte beim Deutschen Gewerkschaftsbund, werden in harten Verhandlungen die Entlassungspläne häufig reduziert - weil von vorneherein Spielraum eingeplant war. So hat Vattenfall 2003 angekündigt, dass 4.000 Mitarbeiter entlassen werden sollen. Bis Ende 2005 haben 1.800 Menschen ihre Arbeit verloren, ein weiterer Abbau ist nicht geplant. Die Angabe einer weit höheren Zahl hat zudem eine weitere, für die Unternehmen sehr angenehme Nebenwirkung: den kurzfristigen Boom der eigenen Aktie.
Aus einem anderen Grund findet tatsächlich ein kräftiger Arbeitsplatzabbau statt: Strukturwandel und technische Neuerungen führen gerade im Industriesektor zu Verlusten. Dieser Prozess findet allerdings nicht nur in Deutschland oder Europa statt, sondern auch in den Ländern, die Ziel von Verlagerungen sind. So wurden in China in den vergangenen Jahren 16 Millionen Industriearbeitsplätze abgebaut. In Deutschland ist der Strukturwandel genau zu beobachten: Zwischen 1970 und 2003 hat der Anteil des produzierenden Gewerbes von rund 40 Prozent der Bruttowertschöpfung auf 24,3 Prozent abgenommen. Von 1995 bis 2003 ist in diesem Bereich - ohne Bau - die Beschäftigung um 650 000 gesunken. Im gleichen Zeitraum sind, so der Sachverständigenrat, im Dienstleistungsbereich drei Millionen Arbeitsplätze entstanden.
Die Debatte hat dennoch gewirkt. Das Drohpotenzial niedriger Löhne und deregulierter Märkte in Osteuropa hat in Deutschland zu einem nie gekannten Umbau vor allem von Industriearbeitsplätzen geführt. Arbeitszeitflexibilisierung, Lohnzurückhaltung, die Umsetzung unliebsamer Reformen haben die deutschen Firmen wettbewerbsfähiger gemacht. Weil Standortverlagerung und Rationalisierung trotz aller Bemühungen nicht den Strukturwandel zur Dienstleistungsgesellschaft und den Abbau der Arbeitsplätze verhindern werden, haben die Sachverständigen im Herbstgutachten 2005 Stellung genommen: Statt Entlassungen mit aller Kraft verhindern zu wollen, sollte man die Schaffung neuer Jobs fördern: mit Investitionen in Forschung, Hilfen für Gründer, und der Möglichkeit, befristet Beschäftigte leichter einzustellen.
Die Autorin ist Redakteurin bei der "Financial Times Deutschland".