Westliche Medien haben einen "Linksruck" in Lateinamerika ausgemacht, seitdem neben Venezuela auch in Brasilien, Argentinien, Uruguay, Bolivien und Chile Parteien und Personen regieren, die sich links von der so genannten politischen Mitte positionieren. Am Anfang und im Mittelpunkt dieser anhaltenden Entwicklung steht der Präsident der Bolivarischen Republik von Venezuela, Hugo Rafael Chávez Frías. Seinem Wahlsieg im Dezember 1998 folgten die von Luiz Inacio"Lula" da Silva inBrasilien, Nestor Kirchner in Argentinien, Tabaré Vázquez in Uruguay, Evo Morales in Bolivien und Michelle Bachelet in Chile. 2006 scheiterten Ollanta Humala in Peru beziehungsweise Andrés Manuel López Obrador in Mexiko. In Nicaragua dagegen ist der Sandinist Daniel Ortega im November zum Präsidenten gewählt worden. Am 26. November siegte in einer Stichwahl in Ecuador der linke Kandidat Rafael Correa über seinen sozialdemokratischen Herausforderer Ivaro Noboa mit 68 zu 32 Prozent. Das lateinamerikanische Superwahljahr 2006 endete mit dem Urnengang in Venezuela, den Chávez mit 61 Prozent der Stimmen eindeutig für sich entschied. Wie die Wiederwahl des durch Korruptionsaffären gebeutelten brasilianischen Präsidenten Lula da Silva zeigt, sind Ende und Ausgang dieses Trends noch nicht absehbar. Da breite Bevölkerungsschichten in Mexiko und Peru das Wahlergebnis nicht akzeptieren, könnte es dort zum Sturz der neugewählten Präsidenten kommen.
Eine Eigenheit dieser politischen Entwicklung in Lateinamerika ist, dass die "linken" Kandidaten ihre Stärke nicht nur mehr oder minder gut organisierten Parteien verdanken, sondern der Unterstützung durch soziale und indigene Bewegungen. Deren Entwicklung ist wiederum eine Folge jener Bedingungen, die das Leben der Bevölkerungsmehrheit quasi seit der Eroberung durch die Europäer im 15. Jahrhundert bestimmt haben: ungleiche Verteilung der Reichtümer, Ausbeutung, Armut, Arbeitslosigkeit, politische und soziale Ausgrenzung sowie Analphabetentum. In den meisten der oben genannten Länder leben zwei Drittel der Bevölkerung in dieser "prekären" Situation. Diese breite Mehrheit hat Menschen in die höchsten Ämter gewählt, die versprochen haben, die Lebenssituation der Armen grundlegend und längerfristig zu verbessern. Sie sind nicht die ersten lateinamerikanischen Politiker, die das versprachen, aber es hat den Anschein, dass sie im Gegensatz zu ihren Vorgängern nicht nur bemüht sind, ihren Worten Taten folgen zu lassen, sondern tatsächlich Hand anlegen, um die Lage nachhaltig zu verbessern. Da ihre Vorhaben nicht neu und schon andere vom versprochenen Weg abgewichen sind, stehen diese Politiker im Verdacht, "Neopopulisten" zu sein, die sich unter anderem am Vorbild des argentinischen Generals Juan Perón orientieren. Diese Ansicht vertreten Politikwissenschaftler, Journalisten und Politiker, die entweder enge Verbindungen zum reichen Norden - den USA und Europa - pflegen oder dort beheimatet sind. Vom Standpunkt des "linken" Südens betrachtet, ist "Neopopulist" ein Kampfbegriff des Nordens, dessen einziges Ziel es ist, die Emanzipierung und Befreiung Lateinamerikas von der Bevormundung durch die USA und die Europäische Union (EU) schlecht zu reden. Die interessierten Betrachter stehen vor der Frage, ob der "Neopopulismus" in Lateinamerika en vogue ist oder ob dort zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine Entwicklung begonnen hat, welche die politische Landschaft in der Region nachhaltig zum Nachteil der Interessen der USA - und auch der EU - und zum Vorteil der jeweiligen Gesellschaften verändern könnte. Im Raum steht das Gebilde einer politischen wie wirtschaftlichen Südamerikanischen Union in einer multipolaren Welt.
