militärdiktaturen
Das Muster im Umgang mit der jüngsten Geschichte ist in den meisten Ländern ähnlich: Die Wahrheit kommt langsam ans Licht, die Täter bleiben in der Regel straffrei.
Lange dauert es, ehe die Bewohner eines Staates den Mut finden, in den Präsidentenpalast einzudringen, um sich zu vergewissern, dass der Diktator gestorben ist. Der Tod hat seine Herrschaft nicht gebrochen. Nur zögerlich besetzen die Untertanen das Zentrum der Macht: Als Gabriel García Márquez 1977 seinen Roman "Der Herbst des Patriarchen" veröffentlicht, erlebt Lateinamerika den Höhepunkt der Militärdiktaturen, die sich ab Mitte der 60er-Jahre in den meisten Ländern des Subkontinents an die Regierung geputscht hatten. Der Kolumbianer scheint die spätere Form des Übergangs und des Umgangs mit der Vergangenheit der Militärherrschaften bereits zu ahnen: zögerlich und voller Zweifel darüber, ob die Macht der Diktatoren tatsächlich gebrochen ist, nachdem die Militärs in die Kasernen zurückgekehrt sind und die Regierung in die Hände von Zivilisten übergeben haben.
Die Legate der Vergangenheit, das zeigt eine Untersuchung über die Verarbeitung der Militärdiktatur im kollektiven Gedächtnis Brasiliens, sind noch fest in den Institutionen und im Verhalten von Politik, Polizei und Gesellschaften verankert. Die Repression der Vergangenheit bewirkt noch immer Furcht bei der Äußerung von Kritik und eine nur geringe Bereitschaft zu politischer Partizipation, eine vertikale Hierarchie zwischen Befehlshaber und Untergebenen kennzeichnet die Beziehungen in der Familie, am Arbeitsplatz, in der Politik und in gesellschaftlichen Organisationen.
Die Schatten der Vergangenheit sind nur schwer zu erhellen. In Brasilien war das zu erleben, als die Regierung im August das Buch "Direito à Memória e à Verdade" ("Recht auf Erinnerung und Wahrheit") vorstellte, das - knapp 20 Jahre (!) nach dem Ende der Militärregierung - als erste offizielle Veröffentlichung politische Morde und Entführungen von Gegnern des Militärregimes dokumentiert. Elf Jahre brauchte eine Sonderkommission, um das Schicksal von 475 Personen zu untersuchen. Das Buch ist ein Eingeständnis, dass im Namen des Staates geköpft, zerstückelt, vergewaltigt und gefoltert wurde und dass man die Leichen von Opfern der Repression verschwinden ließ. In 356 Fällen hat die Kommission Entschädigungszahlungen an die Hinterbliebenen der Opfer empfohlen. Strafen für die Täter empfahl sie nicht.
Über die Veröffentlichung des Buches und seine Vorstellung im Präsidialpalast waren die Militärs verärgert. Dabei haben sie nichts zu befürchten. Denn ähnlich wie in Argentinien, Chile, Peru oder Uruguay, Guatemala oder El Salvador hatten auch die brasilianischen Militärs vor ihrer Rückkehr in die Kasernen mit einem Amnestiegesetz dafür gesorgt, dass sie für Folter und Morde während ihrer Regierungszeit nicht bestraft werden können. Eine Änderung des Amnes-tiegesetzes kommt für sie nicht in Frage.
So hat sich in Brasilien einmal mehr das Schema wiederholt, das aus anderen Ländern Lateinamerikas bei der Aufarbeitung der jüngeren Vergangenheit der Militärdiktaturen bekannt ist: die Dokumentation der Greueltaten durch so genannte Wahrheitskommissionen - und die Straflosigkeit der Täter. Gewiss wäre ohne die akribische Arbeit jener Kommissionen die Erinnerung an die Verbrechen der Militärregierungen noch schneller verblasst. Insofern leisten sie einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung historischer Fakten. Doch nur in wenigen Ausnahmefällen resultierten daraus Verfolgung und Bestrafung von Tätern.
Die Umsetzung der "Wahrheit" in politisches Bewusstsein vollzieht sich nur sehr langsam. Im Geschichtsunterricht der Schulen beispielsweise kommt die jüngere Vergangenheit meist nicht vor, und einen Sozial- oder Politikunterricht, wo Schüler sich kritisch mit den autoritären Regimen auseinandersetzen und demokratische Verfahren lernen, gibt es in der Regel nicht. "Punto final", einen "Schlusspunkt" hat man vielerorts unter die Geschichte der jüngsten Vergangenheit gesetzt und den Militärs Befehlsnotstand und Straflosigkeit zugestanden. Seltsamerweise scheint diese Haltung des "punto final" auch die gesellschaftliche Befassung mit der Vergangenheit beeinflusst zu haben.
Ist der Eindruck falsch, dass in der Literatur und im Film Lateinamerikas die jüngere Vergangenheit nur zögerlich oder eher ausnahmsweise behandelt wird? Gewiss, Luiz Puenzo hat bereits 1984, ein Jahr nach dem Ende der Militärregierung, in seinem bewegenden Film "Die offizielle Geschichte" ein besonders perfides Kapitel der Militärherrschaft in Argentinien behandelt, die Freigabe der Kinder von Regimegegnern zur Adoption. Mario Vargas Llosa beschrieb in dem Roman "Das Fest des Ziegenbocks" packend den Phänotyp eines lateinamerikanischen Diktators. Dennoch ist die jüngere Vergangenheit als Sujet künstlerischer Auseinandersetzung wenig präsent. Viele Künstler waren verfolgt und exiliert. Viele mag der Terror noch immer prägen.
Die Mütter der Plaza de Mayo in Buenos Aires geben nicht auf. Seit nunmehr 30 Jahren halten sie die Erinnerung an das Schicksal ihrer Söhne und Enkel wach. Das Amnestiegesetz in Argentinien wurde geändert, Täter wurden bestraft. Im November ist ein ehemaliges Folterzentrum als Gedenkstätte eingeweiht worden. Was war, ist nicht vergessen. Doch in Lateinamerika bleibt vielerorts wenig Zeit für Trauer und Erinnerung, auch weil die Gewalt der Gegenwart die Vergangenheit überdeckt. Die Zukunft hat keine Geschichte. Sie muss erst noch geschrieben werden.
Der Autor ist seit 1997 Landesbeauftragter und Leiter des Forschungszentrums der Konrad-Adenauer-Stiftung in Brasilien.