Die lang erwartete Wende ist da. Und die Deutschen befinden sich auf einmal in einer Umgebung, deren Existenz sie vergessen hatten - die des Wachstums. In dieser Umgebung werden so manche unlösbar erscheinenden Probleme von selbst kleiner. Das notorische Schuldenproblem des Staates etwa. Oder die Überteuerung des Sozialstaats. Auf einmal nun können sich manche Bürger und Politiker vorstellen, über den Pfad des Wachstums aus der Krise zu gelangen. Noch ist das alles mit hoher Skepsis belegt, aber diese Perspektive überhaupt wiederzugewinnen, diese Möglichkeit wieder mitzudenken, ist vielleicht der wichtigste Effekt der ökonomischen Wende des Jahres 2006.
Man kann durchaus Respekt entwickeln für die Genesungskraft dieser Volkswirtschaft, die eine ganze Reihe besonderer Lasten schultern musste und teilweise weiterhin muss. Die deutsche Einheit kostet nach wie vor drei bis vier Prozent des jährlichen Bruttosozialprodukts. Und nur langsam wächst die Aktivseite dieser Bilanz, mit jeder Firmengründung und jedem Gaststudenten und jeder Erfindung in den neuen Bundesländern - die nun auch schon mehr als eineinhalb Jahrzehnte alt sind.
Zudem schuf die Finanzwirtschaft eine gewaltige Kreditklemme. Im Boom der ausgehenden 90er-Jahre waren viele Banken allzu freigiebig mit fragwürdigen Krediten. Teilweise gingen sie bis an die Grenze der Erlaubten. Dann kam die Gegenreaktion, und auf einmal konnten auch Unternehmer mit begründeten Kreditanliegen keinen Vertrag mehr bekommen. Bankstudien zufolge kostete das die deutsche Volkswirtschaft in der ersten Hälfte dieses Jahrzehnts ein halbes Prozent Wachstum - Jahr für Jahr. So manche sinnvolle Investition fand gar nicht statt; die Zinsen waren höher, als es der Konjunkturphase entsprach. Mittlerweile sind die meisten überhöhten Risiken bereinigt, und die Banken können das Wachstum wieder mit finanzieren. Auch deshalb können die Industrieinvestitionen in diesem Jahr um mindestens fünf Prozent wachsen, und selbst vom Bau, dem größten Verlierer des Deutsche-Einheits-Blues, klingt es nun etwas freundlicher.
Wie fast alle Länder auf dem Planeten, aber doch besonders hart wurde Deutschland vom weltweiten Wettbewerb getroffen. Viele Firmen mussten sich in ungekanntem Tempo restrukturieren, um weiter von der Globalisierung unter veränderten Vorzeichen zu profitieren. Das lag auch daran, dass in den 1990er-Jahren viele Umbauarbeiten aufgeschoben worden waren. Die deutsche Wirtschaft hat diese Aufgabe mittlerweile beeindruckend gemeistert, und zwar weitgehend unabhängig von den Reformen und Nicht-Reformen in Berlin, aber sehr wohl mit Hilfe ihrer Mitarbeiter und der Gewerkschaften. Viele Betriebe haben Mehrarbeit oder flexiblere Arbeitszeiten eingeführt - teils um die Produktion im Land zu halten, teils um schlicht den Profit auf Weltmarktniveau zu führen. Volkswirtschaftlich hat das zu einem kleinen deutschen Wirtschaftswunder geführt: Gemessen an der Leistungskraft der Ökonomie sind die Lohnkosten seit Beginn des Jahrzehnts um mehr als zehn Prozent gesunken, ein unter den westlichen Industrieländern nahezu einmaliger Vorgang. Diese Entwicklung kostete zwar viele deutsche Verbraucher zunächst Kaufkraft, aber sie ist auch das Fundament für neues Wachstum in der Zukunft. Immerhin ließ sie Deutschland wieder zum Exportweltmeister werden und sicherte abertausende von Arbeitsplätzen, die sonst noch zusätzlich abgebaut worden wären.
Die deutsche Volkswirtschaft hat in den vergangenen fünf Jahren ein riesiges Tal durchquert. Sie ist noch nicht ganz durch. Aber sie hat die tiefste Stelle überwunden und gewinnt langsam wieder an Höhe. Und Höhe heißt vor allem Wachstumskraft, heißt Vertrauen in die ökonomische Zukunft. Letzteres wiederzufinden, das dauert freilich seine Zeit. Noch immer lassen etwa die Investitionen vieler deutscher Großunternehmen in ihrer Heimat zu wünschen übrig. Anscheinend haben viele Vorstände noch die Überzeugung, dass sich mit Sparen und Effizienzsteigerung die gewünschten Börsenerfolge besser erreichen lassen als mit Investitions- und Innovationsmut.
Doch besser wird auch das derzeit. Die größte Kraftprobe kommt freilich noch, an einem Montag. Es ist der Januar 2007. Der dreiprozentige Anstieg der Mehrwertsteuer wird die Konjunktur empfindlich treffen - aber mit etwas Glück nicht zerstören. Nichts könnte die Kräftigung der deutschen Wirtschaft und das wachsende Vertrauen von Konsumenten und Produzenten besser unter Beweis stellen.