Die Betrachtung des Prozesses in Lateinamerika bedingt, seinen Standpunkt festzulegen. Aufgrund der gegebenen Kürze des Beitrags erfolgt sie aus der venezolanischen Perspektive, weil Hugo Chávez - je nach Sichtweise - entweder als der Impulsgeber jener Entwicklung oder als die "negative Kraft" in Lateinamerika gilt. Seit seinem Amtsantritt 1999 verkörpert Chávez in den westlichen Mainstreammedien den "Populisten" schlechthin. Eine große deutsche Tageszeitung nannte ihn sogar den "Populisten-Präsidenten". Der inflationär anmutende Gebrauch des Wortes lässt die Frage nach seiner Aussagekraft aufkommen. Politikwissenschaftler meinen, dass die oben genannten sozialen Missstände die Vorbedingungen darstellen, damit so genannte "(Neo-)Populisten" in Lateinamerika mittels entsprechender Wahlversprechen in die höchsten Regierungsämter gewählt werden können. Der Begriff steht in Anführungszeichen, weil seine Bedeutung je nach Sprecher variiert. In der Wissenschaft herrscht eine breite Diskussion darüber, unter welchen Bedingungen ein politisches Konzept als "(Neo-)Populismus" bezeichnet werden kann. Das Problem ist hierbei - wie übrigens auch bei der wissenschaftlichen Erörterung des Begriffs "Terrorismus" und seiner semantischen Ableitungen -, dass es keine allgemein verbindliche Definition gibt. Erschwerend kommt hinzu, dass Politiker und Journalisten den Begriff des "Populisten" gleichermaßen wie den des "Terroristen" undifferenziert verwenden. Daher haben beide Worte ihren beschreibenden Wert verloren: Sie dienen außerhalb der Wissenschaft nur noch als rhetorische Worthülsen, die man dem Gegner überstülpt. Überspitzt und bar jeglichen wissenschaftlichen Anspruchs, ließe sich der "Populist" als jemand beschreiben, der die arme, ausgegrenzte und ungebildete Mehrheit mit Versprechungen auf eine bessere Zukunft verführt, damit sie ihn ins höchste Staatsamt wählt, in dem er dann rasch sein Wort bricht und eine ganz andere Politik macht, die letztendlich an den Missständen im Land nichts ändert oder sie sogar noch verschlimmert. Anhand der folgenden Fakten mögen die Leser selber entscheiden, ob der Vorwurf, ein "Populist" zu sein, auf Chávez nach sieben Jahren im Amt noch zutrifft.
Am 6. Dezember 1998 trat aus der Sicht Washingtons in Venezuela der "Größte Anzunehmende Unfall" ein: Der ehemalige Fallschirmjägeroffizier und gescheiterte Putschist Hugo Chávez gewann mit einem linken undsystemkritischen Diskurs die Präsidentschaftswahlen. Der 24 Millionen Einwohner zählende Karibikstaat gehört zu den strategisch wichtigsten Ölversorgern der USA. Das schwarze Gold aus Venezuela macht zwischen 11 und 15 Prozent des täglichen US-Ölverbrauchs aus. Sein Transport vom fünftgrößten Erdölproduzenten des Globus zu dessen allergrößtem Verbraucher dauert maximal drei bis vier Tage. Käme die Ölversorgung zum Erliegen, stünde die US-Industrie nach zwei bis drei Wochen ernsthaften Produktionsproblemen gegenüber, die wiederum die US-Wirtschaft in Mitleidenschaft zögen. Daher haben US-Strategen Venezuela bereits vor Chávez' Sieg aus Gründen der nationalen Sicherheit zu ihrem Interessengebiet erhoben.Zu den Angstszenarien gehört damals wieheute die Vorstellung, der Venezolaner könnte den USA den Ölhahn zudrehen. Träte dieser Fall jemals ein, käme dies einer Kriegserklärung gleich. Bisher hat der venezolanische Präsident lediglich damit gedroht, für den Fall, dass ein Attentat auf ihn verübt würde oder dass ein Angriff der USA auf den Iran erfolge. Viel gefährlicher waren Chávez' damalige Wahlversprechen: Sie stellten eine Alternative zur US-Politik in der Region dar. Ihre tatsächliche Umsetzung würde die Hegemonie der USA in ihrem lateinamerikanischen "Hinterhof" nachhaltig schwächen.
