Jugendkriminalität
Über schärfere Sanktionen wird heftig gestritten. Zunächst lohnt ein Blick auf die Zahlen.
Die Diagnose des griechischen Philosophen Sokrates fiel vernichtend aus: "Die Jugend von heute liebt den Luxus, hat schlechte Manieren und verachtet die Autorität. Sie widersprechen ihren Eltern, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer." Es scheint, als habe sich an dieser Einschätzung auch mehr als 2.000 Jahre später nichts geändert. Die politische Diskussion ist von einem Thema bestimmt: der Jugendkriminalität. Ausgelöst durch den brutalen Überfall zweier Jugendlicher auf einen Rentner in der Münchner U-Bahn im Dezember, hat sich - forciert vom wahlkämpfenden Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU) - die Debatte rasant entwickelt. Von Erziehungscamps und Warnschussarrest ist seither die Rede. Am vergangenen Freitag verabschiedeten die Innenminister der Unions-geführten Länder einen Zehn-Punkte-Katalog zum Jugendstrafrecht. Unter anderem sollen Jugendliche bei schwersten Straftaten für bis zu 15 Jahre hinter Gitter.
Doch gerade weil die Debatte so polarisierend geführt wird, lohnt ein Blick auf die Zahlen. Die polizeiliche Kriminalstatistik verzeichnet für die vergangenen zehn Jahre einen Rückgang der Jugendkriminalität. Wurden 1998 noch 152.774 Kinder (bis 14 Jahre), 302.413 Jugendliche (14 bis 18 Jahre) und 237.073 Heranwachsende (18 bis unter 21 Jahre) als Tatverdächtige geführt, waren es Ende 2006 100.487 Kinder, 278.447 Jugendliche und 241.824 Heranwachsende. Dabei hat sich die Art der Taten verändert: Während die Zahl der Tötungsdelikte und Raubtaten abgenommen hat, ist die der Körperverletzungen und Drogendelikte gestiegen. Gleich geblieben ist die Geschlechterverteilung: Rund 70 Prozent der Täter sind männlich.
Anders als oft kolportiert, ist der Anteil von Tatverdächtigen nichtdeutscher Herkunft gesunken. Laut Kriminologischem Forschungsinstitut Niedersachsen betrug er 1993 noch 33,6 Prozent, um 1996 auf 25,8 Prozent und 2005 auf 22,5 Prozent zu sinken. Christian Pfeiffer, Direktor des Instituts, sagte dazu dieser Zeitung: "Wenn behauptet wird, jede zweite Gewalttat in Deutschland bei den unter 21-Jährigen werde von Migranten begangen, dann ist das frei erfunden."
Dafür, dass die öffentliche Wahrnehmung anders ist, macht Pfeiffer ein verändertes Anzeigeverhalten verantwortlich. "Früher gab es keine Anzeige, wenn Max mit Moritz gerauft hat. Heute rauft Max mit Mehmet -und es gibt eine Anzeige." Auch das BKA beobachtet, dass sich viele Delikte, die früher nicht angezeigt wurden und so im "Dunkelfeld" blieben, heute ins "Hellfeld" verschoben haben und damit stärker wahrgenommen werden. Für den Geschäftsführer der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen (DVJJ), Jochen Goerdeler, ist dies durchaus von Vorteil. "Man ist in den letzten Jahren sensibler geworden und lässt etwa auf dem Schulhof nicht mehr alles durchgehen." Außerdem wirke die Gewissheit, angezeigt zu werden und mit Sanktionen rechnen zu müssen, auf Jugendliche abschreckend. Allerdings dürfe man davon nicht zu viel erwarten. "Die Annahme, dass sich durch härtere Urteile etwas zum Besseren wendet, während lasche Urteile nichts bringen, ist falsch."
Wie ein Urteil ausfällt, liegt in der Hand der Jugendrichter. Das Jugendstrafrecht soll anders als das Erwachsenenstrafrecht nicht primär strafen, sondern auch erziehen - und der Tatsache Rechnung tragen, dass junge Täter oft nicht zwischen Recht und Unrecht unterscheiden. Deshalb stehen Jugendrichtern viele verschiedene Sanktionsmöglichkeiten zur Verfügung. Unterschieden wird zwischen Erziehungsmaßregeln, Zuchtmitteln und Jugendstrafen. Zu den Maßregeln gehört etwa die Aufforderung, einen bestimmten Personenkreis zu meiden oder an sozialen Trainingskursen teilzunehmen; Zuchtmittel sind quasi die gelbe Karte vor dem Freiheitsentzug. Dabei kann es sich um Verwarnungen, Auflagen oder Jugendarrest handeln. Ob diese kurzzeitige Freiheitsentziehung von den Jugendlichen als "Warnschuss" verstanden wird, ist abhängig vom Einzelfall - in der Sanktionspalette ist er jedenfalls längst vorhanden.
Die schwerste Strafe ist die Jugendstrafe, die nur wegen "schädlicher Neigungen" und bei einer besonderen Schwere der Schuld verhängt werden kann. Sie dauert zwischen sechs Monaten und fünf Jahren - wenn der Jugendliche ein Verbrechen begangen hat, das nach dem allgemeinen Strafrecht mit einer mehr als zehnjährigen Freiheitsstrafe geahndet wird, kann das Höchststrafmaß zehn Jahre betragen. Derzeit (Stand 31. August 2007) verbüßen 6.168 Jugendliche Freiheitsstrafen im Jugendstrafvollzug, darunter 248 Mädchen.
Dass harte Strafen nicht unbedingt zu besseren Ergebnissen führen, ist unter Experten mittlerweile unbestritten. In einer Studie der Universität Koblenz heißt es, der Vergleich der "Sanktionspraxis" zeige, dass das Jugendstrafrecht nicht das mildere Recht sei - hier würden im Durchschnitt mehr freiheitsentziehende Maßnahmen verhängt als im Erwachsenenstrafrecht. Auch die Rückfallstatistik des Bundeszentralregisters beim Generalbundesanwalt spricht eine deutliche Sprache: Die Rückfallbelastung der nach einer verbüßten Jugendstrafe Entlassenen sei "extrem hoch", 78 Prozent würden erneut straffällig und noch 45 Prozent kehrten wieder in den Vollzug zurück.
Dass momentan nach Veränderungen im Strafrecht gerufen und die Justiz zu härteren Strafen aufgefordert wird, ärgert viele Juris-ten. Stefan König, Vorsitzender des Strafrechtsausschusses des Deutschen Anwaltvereins, betont: "Einen Zusammenhang herzustellen zwischen der Gewalttätigkeit von Jugendlichen und dem Handeln der Justiz, ist nicht nur hypothetisch, sondern Unfug." Es gebe in der Entwicklung der Jugendgewalt keine signifikanten Änderungen. "Und das Instrumentarium, das wir haben, ist völlig ausreichend, um mit dem Problem fertig zu werden."