Unglücklich bleibt die Entscheidung zur Erhöhung der Mehrwertsteuer trotzdem. Denn erstens werden die deutschen Normalbürger deshalb auch 2007 noch keine echte Wohlstandssteigerung spüren, und die würde mehr Vertrauen schaffen als alles andere. Und zweitens wurde mit der Regelung die große Chance verpasst, ein Projekt zu verwirklichen, dass eigentlich alle wollten: mehr indirekte Steuern einzunehmen, um damit massiv die Lohnnebenkosten zu senken, die nur Arbeitnehmer in Deutschland zu tragen haben, nicht aber in Großbritannien, Polen oder China. Zwar soll der Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung sinken, aber der große Teil der zusätzlichen Steuern fließt in die öffentlichen Haushalte. Und das, obwohl die nun auch ohne Reform wieder erheblich höhere Einnahmen melden und weiter melden werden.
Womit man automatisch bei der Last ist, von der Deutschland bisher am wenigsten abgetragen hat: Das Land hat einen extrem ineffizienten Sozialstaat. Vielleicht ist er zu groß, wie vielfach behauptet wird, eher nicht ist er einfach zu klein, wie manche sagen, in jedem Fall aber erreicht er - gemessen am Geld und am Einsatz - zu wenig. Dass die Deutschen sich das dritt-teuerste Gesundheitssystem auf der Welt leisten, ist kein Problem. Dass es aber weniger Gesundheit schafft als billigere Systeme in anderen Industriestaaten, ist eines. Schlimmer allerdings hat der Sozialstaat an anderer Stelle versagt: bei der Herstellung von Chancengleichheit.
Immer weiter rückte die politische Rhetorik ab den 90er-Jahren vom Versprechen der Ergebnisgleichheit ab. Das war nachvollziehbar: Schließlich entwickelte sich die Weltwirtschaft und entwickelte sich das vereinigte Deutschland so, dass die Einkommensverhältnisse auseinandergerissen wurden. In einer Achterbahn-Wirtschaft lässt sich tatsächlich so manches nicht mehr ausgleichen, was der Sozialstaat früher glattbügelte. Stattdessen konzentrieren sich Reformpolitiker auf das Versprechen, mehr Chancengleichheit herzustellen. Das Problem: Bewerkstelligt wurde in den vergangenen Jahrzehnten das ganze Gegenteil, mit erheblichen Kosten für die künftige Wirtschaftskraft der Bundesrepublik.
Ob Pisa-Studien, sozio-ökonomische Analysen oder Armutsberichte - alle stimmen überein: In Deutschland ist zwar das Geld nicht besonders ungleich verteilt, aber die Chancen sind es. Wer von unten kommt, bleibt oft unten. Tausende kleine und große Mechanismen, Missverständnisse und Besitzstandswahrungen sorgen dafür. Erstens ist das gerade in Zeiten der Achterbahnwirtschaft höchst ungerecht. Zweitens ist es eine gigantische Verschwendung. Der Sozialstaat verwendet nämlich einen Teil seiner Mittel für Bedarfsfälle, die er selbst geschaffen hat. Und der Wirtschaft gehen deshalb talentierte Arbeitskräfte und hoffnungsfrohe Konsumenten verloren. Ausweislich einer Studie der Weltbank ist es für die Wachstumskraft von Industrieländern gar nicht so wichtig, ob sie sich einen großen oder kleinen Sozialstaat leisten. Wie sonst könnten Großbritannien und Irland genauso zu den Gewinnern der vergangenen Jahre zählen wie Dänemark und Schweden? Aber, so sagen die Weltbank-Experten weiter, effizient muss dieser Sozialstaat sein. Und genau an der Stelle geben sie Deutschland eine miserable Note.
Im Kampf um mehr Chancengleichheit entscheidet sich nicht, ob die deutsche Wirtschaft im kommenden Jahr um ein Prozent wächst oder um zwei Prozent. Hier entscheidet sich die Leistungskraft der Volkswirtschaft in den kommenden Jahrzehnten. Gerade Jungunternehmer kommen in anderen Ländern oft von unten und übrigens auch aus dem Ausland. Nur ein Land, zumal eines mit schrumpfender Bevölkerung, das seine Talente nutzt und seine Potenziale ausschöpft, kann von der Dynamik her an die Spitze der Industrieländer zurückkehren. Und das ist es doch, was die Bundeskanzlerin ausweislich ihrer Reden zum Amtsbeginn genauso anstrebt wie ein großer Teil ihrer Landsleute.
Das Ende des Tals ist noch ein Stück entfernt. Da ist es umso erfreulicher, dass die Volkswirtschaft ihre Wachstumskraft gestärkt hat. Dass niemand mehr Deutschland als kranken Mann Europas bezeichnet, sondern dieser Titel nun allein Italien zuteil wird. Denn Reformen, die kurzfristig vor allem Menschen ärgern und ihnen oder anderen nur langfristig helfen, sind schwer zu bewerkstelligen, wenn nichts wächst.
Allerdings ergibt sich aus der verbesserten volkswirtschaftlichen Lage auch eine Gefahr: dass sich die Politiker und das Volk schon in Sicherheit wiegen und keinen Druck mehr spüren, massiv umzubauen. Die (politisch) kostenlose Reform ist und bleibt ein verlockender Traum.
Der Autor ist Leiter des Wirtschafts-Ressorts der Wochenzeitung "Die Zeit".