Bereits die Ankündigung, das Ölland werde seine eigene Landwirtschaft wiederaufbauen, um sich vom teuren Import seiner Grundnahrungsmittel aus den USA zu befreien, ließ in Washington die Alarmglocken schrillen. In der Summe würde die Politik des Präsidenten dazu beitragen, die von neokonservativen Kreisen in den USA forcierte Idee, die beidenamerikanischen Kontinente zu einer riesigen Freihandelszone zusammenzufassen, zu durchkreuzen. Diese Free Trade Area of the Americas (FTAA; span. ALCA) sollte von Alaska bis Feuerland reichen. Ziel dieses Abkommens war, die wirtschaftliche Vormachtstellung der USA in der so genannten "Westlichen Hemisphäre" gegen die stärker werdende Konkurrenz aus China und der EU längerfristig zu schützen. Beim Amerika-Gipfel 2001 inOttawa war Venezuela neben Brasilien - und dem nach wie vor ausgeschlossenen Kuba - das einzige Land der Region, das öffentlich Bedenken gegen die FTAA anmeldete. Hinzu kam, dass Chávez bekannt gab, er werde den größten Teil der vom staatlichen Öl- und Gaskonzern PDVSA und dessen US-Ableger Citgo erwirtschafteten Gewinne nicht mehr in den USA belassen, so wie es die Vorgängerregierungen getan hatten, sondern sie nach Venezuela zurückholen. Mit den Einnahmen wollte er die angekündigten Sozialprogramme finanzieren. Das dafür nötige Personal und Wissen holte sich Chávez aus dem sozialistischen Kuba. Zehn Jahre nach dem so genannten "Ende der Geschichte" erschien Chávez' Politik - seine bolivarianische Revolution - vielen westlichen Politikern als ein in "antiamerikanischer" Rhetorik verpackter Anachronismus.
Seine Kritiker aus dem Norden hatten aber übersehen, dass der in Europa siegreiche Neoliberalismus bereits im Frühjahr 1989 seine erste schwere Niederlage in Venezuela hinnehmen musste. Nachdem der sozialdemokratische Präsident Carlos Andrés Pérez ein von Weltbank und Internationalem Währungsfonds (IWF) nach neoliberalen Vorgaben ausgearbeitetes Sparprogramm umgesetzt hatte, kam es in Caracas und anderen Städten zum Sozialaufstand. Über Nacht waren die staatlichen Subventionen für Brot und andere Grundnahrungsmittel weggefallen sowie die Benzin- und Transportpreise gestiegen. Für die mehrheitlich armen Venezolaner hieß das Verhungern auf Raten, während die Korruption immer größere Kreise zog. Pérez ließ den Aufstand blutig niederschlagen: Nach offiziellen Angaben starben über 300 Personen, inoffiziell wird von 3 000 Toten gesprochen. In der Folge wurden die Bürgerrechte massiv eingeschränkt, was im Norden - USA und EG - aber niemand so richtig wahrnahm, weil Venezuela als das "demokratische Musterländle" in der Region galt. Dass gerade die Partidocracia, die Parteiendemokratie von Sozialdemokraten und Christsozialen mit Postenschacher und Bestechung, ein wesentlicher Teil der venezolanischen Misere war, verdrängten die Eliten in der Alten Welt. In Venezuela veranlasste der "Caracazo" politisch denkende Offiziere wie Hugo Chávez, 1992 gegen Pérez zu putschen. Das Vorhaben scheiterte, aber Chávez wurde trotzdem zum Volkshelden, weil er nicht ins Ausland flüchtete, sondern vor den Fernsehkameras die Verantwortung für die fehlgeschlagene Aktion übernahm und ins Gefängnis ging. 1993 beendete ein Impeachment-Verfahren die Präsidentschaft von Carlos Andrés Pérez vorzeitig. Der Korruption angeklagt, flüchtete der Sozialdemokrat in die USA. Dort gehört er heute zu den radikalsten Chávez-Gegnern: 2004 sagte er im CNN-Interview, der venezolanische Präsident könne nur gewaltsam aus dem Amt entfernt werden. Nach seiner Freilassung 1994 begann Chávez mit seiner politischen Arbeit, die ihm 1998 den Wahlsieg bescherte. Aber es sind nicht in erster Linie Verbalattacken wie die von Pérez oder die Verquickung der ehemals etablierten Parteien in die Missstände des Landes, die Chávez' heutige starke Position ausmachen. In erster Linie beruht sie auf seiner bisherigen Innenpolitik, die ihre Absicherung über die Außen- und Wirtschaftspolitik erfahren hat.
Kurz nach seinem Amtsantritt zeigte Chávez, dass seine Bewegung V. Republik (Movimiento Quinta República, MVR) diesen Namen zu Recht trug, weil sie das Land mittels einer neuen Verfassung in die Bolivarianische Republik von Venezuela verwandeln würde. Das Adjektiv bezieht sich zwar auf Simón Bolívar, den Befreier Südamerikas vom spanischen Joch, meint aber keineswegs eine rückwärtsgewandte Kopie seiner Idee, sondern die zeitgemäße Umsetzung seiner innen- wie außenpolitischen Vorstellungen. Neben dieser ideellen Säule des von Chávez geprägten Bolivarianismo stehen die sozialen Vorhaben von Bolívars Zeitgenossen, des Pädagogen Simón Rodríguez und des Bauerngenerals Ezequiel Zamora. Letzterer forderte freie Wahlen und die Landreform, der erstere die klassen- und rassenübergreifende Volksbildung. Im Laufe der letzten Jahre hat Chávez dem Bolivarianismo auch sozialistische Elemente beigegeben. Der von ihm propagierte "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" bedeutet die Entwicklung einer eigenen Theorie "Made in Latin America", die den historischen und politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen in Venezuela entspricht, die es zu ändern gilt.
Die neue Verfassung von 1999 war der Grundstein hierfür. Die partizipative Demokratie, die unter anderem die Abwahl des Präsidenten und aller weiteren gewählten Volksvertreter per Referendum vorsieht, ist ihr wichtigstes innenpolitisches Merkmal. Die bolivarianische Magna Carta hält außerdem fest, dass weder die Schlüsselindustrien des Landes noch das Gesundheits- und das Schulsystem privatisiert werden dürfen. Der von der Antiglobalisierungsbewegung gebrauchte Slogan, dass etwas nicht zum Verkauf steht, also "not for sale" ist, wurde in Venezuela Verfassungswirklichkeit und steht somit im krassen Widerspruch zur neoliberalen Wirtschaftspolitik.
Chávez' Vorgehen führte seinen Gegnern vor Augen, dass er es mit seiner Politik tatsächlich ernst meinte. Dass Washington spätestens 2001 jenes Instrumentarium seiner Außenpolitik aktivierte, das unter anderem 1973 zum Putsch gegen den chilenischen Präsidenten Salvador Allende geführt hatte oder in den 1980er Jahren zum "schmutzigen Krieg" gegen die Sandinisten, entsprach dem üblichen modus operandi der einzigen Weltmacht in der Region. Am 11. April 2002 putschte eine Gruppe von Militärs und Unternehmern gegen Chávez. Die CIA wusste von dem Vorhaben und ließ es geschehen; Washington und Madrid sicherten den blutigen Staatsstreich außenpolitisch ab, indem sie ihn nicht verurteilten, sondern Kontakt zum Interimspräsidenten Pedro Carmona Estanga aufnahmen. Letzterer entpuppte sich als falscher Demokrat, als er sich selbst zum Präsidenten ernannte und alle Verfassungsorgane aufheben ließ. Da Chávez zwar festgenommen, aber nicht zurückgetreten war, hielten wichtige Teile des Militärs dem Präsidenten und Oberbefehlshaber die Treue. Gemeinsam mit der Bevölkerung, die landesweit massiv protestierte, gelang die Wiederherstellung der verfassungsgemäßen Ordnung und die Befreiung des Präsidenten.
Seine Gegner ließen nicht locker und versuchten, ihn 2002/2003 mittels einer Sabotageaktion in der Ölindustrie, die sie euphemistisch "Ölstreik" nannten, aus dem Amt zu treiben. Chávez blieb standhaft, weil die Basis ihm trotz der milliardenschweren Einnahmeverluste und der damit verbundenen Probleme die Treue hielt. Als auch dieser Plan scheiterte, versuchte die anti-chavistische Opposition, ihn mittels des Abwahlreferendums 2004 aus Amt und Würden zu treiben - vergeblich. 2005 blieb ihr nichts anderes übrig, als den neuerlichen Sieg des Präsidenten und seiner Koalition bei den Parlamentswahlen dadurch zu diskreditieren, dass sie die einst etablierten und mittlerweile zur Bedeutungslosigkeit verdammten Parteien anwies, dem Urnengang wegen unterstellter, aber nicht bewiesener Benachteiligung fernzubleiben.
Vielfach heißt es, Chávez verdanke seine Popularität der wöchentlichen Fernsehsendung "Aló Presidente". Seine Rhetorik und die für westliche Verhältnisse sehr langen Reden sorgen in der nördlichen Hemisphäre für Unverständnis und bissige Kommentare. Davon abgesehen, dass auch US-Präsident Bush sich einmal wöchentlich per Radio an seine Mitbürger wendet, wird vielfach übersehen, dass das Fernsehen für Chávez die einzige Möglichkeit ist, mit seiner Basis zu kommunizieren. Bisher haben die dominierenden privaten Medien vermieden, über die Regierungspolitik in einer sachlich angemessenen Form zu berichten. Die in Europa beliebten Flugblätter verfehlen in Venezuela ihre Wirkung, weil Chávez' Wählerschaft bis vor kurzem mehrheitlich aus Analphabeten bestand. Seine Wähler messen die Wahrhaftigkeit der Politik an den erfolgten Taten. Diese haben sich in den letzten Jahren in Form von Sozialprogrammen, den so genannten "Misiones", materialisiert. Mittlerweile gibt es über 16 dieser landesweiten Projekte, die ihresgleichen in Lateinamerika suchen. Zu den wichtigsten gehört die "Misión Barrio Adentro" (Rein ins Armenviertel). Sie begann mit der Entsendung von Ärzten und Pflegepersonal in die Armenviertel. Zum ersten Mal erhielten viele Kranke dort eine kostenlose medizinische Grundversorgung. Mittlerweile dürften fast alle Barrios eine feste Krankenstation besitzen.
Im nächsten Schritt entstehen dort Volkskrankenhäuser, die für Operationen und Reha-Maßnahmen eingerichtet sind. Die Versorgung der gesamten Bevölkerung mit subventionierten Grundnahrungsmitteln und Arzneien erfolgt über die Läden der Misión Mercal. Diese werden - wie andere Einrichtungen auch - wie Kooperativen betrieben. In der Misión Robinsón I lernten Menschen das Lesen und Schreiben mittels der kubanischen Methode "Yo sí puedo" (Ich kann's doch). 2005 erklärte die UNO Venezuela frei vom Analphabetismus. Weiterführende Sozialprogramme ermöglichen das kostenlose Studium an der Bolivarianischen Universität. Parallel dazu versucht die Misión Vuelven Caras (Gesichter kehren zurück), Arbeitslose und Menschen ohne Ausbildung wieder in den Arbeitsprozess zu integrieren. Wer die Möglichkeit hat, sich mit Leuten in einem Barrio über die Misiones zu unterhalten, wird einerseits Lob für Chávez sowie für die kubanischen Ärzte und Lehrer hören, andererseits aber auch harsche Kritik an der langsam arbeitenden Bürokratie. Die Sympathie für den Präsidenten hängt von diesen Programmen ab. Der Opposition ist es bisher nicht gelungen, eine Alternative zu entwickeln; zum einen, weil diese mit dem von ihr favorisierten Neoliberalismus inkompatibel ist, zum anderen, weil ihr immer noch der Ruch der korrupten IV. Republik anhängt. In der Summe sind die Misiones zu tiefgreifend, als dass man sie als puren "Klientelismus" darstellen könnte.
Vielmehr hat es die bolivarianische Revolution geschafft, die Rate der Armut zu senken: der Anteil der Armen an der Bevölkerung reduzierte sich von 42 Prozent (2005) auf 33 Prozent (2006). Die Auswirkungen der Sozialprogramme blieben bei diesen Berechnungen unberücksichtigt. Zur Verbesserung der sozialen Lage trug zum einen der Mindestlohn bei, der bei sinkender Inflation von 212 US-Dollar (2000) auf 238 US-Dollar (2006) stieg. Im selben Zeitraum fiel die Arbeitslosenquote von 17 auf 9,7 Prozent. Das Geld für die Sozialprogramme stammt hauptsächlich aus dem Erdölgeschäft. Aber die Existenz der Misiones hat weniger mit dem hohen Ölpreis zu tun als mit der grundsätzlichen Bereitschaft, diese Einnahmen überhaupt im sozialen Bereich einzusetzen. 2004 finanzierte die staatliche Erdölgesellschaft PDVSA mit 2,31 Milliarden US-Dollar die Sozialprogramme und investierte weitere zwei Milliarden US-Dollar in den staatlichen Fonds für die soziale und wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Außerdem flossen zwölf Milliarden US-Dollar an Abgaben und Steuern in die Staatskasse. Der Geldsegen ist dem gestiegenen Öl- und Gaspreis zu verdanken. Der durchschnittliche Preis pro Barrel Öl auf dem Weltmarkt kletterte von 20 US-Dollar (2000) auf 55 US-Dollar (2006).
Die lateinamerikanische Zeitgeschichte lehrt, dass die US-Politik bisher immer Mittel und Wege gefunden hat, um ihre Interessen in der Region zu wahren. Die Ausnahme von dieser Regel stellt das sozialistische Kuba dar. Chávez, der sich eingehend mit der Vergangenheit und Gegenwart des Kontinents befasst hat, wusste, was ihm blühte, wenn er seine Politik gegen den Willen Washingtons durchsetzen würde. Neben der Konsolidierung seiner bolivarianischen Revolution im Innern benötigte er zum Schutz ein sicherheitspolitisches Konstrukt im Äußern. Diesen Weg hat er geostrategisch denkend und geopolitisch handelnd bis heute verfolgt. "Antiamerikanisch" und "provokativ" nannte die Presse des Nordens seine Schritte. Die Adjektive verschleiern die Dimension der bolivarianischen Außenpolitik. In deren Mittelpunkt steht die strategische Achse Caracas-Havana. Für die Gesundheitsversorgung in den Barrios und für die Alphabetisierungskampagne benötigte Chávez geeignete Fachkräfte, die er nur aus Kuba bekommen konnte. Für die Inselrepublik war das die Möglichkeit, mit praktischer Arbeit die über zehnjährige Isolation zu überwinden und zu zeigen, wozu ihr Sozialismus fähig ist. Venezuela bezahlt diese Hilfe mit Erdöl. Außerdem konnte Kuba jenes sicherheitstechnische Wissen liefern, das in den letzten 50 Jahren alle US-Operationen gegen seine Revolution scheitern ließ. Hugo Chávez und Fidel Castro hoben darüber hinaus die "Alternativa Bolivariana para las Américas" (ALBA) aus der Taufe. ALBA stellt nicht nur lautmalerisch, sondern auch geopolitisch eine Alternative zur US-dominierten Freihandelszone ALCA (FTAA) dar. Nicht mehr der Kauf von Waren und Dienstleistungen steht im Mittelpunkt, sondern der bereits praktizierte Tausch. 2006 trat der bolivianische Präsident Evo Morales der ALBA bei und verlängerte damit die strategische Achse.
Seit 2004 intensiviert Chávez auch die Kontakte zu Brasilien, Paraguay, Uruguay und Argentinien. Neben der Verbesserung der bilateralen Kontakte stand die Aufnahme Venezuelas in den Mercosur im Vordergrund. Dieser Beitritt stärkte den Wirtschaftsverbund und führte mit dazu, dass die US-Freihandelszone ALCA beim Amerika-Gipfel im argentinischen Mar de Plata 2005 vorläufig scheiterte. Aber auch die EU ist mit ihren Freihandelsplänen nicht weitergekommen.
Mit der Gründung der Comunidad Suramericana de Naciones (CSN), der Südamerikanischen Nationengemeinschaft, 2004 existiert zumindest auf dem Papier eine Institution, die zu einem späteren Zeitpunkt eine ernsthafte Alternative zur Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) mit Sitz in Washington werden könnte.
Faktisch ist es der bolivarianischen Außenpolitik gelungen, den Kontinent in einen pro-US-amerikanischen "Westblock" und in einen bolivarianischen "Ostblock" zu spalten. Zu letzterem gehören Argentinien, Uruguay, Brasilien, Kuba - und seit 2006 auch Bolivien. Morales' Beitritt zur ALBA bedeutete einen Verlust für den "Westblock", der noch aus Panama, Kolumbien, Ecuador, Peru, Chile und Paraguay besteht.
Wie weit der Einfluss Washingtons gesunken ist, zeigen die Kampfabstimmungen in der UNO um den Platz des nichtständigen Mitglieds im UN-Sicherheitsrat, der einem Land aus Lateinamerika und der Karibik zusteht. Seit Wochen gelingt es der US-Politik nicht, ihren Wunschkandidaten Guatemala gegen Venezuela durchzusetzen. Diese Pattsituation ist eine Folge von Chávez' Reisediplomatie, die er mit einer entsprechenden Außenwirtschaftspolitik untermauert hat. Seit Ende 2004 hat Venezuela seine Verbindungen vor allem zu den UN-Vetomächten China und Russland, aber auch zum Iran und zu Weißrussland, Spanien und Frankreich, Afrika und in den arabischen Raum intensiviert. Ob das außenpolitische Sicherungssystem die bolivariansiche Revolution wirklich schützen kann, wird sich erst bei einer internationalen Krise zeigen.
Die nächsten bedeutenden innenpolitischen Veränderungen in Venezuela werden nach der Präsidentenwahl 2007 anstehen: Chávez möchte die Verfassung ändern lassen, damit die Wiederwahl des Staatspräsidenten nicht nur einmal, sondern mehrmals möglich ist. Darüber sollen die Bürger per Referendum abstimmen. Zeitgleich steht die Bildung einer "Einheitspartei der Revolution" an, die neben dem MVR auch deren Koalitionspartner einschließen soll, nicht aber die Oppositionsparteien. Die innere Konsolidierung ist unumgänglich, wenn der 1999 begonnene gesellschaftliche und wirtschaftliche Umwälzungsprozess auch die Privilegien der nach wie vor einflussreichen Oligarchie tangieren soll. Die Achillesferse der bolivarianischen Bewegung sind, wie Chávez selber zugab, die oppositionsfreundliche Bürokratie und die Korruption, die parteiübergreifend wirkt. Da Bestechung seit jeher ein Bestandteil des politischen und gesellschaftlichen Lebens in Venezuela ist, wird es sehr schwierig sein, sie weitgehend einzudämmen. Außerdem bedarf es auf allen Ebenen einer höheren Effizienz und Disziplin, damit die Regierungspolitik umgesetzt werden kann. Das alles geschieht nicht im luftleeren Raum. Auch die Landreform verläuft schleppend und stößt auf den bewaffneten Widerstand der Großgrundbesitzer, der bisher 160 Tote gefordert hat. Hinzukommt ein weiteres Gewaltproblem, das neben der sozialen Komponente seine Ursache im innerkolumbianischen Konflikt hat, der nicht nur Flüchtlinge nach Venezuela treibt, sondern auch ehemalige Paramilitärs, die mit Drogen dealen und sich aus Entführungen finanzieren. Sie stellen ein Bedrohungspotenzial dar, das bereit ist, dem radikalen Teil der Anti-Chávez-Opposition zu dienen.
In Bolivien steht Morales jetzt vor der Bewährungsprobe, die Chávez von 2002 bis 2004 überstand. Die Ausgangslage für den indigenen Staatspräsidenten ist wesentlich schwieriger als für den ehemaligen Offizier: Morales verfügt noch nicht über eine neue Verfassung, die den Wandel von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft hin zu einem gerechteren Gemeinwesen gutheißt. Mit der Verstaatlichung des Öl- und Gassektors hat er mächtige Gegner gegen sich aufgebracht. Diese zählen nach wie vor auf die Unterstützung von Militär, Staat und Kirche. Außerdem verfügen sie über tragfähige Kontakte sowohl nach Washington wie auch nach Brüssel. Die reichen Provinzen des Osten denken laut über die Autonomie und gar Lösung aus dem Staatsverband nach. Die Konfrontation ist keine Frage des Ob, sondern des Wann und Wie. Bolivien könnte in absehbarer Zeit die Kampfstätte werden, in der Neoliberalismus und Bolivarianismus aufeinander treffen.
Ende Oktober 2006 fand in der Hauptstadt Sucre das "Erste Treffen der Völker und progressiven Staaten zur Befreiung Lateinamerikas" statt, zu dem Morales eingeladen hatte. Die dreitägige Zusammenkunft endete mit der Bildung des Regionalen Blocks der Volksmacht, der auf kontinentaler Ebene eben jene sozialen und indigenen Bewegungen repräsentiert, denen Morales, Chávez und andere linke Politiker ihre Regierungsmacht verdanken. Ob sich dieser Regionale Block als ein weiterer politischer Akteur etablieren kann, wird sich beim Gipfel der amerikanischen Präsidenten im bolivianischen Cochabamba im Dezember zeigen. Boliviens Vizepräsident A'lvaro García Linera nahm die Forderung des Regionalen Blocks entgegen, der per Fernsehen mit den Staatschefs über vier wesentliche Punkte diskutieren will: Aussetzung der Bezahlung des Auslandsschulden, Abzug der US-Basen, Wiederbelebung der nationalen Landwirtschaft und Industrie, Bildung von Volksarmeen. Aus Garcías Abschlussrede ging eindeutig hervor, dass die anti- oder postneoliberale Politik in Lateinamerika auf der Idee vom "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" basiert, wie sie der deutsche Professor Heinz Dieterich mitentwickelt hat. Mit Spannung darf erwartet werden, wie Washington und seine lateinamerikanischen Verbündeten auf dieses weitere Vorhaben lateinamerikanischer Emanzipationspolitik reagieren werden.
Kuba kann bei dieser Entwicklung nur mitRat und Tat helfend zur Seite stehen. Dietemporäre Machtübergabe von Fidel Castro an seinen Bruder Raúl hat gezeigt, dass das politische System nicht ins Wanken geraten ist, sondern einen Generationenwechsel durchführt. Die von den USA und Europa gewünschten politischen Veränderungen werden so nicht stattfinden, da sie keine Alternative darstellen: Allein mehrere Tausend kubanische Ärzte und Lehrer haben die krude soziale Wirklichkeit in Venezuela, Bolivien und Mittelamerika hautnah erlebt und wissen, was die Umsetzung eines neoliberalen Wirtschaftsmodells auf der Insel mit sich brächte. Dem allgemeinen Trend in Lateinamerika entspricht aber, dass breite Bevölkerungsmassen bereit sind, die Lösungen für ihre Probleme selbst zu entwickeln, anstatt sie zu importieren. Ob das überall gelingen wird, ist noch unklar, aber es zeigt, dass in Lateinamerika - und besonders in den ALBA-Staaten Venezuela und Bolivien - der Wille vorhanden ist, sich zu emanzipieren. Zur sozialen, kulturellen und politischen Eigenheit der Region mag es gehören, dass es hierfür populärer Führungspersönlichkeiten bedarf, die in vielfacher Hinsicht in der Lage sind, mit dem immer noch mächtigen US-Präsidenten gleichzuziehen.
Für Washington stellt sich angesichts seiner außenpolitischen Schwäche die Frage, ob es weiterhin im Alleingang versuchen will, den Bolivarianismus auf dem Kontinent aufzuhalten, oder ob es dafür auf den Zusammenschluss mit der Europäischen Union setzt, deren Global Player in Lateinamerika ebenfalls viel zu verlieren haben. Die Alternative wäre, mit den Emanzipationsbestrebungen und der Popularität bestimmter Politiker konstruktiv umzugehen.